Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Wahlen und Wahlrechtsgrundsätze

Was sind die wichtigsten Kritikpunkte an der Wahlrechtsreform?

Was sind die wichtigsten Kritikpunkte an der Wahlrechtsreform?

22. November 2024

4,8(7.996 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Neues Wahlrecht 2023

Lawra (L) und Franky (F) unterhalten sich über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition von 2023. L hat gehört, dass einige Punkte aus verfassungsrechtlicher Sicht heftig umstritten sind und das BVerfG aktuell mit der Prüfung der Gesetzesänderungen beschäftigt ist. F fragt, was die größten Kritikpunkte an der Reform sind.

Diesen Fall lösen 81,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Was sind die wichtigsten Kritikpunkte an der Wahlrechtsreform?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Abschaffung der Grundmandatsklausel mit der Verfassung vereinbar ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Abschaffung der Grundmandatsklausel ist wohl der am kritischsten gesehene Aspekt der Wahlrechtsreform. Die CSU argumentiert z.B. mit dem Bundesstaatsprinzip: Der Ausschluss von kleineren, regionalen Parteien von der Möglichkeit, Sitze im Parlament zu erhalten, wäre hiermit nicht vereinbar. Andere sehen die Abschaffung der Grundmandatsklausel kritisch, weil hiermit die Integrationsfunktion der Wahlen beeinträchtigt sei. Diese verbiete es, „gewichtige Anliegen“ auszuschließen. Dass kleine, aber regional stark verankerte Parteien im Parlament vertreten sind, könnte ein solches gewichtiges Anliegen sein. Du musst die Kritik an der Wahlrechtsreform nicht detailliert auswendig kennen. Aufgrund der Aktualität solltest Du aber die groben Kritikpunkte auf dem Schirm haben. Einige Aspekte eignen sich hervorragend für eine Klausur oder mündliche Prüfung.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Zwischen der Einbringung des Vorschlags, die Grundmandatsklausel abzuschaffen, und der Verabschiedung des Gesetzes lagen nur zehn Tage. Könnte hierin ein Verstoß gegen Art. 42 Abs. 1 GG (Öffentlichkeit der Verhandlung) und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG liegen?

Ja!

Nach dem Gebot der Parlamentsöffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1 GG) muss sich die Öffentlichkeit eine Meinung über den Gegenstand der Beratungen im Gesetzgebungsverfahren bilden können. Es gibt zwar einen weiten Gestaltungsspielraum der parlamentarischen Mehrheit, der aber seine Grenze finde, wenn eine missbräuchliche Beschleunigung vorliegt. Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG kann man das Recht des einzelnen Abgeordneten ableiten, Informationen auch verarbeiten zu können. Die Grundmandatsklausel war weder Gegenstand des ursprünglichen Gesetzesentwurf der Regierungsfraktion, noch der Anhörung des juristischen Sachverständigen. Erst zehn Tage vor Verabschiedung der Reform wurde der Vorschlag, die Klausel abzuschaffen, erstmalig eingebracht. Gerade, bei einer so weitgehenden Entscheidung, wie der Abschaffung der Grundmandatsklausel könnte das beschleunigte Verfahren gegen Art. 42 Abs. 1 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen. Andere Stimmen sehen das „Schnellverfahren“ von der parlamentarischen Freiheit gedeckt und somit als nicht problematisch an. Die Folge einer Verletzung dieser Normen ist zwar nicht ausdrücklich geregelt. Angesichts ihrer Bedeutung für die Demokratie kann man aber durchaus den Standpunkt vertreten, dass der betroffene Gesetzesbeschluss ungültig sein muss. Vergleichbare Probleme stellen sich bei anderen beschleunigten Gesetzgebungsverfahren wie etwa beim Gebäudeenergiegesetz der Ampelkoalition.

3. Mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel stellt sich insbesondere auch die Frage, ob die 5%-Sperrklausel weiterhin mit der Verfassung vereinbar ist.

Genau, so ist das!

Der Umstand, dass nach dem alten Wahlrecht Parteien, die nach der Verhältniswahl weniger als 5% der bundesweiten Stimmen erhielten, dennoch in den Bundestag einziehen konnten, wenn sie mindestens drei Wahlkreissiege errungen hatten (Grundmandatsklausel), „milderte“ die Wirkung der 5%-Sperrklausel. Somit wäre zum einen der Wegfall der Grundmandatsklausel weniger kritisch, wenn auch die 5%-Hürde abgeschafft worden wäre. Andersherum stellt sich die Frage, ob die Sperrklausel ohne die Grundmandatsklausel weiterhin verfassungsmäßig ist. Zumindest wird die Höhe der Hürde stark kritisiert. Nach der st. Rspr. des BVerfG ist eine Sperrklausel bis zur Höhe von 5 % möglich, aber nicht zwingend. Eine Herabsetzung wäre zweifellos zulässig. Nach dem BVerfG könne die Rechtfertigung der Sperrklausel zudem bei einer Änderung der Verhältnisse entfallen. Daher sehen viele Stimmen eine verfassungsrechtliche Neubewertung der Klausel als dringend geboten an.

