Erfordernis eines vorherigen Antrags bei der Behörde im einstweiligen Rechtsschutz (VGH München, Beschl. v. 16.05.2023)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Assessorexamen

Seit 20 Jahren erhält Gizem (G) jährlich auf Antrag eine Sondernutzungserlaubnis zum Aufstellen von Tischen auf dem Bürgersteig vor Gs Bar von der zuständigen Behörde (B). Im Winter 2021 erteilt B auf Antrag der G zusätzlich eine bis März 2022 befristete Genehmigung zum Aufstellen von Heizstrahlern, weil aus Gründen des Infektionsschutzes der Gastronomiebetrieb nur noch im Freien zulässig ist.

Einordnung des Falls

Erfordernis eines vorherigen Antrags bei der Behörde im einstweiligen Rechtsschutz (VGH München, Beschl. v. 16.05.2023)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Im Herbst 2022 beantragt G erneut die Sondernutzungserlaubnis für das Aufstellen der Tische, jedoch nicht das Aufstellen von Heizstrahlern. B erteilt die Sondernutzungserlaubnis für ein weiteres Jahr. Ist diese ein Verwaltungsakt?

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Ja, in der Tat!

Ein Verwaltungsakt ist eine (1)hoheitliche Maßnahme (2)einer Behörde (3)zur Regelung (4)eines Einzelfalls (5)auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (6) mit unmittelbarer Außenwirkung (§ 35 S. 1 VwVfG). Mit der Erteilung der Sondernutzungserlaubnis hat B (= Behörde) in Gs konkret-individuellen Fall (= Einzelfall) das Recht des G begründet, den Bürgersteig über den straßenrechtlichen Allgemeingebrauch (siehe z.B. Art. 14 Abs. 1 S. 1 BayStrWG) hinaus zu nutzen (= Regelung). Diese Regelung ist nicht nur verwaltungsintern (= Außenwirkung). Die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis ist auch öffentlich rechtlicher Natur. Eine Sondernutzungserlaubnis ist ein klassischer Verwaltungsakt. In der Klausur hältst Du Dich hier deswegen kurz und stellst in einem Satz fest, dass ein Verwaltungsakt i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG vorliegt.

2. In dem 2022 erlassenen Bescheid erwähnt B unter „Hinweisen“, dass die Verwendung von Heizstrahlern nach der aktuellen Rechtslage nicht mehr vorgesehen ist. Handelt es sich bei diesem Zusatz um eine Nebenbestimmung i.S.v. § 36 VwVfG?

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Nein!

Die Hauptregelung eines Verwaltungsakts kann durch zusätzliche Bestimmungen (Nebenbestimmung) ergänzt oder beschränkt werden (§ 36 VwVfG). Eine Nebenbestimmung liegt vor, wenn die Behörde den Kern des ursprünglichen Begehrens unberührt lässt und nur eine zusätzliche Regelung trifft. Auch Nebenbestimmungen sind darauf gerichtet, eine verbindliche Rechtsfolge zu setzen (= Regelung). Der allgemeine Hinweis in dem Bescheid, dass die Benutzung von Heizstrahlern nicht mehr vorgesehen sind, ist gerade nicht darauf gerichtet, eine verbindliche Rechtsfolge zu setzen. Dies wäre z.B. der Fall, wenn G dies ausdrücklich beantragt hätte und B diesen Antrag negativ beschieden hätte. Der Verweis auf die aktuell geltende Rechtslage hat dagegen nur einen informativen Charakter, keinen eigenständigen Regelungsgehalt. Die Abgrenzung von Grundverwaltungsakt und Nebenbestimmungen bzw. die Einordnung, ob eine hoheitliche Maßnahme eine Nebenbestimmung darstellt oder nicht, ist in Klausuren äußerst beliebt.

