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Die Bundesregierung

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

2. April 2025

15 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bundeskanzler B ist genervt von den politischen Ansichten der oppositionellen Partei P. Laut Umfragewerten würde P bei einer Neuwahl nicht mehr in den Bundestag einziehen. Da die Umfragewerte für Bs Partei gut stehen, will er erreichen, dass der Bundestag neu gewählt wird.

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Einordnung des Falls

Vertrauensfrage – Sonderfall: Die „unechte Vertrauensfrage“

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B stellt die Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 GG, wobei sein einziger Grund hierfür darin besteht, Neuwahlen herbeizuführen. Ist es unstrittig, dass das verfassungsrechtlich zulässig ist?

Nein!

Der vorrangige Zweck des Art. 68 GG besteht darin, eine handlungsfähige Regierung herbeiführen zu können. Ob eine Vertrauensfrage auch dann zulässig ist, wenn es dem Bundeskanzler ausschließlich darum geht, Neuwahlen herbeizuführen, ohne dass diese „objektiv“ notwendig erscheinen (sog. unechte Vertrauensfrage), ist umstritten. Die Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 GG ist ein Mittel, mit dem der Regierungschef (= Bundeskanzler) herausfinden kann, ob er noch ausreichend Unterstützung durch das Parlament erhält. Hier kommt es i.d.R. vor allem auf die Unterstützung der Regierungsparteien an. Bei der Vertrauensfrage geht es um die Erneuerung der Wahlentscheidung, die das Parlament ursprünglich einmal für den Bundeskanzler getroffen hat (Art. 63 Abs. 1 GG).
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2. Das BVerfG fordert für eine Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 GG, dass die Regierung tatsächlich handlungsunfähig ist.

Genau, so ist das!

Eine unechte Vertrauensfrage ist aus Sicht des BVerfG nicht verfassungsmäßig. Das Grundgesetz enthält – anders als noch die Weimarer Reichsverfassung – kein Auflösungsrecht eines einzelnen Verfassungsorgans. Mit der Möglichkeit eines „bloß“ konstruktiven Vertrauensvotums durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers (Art. 67 GG) und den hohen Voraussetzungen der Vertrauensfrage (Art. 68 GG) sind die Auflösungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Das BVerfG leitet daraus ab, dass die Regierung aufgrund fehlender verlässlicher parlamentarischer Mehrheiten tatsächlich handlungsunfähig oder zumindest stark in ihrem politischen Handeln eingeschränkt sein muss (= materielle Auflösungslage (BVerfGE 114, RdNr. 121, 182ff.). Dieser Argumentation des BVerfG hat eine Richterin in einem Sondervotum widersprochen (BVerfGE 62, RdNr. 1, 36ff.).

3. Das BVerfG sieht sich befugt, im Streitfall zu prüfen, ob eine „materielle Auflösungslage“ tatsächlich vorlag. Könnte man dagegen argumentieren, dass dies (nur) der Bundeskanzler und der Bundespräsident beurteilen können?

Ja, in der Tat!

Das BVerfG liest in Art. 68 Abs. 1 GG das (ungeschriebene) gerichtlich überprüfbare Tatbestandsmerkmal hinein, dass die Regierung tatsächlich handlungsunfähig sein muss. Einige kritische Stimmen argumentieren dagegen: Bei der Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung ginge es um eine Prognose, ob die Regierung in absehbarer Zukunft in ihrer Handlungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt sein wird. Hier stelle sich die Frage, wer die Handlungsfähigkeit der Regierung besser einschätzen können sollte, als der Bundeskanzler. Da die Einschätzung des Bundeskanzlers darüberhinaus noch durch den Bundespräsidenten geteilt werden müsse, gäbe es kein Grund dafür, innerhalb Art. 68 GG das ungeschriebne Tatbestandsmerkmal der „materiellen Auflösungslage“ zu konstruieren.

4. Wenn man das tatsächliche Bestehen einer materiellen Auflösunglage nicht für erforderlich hält, so handelt ein Bundespräsident ermessensfehlerfrei, wenn er einen – nach seiner Auffassung – stabilen Bundestag auflöst.

Ja!

So die Kritiker und Kritikerinnen der Rspr. des BVerfG: Der Bundespräsident könne i.R. seiner Ermessensentscheidung über die Auflösung zwar berücksichtigen, ob und wie instabil die Regierung ist, dieses Merkmal gehört aber gerade nicht zum Tatbestand des Art. 68 Abs. 1 GG. Löst der Bundespräsident den Bundestag auf, obwohl aus seiner Sicht keine politische Instabilität vorliegt, handelt er danach nicht ermessensfehlerhaft.Bei der Frage danach, wer beurteilen können soll, ob eine Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 GG erforderlich ist, hat das BVerfG dem Bundeskanzler (und dem Bundespräsidenten) zwar auch einen weiten Einschätzungsspielraum zugestanden. Gleichzeitig hält es aber daran fest, dass das tatsächliche Vorliegen einer politisch instabilen Lage eine überprüfbare Voraussetzung des Art. 68 Abs. 1 GG ist.

5. Ein weiteres Argument gegen das zusätzliche (überprüfbare) Merkmal der „materiellen Auflösunglage“ könnte sein, dass bereits das Ergebnis der Vertrauensfrage eine ausreichende Auskunft über die Stabilität der Regierung gibt.

Genau, so ist das!

