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Die Bundesregierung

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bundeskanzler B ist genervt von den politischen Ansichten der oppositionellen Partei P. Laut Umfragewerten würde P bei einer Neuwahl nicht mehr in den Bundestag einziehen. Da die Umfragewerte für Bs Partei gut stehen, will er erreichen, dass der Bundestag neu gewählt wird.

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Einordnung des Falls

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B stellt die Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 GG, wobei sein einziger Grund hierfür darin besteht, Neuwahlen herbeizuführen. Ist es unstrittig, dass das verfassungsrechtlich zulässig ist?

Nein!

Der vorrangige Zweck des Art. 68 GG besteht darin, die Neuwahlen für den Fall einer politischen Instabilität des Parlaments zu ermöglichen. Ob eine Vertrauensfrage auch dann zulässig ist, wenn es dem Bundeskanzler ausschließlich darum geht, Neuwahlen herbeizuführen, ohne dass diese „objektiv“ notwendig erscheinen (sog. unechte Vertrauensfrage), ist umstritten. Die Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 GG ist ein Mittel, mit dem der Regierungschef (= Bundeskanzler) herausfinden kann, ob er noch ausreichend Unterstützung durch das Parlament erhält. Hier kommt es i.d.R. vor allem auf die Unterstützung der Regierungsparteien an. Bei der Vertrauensfrage geht es um die Erneuerung der Wahlentscheidung, die das Parlament ursprünglich einmal für den Bundeskanzler getroffen hat (Art. 63 Abs. 1 GG).
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2. Das BVerfG fordert für eine Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 GG, dass das Parlament tatsächlich handlungsunfähig ist.

Genau, so ist das!

Eine unechte Vertrauensfrage ist aus Sicht des BVerfG nicht verfassungsmäßig. Das Grundgesetz enthält – anders als noch die Weimarer Reichsverfassung – kein Auflösungsrecht eines einzelnen Verfassungsorgans. Mit der Möglichkeit eines „bloß“ konstruktiven Vertrauensvotums durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers (Art. 67 GG) und den hohen Voraussetzungen der Vertrauensfrage (Art. 68 GG) sind die Auflösungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Parlamentsauflösungen hatten in der Weimarer Republik teilweise verhängnisvolle Folgen. Dass sich das wiederholt, wollten die Eltern des Grundgesetz verhindern. Das BVerfG leitet daraus ab, dass das Parlament tatsächlich handlungsunfähig sein muss, also eine sog. materielle Auflösungslage vorliegen muss (BVerfGE 114, RdNr. 121, 182ff.). Dieser Argumentation des BVerfG hat eine Richterin in einem Sondervotum widersprochen (BVerfGE 62, RdNr. 1, 36ff.).

3. Das BVerfG sieht sich befugt, im Streitfall zu prüfen, ob eine „materielle Auflösungslage“ tatsächlich vorlag. Könnte man dagegen argumentieren, dass dies (nur) der Bundeskanzler und der Bundespräsident beurteilen können?

Ja, in der Tat!

Das BVerfG liest in Art. 68 Abs. 1 GG das (ungeschriebene) gerichtlich überprüfbare Tatbestandsmerkmal hinein, dass die Regierung tatsächlich handlungsunfähig sein muss. Einige kritische Stimmen argumentieren dagegen: Bei der Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung ginge es um eine Prognose, ob die Regierung in absehbarer Zukunft in ihrer Handlungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt sein wird. Hier stelle sich die Frage, wer die Handlungsfähigkeit der Regierung besser einschätzen können sollte, als der Bundeskanzler. Da die Einschätzung des Bundeskanzlers darüberhinaus noch durch den Bundespräsidenten geteilt werden müsse, gäbe es kein Grund dafür, innerhalb Art. 68 GG das ungeschriebne Tatbestandsmerkmal der „materiellen Auflösungslage“ zu konstruieren.

4. Wenn man das tatsächliche Bestehen einer materiellen Auflösunglage nicht für erforderlich hält, so handelt ein Bundespräsident nicht ermessensfehlerfrei, wenn er einen – nach seiner Auffassung – stabilen Bundestag auflöst.

Ja!

So die Kritiker und Kritikerinnen der Rspr. des BVerfG: Der Bundespräsident könne i.R. seiner Ermessensentscheidung über die Auflösung zwar berücksichtigen, ob und wie instabil das Parlament ist, dieses Merkmal gehört aber gerade nicht zum Tatbestand des Art. 68 Abs. 1 GG. Löst der Bundespräsident den Bundestag auf, obwohl aus seiner Sicht keine politische Instabilität vorliegt, handelt er danach nicht ermessensfehlerhaft.Bei der Frage danach, wer beurteilen können soll, ob eine Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 GG erforderlich ist, hat das BVerfG dem Bundeskanzler (und dem Bundespräsidenten) zwar auch einen weiten Einschätzungsspielraum zugestanden. Gleichzeitig hält es aber daran fest, dass das tatsächliche Vorliegen einer politisch instabilen Lage eine überprüfbare Voraussetzung des Art. 68 Abs. 1 GG ist.

5. Ein weiteres Argument gegen das zusätzliche (überprüfbare) Merkmal der „materiellen Auflösunglage“ könnte sein, dass bereits das Ergebnis der Vertrauensfrage eine ausreichende Auskunft über die Stabilität der Regierung gibt.

Genau, so ist das!

Ein weiteres Argument gegen die Ansicht des BVerfG lautet: Die Vertrauensfrage sei die (einzige) aussagekräftige Beurteilung der Stabilität der Regierung. Bei der Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung ginge es um eine Prognose, ob die Regierung in absehbarer Zukunft in ihrer Handlungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt sein wird. Die Handlungsfähigkeit der Regierung hinge wesentlich davon ab, ob das Parlament diese unterstützt. Genau dies würde mit der Vertrauensfrage ermittelt. Eine von dem Ergebnis der Vertrauensfrage abweichende Beurteilung der Stabilität der Regierung sei eine unzulässige Motivausforschung des Willen der abstimmenden Abgeordneten: Es sei mit dem freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 GG nicht vereinbar, wenn ein „Nein“ eines Abgeordneten in ein „Ja“ umgedeutet würde. (so Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum: BVerfGE 114, 182ff.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Ala

Ala

19.11.2024, 11:00:33

hello, kurze anmerkung: letzte frage muss entweder lauten „.. handelt nicht ermessensfehlerHAFT“ oder die richtige antwort muss gegenteilig sein.


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