3. G möchte weiterhin Heizstrahler aufstellen. Sie klagt daher gegen den Bescheid und beantragt: „Bs Bescheid bzgl. der Heizstrahlerregelung aufzuheben.“ Ist die Anfechtungsklage statthaft?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (vgl. § 88 VwGO). Im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatz kann und muss das Gericht die Klageanträge nach dem wahren Rechtsschutzziel der Klägerin auslegen. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO) ist statthaft, wenn die Klägerin begehrt, dass das Gericht einen erlassenen Verwaltungsakt (teilweise) aufhebt. Demgegenüber ist die Verpflichtungsklage statthaft, wenn die Klägerin den Erlass eines Verwaltungsakts begehrt (§ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO). Gs Antrag ist zwar wörtlich darauf gerichtet, die Heizstrahlerregelung aufzuheben. B hat aber nie eine Regelung bzgl. der Heizstrahler getroffen, sondern vielmehr einen allgemeinen Hinweis erteilt. Gs eigentliches Rechtsschutzziel ist, dass die Behörde ihr eine (zusätzliche) Erlaubnis für das Aufstellen von Heizstrahlern erteilt. G strebt damit den Erlass eines Verwaltungsakts an. Statthaft ist die Verpflichtungsklage.

4. Weil die Wintersaison zeitnah beginnen wird, hat G es besonders eilig. Zusätzlich zur Klage beantragt G daher einstweiligen Rechtsschutz. Ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft?

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Ja, in der Tat!

Begehrt der Kläger die vorläufige Sicherung seiner Rechte, muss der vorläufige Rechtsschutz nach §§ 80, 80a VwGO von der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO abgegrenzt werden. Gemäß § 123 Abs. 5 VwGO ist zunächst zu prüfen, ob §§ 80, 80a VwGO einschlägig sind. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kommt eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht. Ist in der Hauptsache die Anfechtungsklage statthaft, kommt ein Antrag nach §§ 80, 80a VwGO in Betracht. In allen anderen Fällen ist § 123 Abs. 1 VwGO einschlägig. Statthaft in der Hauptsache ist hier eine Verpflichtungsklage. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz richtet sich daher nach § 123 Abs. 1 VwGO. Wir haben den umfangreichen Sachverhalt des Originalbeschlusses aus didaktischen Gründen verkürzt bzw. vereinfacht und uns in der Lösung auf die wesentlichen Punkte konzentriert.

5. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO wird zwischen der Regelungs- und Sicherunsanordnung unterschieden. Begehrt G die Sicherung eines Ist-Zustands?

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Nein!

Die Sicherungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO) wird durch das Gericht dann getroffen, wenn die Gefahr besteht, dass eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereiteln oder wesentlich erschweren könnte. Eine Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) ergeht zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder sie aus anderen Gründen nötig erscheint. Im Vergleich zur defensiven Sicherungsanordnung geht es bei der Regelungsanordnung also um die Erweiterung des Rechtskreises des Klägers, nicht um die Wahrung des bestehenden Zustands. G begehrt die Erteilung der Erlaubnis zum Aufstellen der Heizstrahler. Darin läge eine Erweiterung von Gs Rechtskreis. Statthaft ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO. Zur Wiederholung des einstweiligen Rechtsschutzes empfehlen wir Dir unseren Kurs zur VwGO!

6. Die Zulässigkeit des Antrags nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO erfordert ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin.

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Genau, so ist das!

Die Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der Zulässigkeitsprüfung im Hauptsacheverfahren. Nach der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs und der statthaften Antragsart müssen die allgemeinen Sachentscheidungsvoraussetzungen geprüft werden. Die Antragsbefugnis richtet sich nach § 42 Abs. 2 VwGO analog. Zudem ist der Antrag nur zulässig, wenn ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers besteht. Gs Antrag ist nur zulässig, wenn G rechtsschutzbedürftig ist.

7. Rechtsschutzbedürftig ist in der Regel nur, wer vor dem klageweise geltend gemachten Begehren auf Erlass eines Verwaltungsakts einen entsprechenden Antrag bei der Behörde gestellt hat

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Ja, in der Tat!

Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ist auch für die Zulässigkeit eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlich. Hier gelten die gleichen Grundsätze, wie im Rahmen der Verpflichtungsklage (vgl. BVerwG, B.v. 22.11.2021, 6 VR 4.21, juris RdNr. 10): Das Rechtsschutzbedürfnis kann nur bejaht werden, wenn der Kläger den klageweise verlangten Verwaltungsakt zuvor bei der Behörde beantragt hat. Dies soll zum einen die Gerichte vor einer unnötigen Befassung mit der Sache schützen (Prozessökonomie). Gleichzeitig erfordert es der Grundsatz der Gewaltenteilung, dass sich die Verwaltung zunächst mit der ihr zugewiesenen Angelegenheit befassen kann (RdNr. 19). G hat keinen vorherigen Antrag auf Erteilung der Erlaubnis zum Aufstellen der Heizstrahler bei der zuständigen Behörde gestellt, sondern nur einen Antrag bzgl. des Aufstellens der Tische. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis wäre damit grundsätzlich abzulehnen und der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) als unzulässig abzuweisen.Das Rechtschutzsbedürfnis ist auch dann abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich unzulässig ist. An dieser Stelle prüfst Du also regelmäßig inzident die Zulässigkeit der Klage in der Hauptsache (hier die Verpflichtungsklage). Dabei gehst Du aber nur auf problematische Punkte ein!