Ein weiteres Argument gegen die Ansicht des BVerfG lautet: Die Vertrauensfrage sei die (einzige) aussagekräftige Beurteilung der Stabilität der Regierung. Bei der Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung ginge es um eine Prognose, ob die Regierung in absehbarer Zukunft in ihrer Handlungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt sein wird. Die Handlungsfähigkeit der Regierung hinge wesentlich davon ab, ob das Parlament diese unterstützt. Genau dies würde mit der Vertrauensfrage ermittelt. Eine von dem Ergebnis der Vertrauensfrage abweichende Beurteilung der Stabilität der Regierung sei eine unzulässige Motivausforschung des Willen der abstimmenden Abgeordneten: Es sei mit dem freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 GG nicht vereinbar, wenn ein „Nein“ eines Abgeordneten in ein „Ja“ umgedeutet würde. (so Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum: BVerfGE 114, 182ff.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LALA

Lalalu

2.1.2025, 18:11:06

Tolle Aufgabe! Ich finde es tw etwas missverständlich formuliert. Zur Klarstellung: Eine

unechte Vertrauensfrage

ist zulässig, wenn eine politische Instabilität besteht. Es ist aber weiterhin eine

unechte Vertrauensfrage

und keine echte. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass bei einer unechten Vertrauensfrage der Bundeskanzler die Auflösung als Ziel hat und nicht die Aussprache des Vertrauens. Oder habe ich das falsch im Kopf?

L.G

L.Goldstyn

10.1.2025, 14:15:51

Hallo @[Lalalu](238351), gute Frage! Die hier verwendeten Formulierungen empfinde ich auch als etwas verwirrend: „Ob eine Vertrauensfrage auch dann zulässig ist, wenn es dem Bundeskanzler ausschließlich darum geht, Neuwahlen herbeizuführen, ohne dass diese „objektiv“ notwendig erscheinen (sog.

unechte Vertrauensfrage

), ist umstritten.“ Demnach käme es für die Unterscheidung zwischen echter und unechter Vertrauensfrage darauf an, ob Neuwahlen „objektiv" notwendig erscheinen. Wenn ja: Echte Vertrauensfrage; wenn nein:

Unechte Vertrauensfrage

. Das widerspräche Deinem Begriffsverständnis. Soweit ich das in der Kommentarliteratur sehen kann, ist Dein Begriffsverständnis aber genau richtig: Für die Unterscheidung kommt es alleine darauf an, mit welchem Ziel der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt. 1. Der Bundeskanzler möchte das Vertrauen ausgesprochen bekommen, z.B. um darauf gestützt die Regierung wieder stabilisieren zu können: Echte Vertrauensfrage (Das BVerfG spricht von der „nicht auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“) 2. Der Bundeskanzler möchte erreichen, dass der Bundestag aufgelöst wird:

Unechte Vertrauensfrage

(Das BVerfG spricht von der „auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“) Soweit ich es richtig verstehe, verlangt das BVerfG nur für diesen Fall eine materielle Auflösungslage (= Tatsächliche Handlungsunfähigkeit der Regierung), denn nur in diesem Fall besteht die Gefahr, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage alleine mit dem Ziel der Neuwahlen stellt, um z.B. aus der aktuellen politischen (Umfrage-)Lage Profit zu schlagen. Viele Grüße!

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

26.3.2025, 12:35:57

Hey in die Runde, richtig! Man spricht nur dann von einer unechten Vertrauensfrage, wenn die vom BVerfG aufgestellten ungeschriebenen Voraussetzungen des Art.

68 GG

nicht vorliegen. Das BVerfG fordert hier eine „materielle Auflösungslage“: Die Regierung muss tatsächlich in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sein. Hier stellt sich dann die Frage, wer eigentlich bewerten kann, ob eine solche Situation vorliegt (siehe dazu die vorletzte Frage dieser Aufgabe). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, handelt es sich um eine

unechte Vertrauensfrage

, die nach Ansicht des BVerfG verfassungswidrig ist (siehe Frage 1 und 2 der Aufgabe). Nach anderen Ansichten ist es völlig egal, aus welchen Gründen der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt. Danach wäre eine Unterscheidung zwischen echter und unechter Vertrauensfrage nicht entscheidend (siehe dazu die letzte Frage in dieser Aufgabe). Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

L.G

L.Goldstyn

10.1.2025, 14:32:42

Liebes Jurafuchs-Team, in dieser Aufgabe (sowie in den früheren Aufgaben zur unechten Vertrauensfrage) sprecht ihr sowohl in den Fragen als auch in den Antworten immer wieder davon, dass es für die materielle Auflösungslage auf die tatsächliche Handlungsunfähigkeit „des Parlaments“ ankäme. An anderen Stellen schreibt ihr von der tatsächlichen Handlungsunfähigkeit „der Regierung“. Besteht hier ein relevanter Unterschied? Falls ja, wäre es gut, nur eine der beiden Varianten zu nutzen. Eine kurze Recherche ergibt folgendes: Das BVerfG beschreibt die materielle Auflösungslage als eine Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag, bei der sich der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann. BVerfGE 62, 1 [42]; in BVerfGE 114, 121 ff.; Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 15. Auflage 2022, Art. 

68 GG

, Rn. 19. „Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag." (BeckOK GG/Pieper, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 68 Rn. 15.1, beck-online) Demnach kommt es (wenn man es herunterbrechen möchte) allein auf die Handlungsunfähigkeit der Regierung an, nicht auf die Handlungsunfähigkeit des Parlaments. Viele Grüße!

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

26.3.2025, 12:44:32

Hey @[L.Goldstyn](251555), danke für Deinen zutreffenden Hinweis. Es kommt auf die Handlungsfähigkeit der Regierung an. Diese hängt maßgeblich von der Unterstützung durch das Parlament, insbesondere durch die Abgeordneten aus den Regierungsparteien, ab. Die Unterscheidung dieser beiden „Ebenen“ war in der Aufgabe bisher nicht deutlich genug. Ich habe die Erklärungen jetzt entsprechend angepasst, sodass hier keine weitere Verwirrung aufkommen sollte. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team


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