Öffentliches Recht

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Grundrechte

Prüfungsmaßstab bei Schutzpflichten des Staates zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (BVerfG, 12.05.2020 - 1 BvR 1027/20)

Prüfungsmaßstab bei Schutzpflichten des Staates zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (BVerfG, 12.05.2020 - 1 BvR 1027/20)

31. Mai 2025

13 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Corona & Recht

Bund und Länder einigten sich auf Lockerungen der Corona-Maßnahmen. R gehört zu einer Risikogruppe und fürchtet, infolge eines ansteigenden Infektionsgeschehens infiziert zu werden und schwere Gesundheitsschäden zu erleiden oder sogar zu sterben. Im Wege einer einstweiligen Anordnung will sie Bund und Länder per Verfassungsbeschwerde verpflichten, die Lockerungen zurückzunehmen und die Öffnung der Grundschulen zu untersagen.

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Einordnung des Falls

Prüfungsmaßstab bei Schutzpflichten des Staates zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (BVerfG, 12.05.2020 - 1 BvR 1027/20)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht kann mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.

Ja!

Aus den Grundrechten folgt eine Pflicht des Staates, die in den Grundrechten enthaltenen Gewährleistungen vor Gefahren durch Dritte zu schützen (Schutzpflicht). Kommt die öffentliche Gewalt ihrer Schutzpflicht nicht nach und droht dem Beschwerdeführer dadurch die Gefahr einer Beeinträchtigung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte, kann dieser die Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht mit einer Verfassungsbeschwerde geltend machen. Mit der Schutzpflicht korrespondiert somit ein verfassungsbeschwerdefähiger Schutzanspruch des Einzelnen. Im Falle grundrechtlicher Eingriffsabwehr erfolgt die Prüfung in den drei klassischen Prüfungsschritten (Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung). Ebenso wird die Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht in drei Schritten geprüft: (1) Bestehen einer grundrechtlichen Schutzpflicht; (2) Gefährdung der Schutzpflicht; (3) Feststellung der Verletzung der Schutzpflicht.
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2. R möchte den Staat mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zum Handeln verpflichten. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG stellt aber nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe dar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe (sog. status negativus). Es umfasst auch die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben der Einzelnen zu stellen sowie vor Beeinträchtigungen der Gesundheit zu schützen (sog. status positivus) (RdNr. 6). Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährt damit auch ein subjektives Recht des Einzelnen auf Schutz. R kann damit einen Anspruch auf Schutz ihrer durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleisteten Rechtsgüter geltend machen.

3. Werden Rs Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – Leben und körperliche Unversehrtheit – durch die Lockerungsmaßnahmen gefährdet?

Ja, in der Tat!

Leben meint das körperliche Dasein, d.h. die biologisch-physische Existenz des Menschen. Körperliche Unversehrtheit meint die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne und das psychisch-seelische Wohlbefinden. Eine Covid-Erkrankung kann eine schwere Schädigung der Gesundheit oder sogar den Tod bewirken. Gerade auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie 2020 und 2021 und vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffs waren solche Folgen insbesondere bei Risikogruppen – also bei alten Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen – häufig. Eine Gefährdung liegt vor, wenn eine Verletzung des Lebens und der Gesundheit ernsthaft zu befürchten ist. Durch die Lockerungsmaßnahmen steigt das Infektionsrisiko. R gehört zur Risikogruppe. Bei einer Covid-Erkrankung ist ein schwerer bis tödlicher Verlauf bei ihr wahrscheinlich.

4. Der Gesetzgeber müsste seine Schutzpflicht verletzt haben. Sofern der Gesetzgeber zu Schutzmaßnahmen verpflichtet ist, verbleibt ihm aber ein weiter Spielraum.

Ja!

Dem Gesetzgeber kommt stets ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Dabei hängt es von vielen Faktoren ab, was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Es kommt insbesondere auf die Eigenart des Sachbereichs, die Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter und die Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, an (RdNr. 6).

5. Die Entscheidungsbefugnis des BVerfG darüber, ob der Gesetzgeber seine Schutzpflicht verletzt hat, ist angesichts des weiten Spielraums des Gesetzgebers begrenzt.

Genau, so ist das!

Das BVerfG kann die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn überhaupt nichts getan wird, wenn Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (RdNr. 7) (sog. Untermaßverbot).Damit unterscheidet sich der Prüfungsmaßstab für die Verletzung der Schutzpflicht grundlegend vom Prüfungsmaßstab bei hoheitlichen Eingriffen. Verletzungen von Schutzpflichten lassen sich daher auch deutlich schwieriger feststellen.

6. Vorliegend geht es um die Rechtsgüter Leben und körperlicher Unversehrtheit. Durch die Lockerungsmaßnahmen verletzt der Gesetzgeber seine Schutzpflicht.

Nein, das trifft nicht zu!

Das BVerfG kann die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn überhaupt nichts getan wird, wenn Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.BVerfG: Zwar werden durch die Lockerungsmaßnahmen die überragend wichtigen Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gefährdet. Auch biete die vollständige soziale Isolation der gesamten Bevölkerung den besten Schutz gegen eine Covid-Infektion und die damit verbundenen Gefahren für die Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Doch nur durch die Lockerungsmaßnahmen könne der Gesetzgeber auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung tragen, insbesondere der Religions- und Versammlungsfreiheit oder dem Recht auf schulische Bildung. Der Gesetzgeber überschreite daher seine Einschätzungsprärogative nicht, wenn er soziale Interaktion unter bestimmten Bedingungen zulässt (RdNr. 7). Angesichts der Aufrechterhaltung weiterer Corona-Schutzmaßnahmen ist auch nicht ersichtlich, dass die Schutzmaßnahmen des Gesetzgebers offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich wären oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben (Untermaßverbot).

7. Eine wissenschaftliche Studie zeigt andere Handlungsmöglichkeiten auf. Indem der Gesetzgeber diese ignoriert, würdigt er nicht ausreichend den Schutz von Leben und Gesundheit.

Nein!

BVerfG: Fachwissenschaftlich sei nicht gesichert, welche Lockerungsmaßnahmen welchen genauen Effekt auf das Infektionsgeschehen haben. Vielmehr werde in den Studien selbst erklärt, dass Einschätzungen auf Szenarien beruhen, die von zahlreichen Faktoren abhängig sind, welche wiederum nicht sicher prognostiziert werden können. Die Studie präsentiert daher nicht ausdrücklich eine bestimmte Maßnahme, sondern nur unterschiedliche Prognosen. Bei wissenschaftlichen Studien mit prognostischem Gehalt könne der Gesetzgeber nicht zu einer bestimmten Maßnahme verpflichtet werden (RdNr. 8). Somit ist keine Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflicht gegeben (RdNr. 6).

8. R muss den Antrag zur Verfassungsbeschwerde begründen. Dabei muss sie sich nur mit Verfassungsrecht, nicht aber mit dem einfachen Recht oder der Rechtsprechung auseinandersetzen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde ergeben sich aus §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG. Die Verfassungsbeschwerde muss hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Dabei muss sie sich „mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auch unter Berücksichtigung einschlägiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen“ (RdNr. 4).

9. Das BVerfG hat Anforderung an die Einhaltung staatlicher Schutzpflichten entwickelt. Im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde erwähnt R diese nicht. Ist Rs Verfassungsbeschwerde hinreichend begründet?

Nein, das trifft nicht zu!

Rs Vorbringen genügt den Begründungsanforderungen nicht. R „zielt in der Sache darauf, dass der Staat seiner grundsätzlich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit nachkommt, setzt sich aber nicht mit den Anforderungen auseinander, die das Bundesverfassungsgericht zu solchen staatlichen Schutzpflichten entwickelt hat.“ Folglich erörtere sie nicht ausreichend, „inwiefern der Gesetzgeber hier seinen anerkannt weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum überhaupt überschritten haben könnte“ (RdNr. 5).

10. Mangels ausreichender Begründung ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Damit wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.

Ja!

Ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Damit wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG) (RdNr. 9).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

QUIG

QuiGonTim

9.4.2024, 07:58:57

Liebes Jurafuchsteam, zunächst danke ich euch für die anschauliche Aufbereitung der Entscheidung. Zwei Fragen sind bei mit offen geblieben: (1) Ihr erwähnt die aus der Prüfung der Grundrechte als Abwehrrechte bekannten Definitionen (Leben und Gesundheit) erst unter dem Prüfungspunkt „Gefährdung des Schutzgutes“. Ist es nicht zielführender sich mit der sachlichen Reichweite der Grundrechte bereits unter dem Punkt „Bestehen einer Schutzpflicht“ auseinander zusetzen, um bestimmen zu können, worauf sich die mögliche Schutzpflicht bezieht? (2) Außerdem verwendet ihr im Rahmen der Verletzungstrias (Nicht-Handeln - offensichtlich unzureichendes Handeln - deutliches Zurückbleiben hinter dem Schutzziel) den Begriff des Untermaßverbotes. Meint der Begriff nur letzteres, also das Verbot, deutlich hinter dem Schutzziel zurückzubleiben, oder umfasst er alle drei Anknüpfungspunkte?

Johannes Nebe

Johannes Nebe

9.4.2024, 09:15:11

Mir fällt außerdem auf, dass die Abwägung Schutz gegen Freiheit hier gar nicht tangiert wurde. Vielleicht brauchte das BVerfG so weit gar nicht zu prüfen. Am Ende läuft es bei

Schutzpflichten

aber immer auch auf diese Frage hinaus.

Tim Gottschalk

Tim Gottschalk

26.2.2025, 15:44:10

Hallo @[QuiGonTim](133054), mit (1) hast du grundsätzlich Recht, man kann bis sollte das durchaus schon bei dem Bestehen einer Schutzpflicht prüfen. Ich finde unsere Darstellung hier aber auch nicht falsch, insbesondere da sie die Fragen schöner didaktisch voneinander trennt. Zuerst, ob überhaupt eine Schutzpflicht vorliegt und dann bei der Gefährdung, was genau der Inhalt ist. (2) Der Begriff des Untermaßverbots beschreibt alle drei Anknüpfungspunkte. Es ist dem Staat verboten, zu wenig zu tun. Dieses Verbot würden alle drei Anknüpfungspunkte verletzen. @[Johannes Nebe](174311) in der Subsumtion zu Frage 6 wird genau auf diese Abwägung eingegangen. Liebe Grüße, Tim - für das Jurafuchs-Team

Whale

Whale

14.8.2024, 17:42:37

Weshalb muss sich der oder die Antragstellende mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht beschäftigen, wenn das BVerfG doch nur spezifisches Verfassungsrecht prüft?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

20.8.2024, 17:41:27

Danke für Deine Frage @[Whale](252844). Das liegt an den Anforderungen an die Begründung der Verfassungs

beschwer

de gemäß §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG. Die Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht ist geboten, weil die Antragstellerin darlegen muss, inwieweit der Gesetzgeber durch das zugrundeliegende Recht den weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum überschritten hat, den das BVerfG dem Gesetzgeber bei der grundrechtlichen Schutzpflicht zumisst. Setzt sie sich nicht mit dem zugrundeliegenden Recht auseinander, fehlt es an einer substantiierten Darlegung, warum hier eine Grundrechtsverletzung möglich ist. Ich kann Dir dazu die instruktive Lektüre der entsprechenden Passage aus der Entscheidung des BVerfG (RdNr. 4ff.) empfehlen. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Whale

Whale

14.8.2024, 17:44:50

Der Dreischritt, der hier zur Prüfung von

Schutzpflichten

vorgeschlagen wird, käme doch gar nicht zum Zuge, da der Antrag direkt als unzulässig erklärt wird, oder?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

20.8.2024, 17:36:41

Das siehst Du vollkommen richtig @[Whale](252844), weil das BVerfG den Antrag bereits für unzulässig erachtete. Das wird in Deiner Klausur aber natürlich nicht der Fall sein. Unsere Aufbereitung der Entscheidung orientiert sich natürlich daran, wie man einen solchen Fall in der Klausur darstellen würde. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team


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