8. G hatte vorher keinen Antrag bei der Behörde zur Genehmigung des Aufstellens der Heizstrahler gestellt. Liegt hier eine Ausnahmesituation vor, wonach ein vorheriger Antrag bei B entbehrlich war?

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Nein!

Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass zunächst ein Antrag auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts bei der Behörde zu stellen ist, kann sich zum einen (1) aus dem einschlägigen Fachrecht ergeben. Zum anderen kann sich eine Ausnahme (2) aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben: War es z.B. offensichtlich, dass die Behörde den Antrag ablehnen würde, so kann der Antragsteller nicht auf einen vorherigen Antrag (als bloße „Förmelei“) verwiesen werden. Zudem kann sich die Notwendigkeit einer Ausnahme (3) zur Gewährleistung des effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) ergeben, z.B. wegen einer besonderen Eilbedürftigkeit. (1) Das einschlägige Fachrecht (Recht der öffentlichen Straßen) sieht einen Antrag bei der Behörde ausdrücklich vor (siehe z.B. 18 BayStrWG, § 18 NStrG, § 11 BerlStrG). (2) B hat gegenüber G nicht zum Ausdruck gebracht, einen Antrag auf Erlass einer Erlaubnis in jedem Fall ablehnen zu wollen. Der allgemeine Hinweis, dass sich die Rechtsvorschriften zum Infektionsschutz geändert haben, bedeutet noch nicht, dass B die Erlaubnis im Rahmen ihres Ermessens nicht trotzdem erteilt hätte. (3) Besondere Gründe, warum G eine vorherige Antragstellung bei B nicht zumutbar war, hat G nicht vorgetragen.

9. Der Antrag ist unzulässig. Er wäre begründet, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorlägen.

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Genau, so ist das!

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet, wenn der prozessuale Anspruch auf Sicherung bzw. Regelung des Hauptsacheanspruchs besteht. Das ist der Fall, wenn der Antragsteller (1) Anordnungsanspruch und (2) Anordnungsgrund glaubhaft machen kann, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Der Anordnungsanspruch ist die materielle Anspruchsgrundlage, auf die der Antragsteller seinen Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts stützt. Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der besonderen Eilbedürftigkeit. Gs Antrag scheitert hier zwar bereits an der Zulässigkeit, im Rahmen einer umfangreichen gutachterlichen Prüfung müsstest Du die Begründetheit jedoch trotzdem – hilfsgutachterlich – prüfen. Mache in der Klausur – bei Unzulässigkeit der Klage – unbedingt deutlich, dass Du die Begründetheit „nur“ hilfsgutachterlich prüfst.

10. Der Anordnungsanspruch könnte sich aus Art. 18 Abs. 1 S. 1 BayStrWG (Sondernutzungserlaubnis) ergeben. Sieht diese Vorschrift eine gebundene Entscheidung der Behörde vor?

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Nein, das trifft nicht zu!

Im Rahmen des Anordnungsanspruchs kommt es darauf an, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts hat. Dies ist unproblematisch der Fall, wenn die Anspruchsgrundlage eine gebundene Entscheidung der Behörde vorsieht und der Tatbestand der Anspruchsgrundlage erfüllt ist. Bei Ermessensentscheidungen hat der Antragsteller nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (vgl. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO). Die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis nach dem einschlägigen Landesrecht (z.B. Art. 18 Abs. 1 S. 1 BayStrWG) ist eine Ermessensentscheidung. G hätte daher keinen Anspruch auf Erteilung der Sondernutzungserlaubnis, sondern allenfalls auf Neubescheidung. Da hier noch gar kein Bescheid erlassen wurde, erübrigt sich die Frage nach Ermessensfehlern der Behörde im Rahmen des Hilfsgutachtens.

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