4. Dass nach dem Prinzip der Zweitstimmendeckung Wahlkreissiegende mit schlechten Ergebnissen keinen Sitz im Parlament erhalten, wird als verfassungsrechtlich unproblematisch angesehen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die wesentliche Neuerung des Wahlrechts besteht darin, dass die Elemente der Verhältniswahl gestärkt wurden. Denn für die Verteilung der Sitze im Bundestag ist nur noch der Anteil der Stimmen entscheidend, die auf die Landeslisten entfallen (Zweitstimme). Allerdings wird weiterhin mit der Erststimme ein Wahlkreiskandidat gewählt. Gewinnt eine Partei in einem Bundesland mehr Sitze durch die Mehrheit in den Wahlkreisen, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen, werden die Wahlkreise mit den geringsten Erststimmenanteilen des siegreichen Kandidaten abgezogen, bis dieser Anteil erreicht wird (§ 6 BWahlG). Hierin könnte nach einer stark vertretenen Ansicht eine unzulässige Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Wahlkreissieger liegen (vgl. z.B. Austermann, RuP 2022, 300, RdNr. 302). Nach einer anderen Ansicht läge hierin keine Ungleichbehandlung: „Vielmehr gilt unterschiedslos für alle Parteien und alle Kandidaten, dass das Mandat nur bei hinreichender Zweitstimmendeckung errungen wird. Ob diese vorliegt oder nicht, ist keine Frage einer gesetzlichen Ungleichbehandlung.“ Es läge lediglich eine faktische Ungleichbehandlung als Folge des konkreten Stimmenverhältnisses vor (Schönberger, NVwZ 2023, 785, RdNr. 788).

5. Einige sehen in der Wahlrechtsreform einen Systemwechsel hin zu einer reinen Verhältniswahl. Ein Systemwechsel sei an Art. 21 GG zu messen.

Ja!

Nach einem Argumentationsansatz seien Änderungen des bestehenden Wahlsystems an Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu messen. Liegt ein Systemwechsel vor, so muss die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 GG beachtet werden. Danach sei jede evidente Benachteiligung einer Partei verboten. Im neuen Wahlrecht läge ein Systemwechsel zu einer reinen Verhältniswahl vor, da die Erststimme für sich genommen nicht mehr zu einem Direktmandat führe und die Elemente der Mehrheitswahl damit faktisch abgeschafft seien. Andere sehen in der Wahlrechtsreform gerade keinen Systemwechsel, sondern nur die Stärkung der Elemente der Verhältniswahl. Diese Argumentation wurde im Verfahren vor dem BVerfG vom Vertreter der CDU/CSU eingebracht. Denn die CSU wird ohne die Direktmandate bei der nächsten Wahl vielleicht nicht mehr im Parlament vertreten sein.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

SL

slyvior

28.6.2024, 09:09:35

Vielleicht stehe ich auf dem Schlauch, aber die Argumentation verstehe ich nicht so ganz. Inwieweit beeinträchtigt das neue Wahlrecht das Bundesstaatsprinzip?

LELEE

Leo Lee

29.6.2024, 10:31:19

Hallo slyvior, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Um das komische Gefühl vorab auszuräumen: Du bist überhaupt nicht alleine damit. Dieses Argument rührt vom Alexander Dobrindt, der wie folgt argumentiert: Weil die Grundmandatsklausel (die allen voran regionale Strömungen erfassen soll) gestrichen wird, werden regionale Kräfte – wie eben die CSU in Bayern – nicht mehr berücksichtigt, was als eine Art „Benachteiligung“ der Region (er meint damit Bayern) darstellen könnte. Und Benachteiligung Bayerns ist natürlich nicht vereinbar mit dem Grundgesetz, weil alle Bundesländer gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das ist eine bloße Vermutung, denn konkrete Belege oder Argumente lieferte der Dobrindt nicht. I.Ü. ist es auch ganz interessant, zumal das BVerfG die Grundmandatsklausel mit der sog. Integrationsfunktion (Integration regional starker politischer Strömungen) gerechtfertigt. Es bleibt mithin abzuwarten, ob die CSU diese Begründung bei der mdl. Verhandlung konkretisieren wird :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen