Falsche Gesetzesanwendung auf den festgestellten Sachverhalt

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird wegen Raubes (§ 249 Abs. 1 StGB) verurteilt. Im Hauptverhandlungsprotokoll steht, A habe der Zeugin (Z) die Handtasche entrissen. Im Urteil steht, A habe der überraschten Z die Tasche geschickt von hinten von der Schulter abgestreift. Z konnte nicht mehr reagieren.

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Einordnung des Falls

Falsche Gesetzesanwendung auf den festgestellten Sachverhalt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft, wenn das Tatgericht die materielle Strafnorm des § 249 Abs. 1 StGB falsch angewendet hat.

Ja, in der Tat!

Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet wurde (§ 337 StPO). Hierzu gehören insbesondere die materiellen Strafnormen des StGB, die den Schuldspruch begründen. Ein Fehler kann darin liegen, dass (1) eine einschlägige Strafnorm nicht angewandt wurde, (2) dass das Tatgericht die Norm falsch auslegte oder (3) dass das Tatgericht zwar vom richtigen rechtlichen Maßstab ausgeht, den Sachverhalt aber falsch darunter subsumiert. Hier wird in der Revisionsklausur auch im zweiten Examen häufig der Schwerpunkt liegen. Du musst hier eine eigene sachlichrechtliche Prüfung des im Urteil festgestellten Sachverhalts vornehmen, wie du es aus dem ersten Examen kennst.
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2. Nach den Urteilsfeststellungen hat A eine fremde bewegliche Sache weggenommen (§ 249 Abs. 1 StGB).

Ja!

Eine fremde beweglich Sache ist ein körperlicher Gegenstand, der nicht im Alleineigentum des Täters steht, nicht herrenlos ist und der tatsächlich fortbewegt werden kann. Wegnahme ist der Bruch fremden und Begründung neuen Gewahrsams. Sie erfolgt gegen oder ohne den Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers. Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Die Handtasche gehörte Z. Indem A sie von hinten geschickt von der Schulter der überraschten Z abstreifte und wegrannte, begründete er seine eigene Verfügungsgewalt unter Ausschluss der Verfügungsgewalt der Z ohne ihren Willen und brach damit fremden Gewahrsam. In der Klausur genügt bei unproblematischen Tatbestandsmerkmalen der Feststellungsstil. Durch klare Schwerpunktsetzung zeichnest du dich aus.

3. Das Tatgericht hat den Sachverhalt des Urteils rechtsfehlerfrei unter § 249 Abs. 1 StGB subsumiert, da A die Tasche mit Gewalt wegnahm.

Nein, das ist nicht der Fall!

Gewalt (§ 249 Abs. 1 StGB) ist ein zumindest mittelbar gegen den Körper des Opfers gerichteter Zwang zur Überwindung eines erwarteten oder tatsächlich geleisteten Widerstands. Die Kraftentfaltung ist wesentlicher Bestandteil der Wegnahme. Sie muss daher so erheblich sein, dass sie geeignet ist, erwarteten Widerstand zu brechen und vom Opfer als körperlicher Zwang empfunden wird. Keine Gewalt liegt vor, wenn nicht die eingesetzte Kraft, sondern List und Schnelligkeit das Tatbild prägen. Nach den Urteilsfeststellungen brach A gerade nicht einen erwarteten oder geleisteten Widerstand, sondern kam diesem durch eine listige und geschickte Tatbegehung zuvor. Tatbestandlich liegt danach also kein Raub, sondern ein einfacher Diebstahl (§ 242 Abs. 1 StGB) vor. Die Rechtsanwendung war fehlerhaft.

4. Der Rechtsanwendungsfehler ist aber unbeachtlich, da nach den Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll ein Raub vorlag.

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar hat A der Z laut Hauptverhandlungsprotokoll die Handtasche entrissen, was Gewalt im Sinne des § 249 Abs. 1 StGB darstellt. Jedoch ist Grundlage der sachlichrechtlichen Gesetzesanwendung nur die Urteilsurkunde. Alle anderen Erkenntnisquellen sind dem Revisionsgericht in diesem Prüfungsabschnitt verschlossen. Ob diese Feststellungen verfahrensfehlerfrei getroffen wurden, ist dabei ohne Bedeutung. Das Tatgericht hat A also rechtsfehlerhaft wegen Raubes verurteilt. Dieser Fehler kehrt in Examensklausuren immer wieder. Wenn du den sachlichrechtlichen Teil prüfst, nimm dir nur den Urteilssachverhalt und prüfe ihn durch, wie im ersten Examen. Alles andere legst du beiseite. So verhinderst du, dass du dich verzettelst. Keinesfalls darfst du eine eigene Beweiswürdigung vornehmen.

5. Die Tatsachen, auf denen der Rechtsanwendungsfehler beruht, müssen in der Revisionsbegründung genau dargelegt werden (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO).

Nein!

Im Falle einer Verfahrensrüge müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen in der Revisionsbegründung angegeben werden (§ 344 Abs. 2 StPO). Hier liegt jedoch ein sachlichrechtlicher Fehler vor. Dieser muss mit der Sachrüge geltend gemacht werden. Dabei genügt es, die Sachrüge zu erheben. Sie muss nicht begründet werden, da das Revisionsgericht sie allein anhand der Urteilsurkunde überprüfen kann und deshalb nicht darauf angewiesen ist, dass der Revisionsführer die Tatsachengrundlage liefert. Sollte in der Klausur eine Revisionsbegründungsschrift gefordert sein, musst du natürlich auch Ausführungen zur Sachrüge machen.

6. Das Revisionsgericht entscheidet hier in der Sache selbst und korrigiert den Schuldspruch (§ 354 Abs. 1 S. 1 StPO).

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine eigene Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 354 Abs. 1 StPO) kommt in Betracht, wenn: (1) das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die Feststellungen aufgehoben wird und (2)nur auf Freispruch, Einstellung oder eine absolute Strafe erkannt werden kann oder mit einem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet wird. Zwar liegt eine Gesetzesverletzung bei der Anwendung des Gesetzes auf den festgestellten Sachverhalt vor. Jedoch kommt vorliegend keine der genannten Entscheidungen in Betracht. Das Tatgericht wird wegen der unterschiedlichen Strafrahmen von Diebstahl und Raub auch auf eine andere Strafhöhe erkennen müssen. Das Urteil ist ohne die Feststellungen aufzuheben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JURAFU

jurafuchsles

6.2.2024, 17:18:46

Warum wird das Urteil nach 354 II StPO aufgehoben ohne die Feststellungen aufzuheben?

Nocebo

Nocebo

24.5.2024, 20:39:13

Die Feststellungen werden ja insbesondere bei Verfahrensfehler aufgehoben, ein solcher liegt aber nicht vor. Auch liegt der Fehler nicht im Rechtsfolgenausspruch, sondern im Schuldspruch (Raub) selbst.

RO

Roland

26.6.2024, 10:15:31

Wie lässt sich denn eine entsprechende Divergenz zwischen Protokoll und Urteil rügen? Also wie ist vorzugehen, wenn im Protokoll ein Sachverhalt geschildert wird (also etwa Zeugenaussagen oä), eine Verletzung von Verfahrensrecht aus dem Protokoll nicht ersichtlich ist und in den Feststellungen des Urteils dann aber ein davon erheblich abweichender Sachverhalt geschildert wird?

Nocebo

Nocebo

19.7.2024, 16:25:34

Das dürfte einen Verfahrensfehler in Form der "Ausschöpfungsrüge" als Verstoß gegen §

261 StPO

darstellen, da das Gericht, ohne dass ein Beweisverwertungsverbot vorlag, relevante Beweistatsachen nicht verwertet hat.


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