Altersdiskriminierung - materieller Schaden

3. Dezember 2024

4,8(27.664 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die S-GmbH schreibt eine Teilzeit-Stelle für eine junge, engagierte Englischlehrkraft (m/w/d) mit abgeschlossenem Hochschulstudium aus. Die 50-jährige Englischlehrerin B bewirbt sich. Stattdessen wird die 30-jährige C eingestellt. In den an B zurückgesendeten Bewerbungsunterlagen ist Bs Geburtstag markiert.

Diesen Fall lösen 85,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Altersdiskriminierung - materieller Schaden

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B könnte aufgrund der unterbliebenen Anstellung gegen die S-GmbH ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 15 Abs. 1 S. 1 AGG zustehen.

Ja!

Der Schadensersatzanspruch aus § 15 Abs. 1 S. 1 AGG setzt voraus: I. Anwendbarkeit des AGG II. Verstoß gegen Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 AGG) III. Vertretenmüssen des Verstoßes (§ 15 Abs. 1 S. 2 AGG) (streitig) IV. Rechtzeitige schriftliche Geltendmachung (§ 15 Abs. 4 AGG) V.Rechtsfolge: Schadensersatz (§ 15 Abs. 1 AGG)
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Da das AGG nur auf „Beschäftigte“ anwendbar ist, findet es auf Bewerber:innen in einem Bewerbungsprozess generell keine Anwendung (§ 6 AGG).

Nein, das ist nicht der Fall!

Damit das AGG anwendbar ist, muss der persönliche (§ 6 AGG) und sachliche Anwendungsbereich (§ 2 AGG) des Gesetzes eröffnet sein. Beschäftigt im Sinne des Gesetzes sind dabei auch Bewerberinnen für ein Beschäftigungsverhältnis (§ 6 Abs. 1 S. 2 Var. 1 AGG). B ist als Bewerberin Beschäftigte im Sinne des AGG (§ 6 Abs. 1 S. 2 Var. 1 AGG). Die S-GmbH ist als juristische Person, die Arbeitnehmer beschäftigt, Arbeitgeber (§ 6 Abs. 2 S. 1 Var. 2 AGG). Der persönliche Anwendungsbereich ist eröffnet. Der Zugang zu unselbstständiger Arbeit fällt zudem in den sachlichen Anwendungsbereich des AGG (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG).

3. Wenn B wegen ihres Alters nicht eingestellt wurde, so liegt hier ein Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot vor (§ 7 Abs. 1 Hs. 1 AGG).

Ja, in der Tat!

Beschäftigte dürfen wegen eines pönalisierten Merkmals (§ 1 AGG) weder unmittelbar (§ 3 Abs. 1 AGG) noch mittelbar (§ 3 Abs. 2 AGG) benachteiligt werden (§ 7 Abs. 1 AGG), sofern es hierfür keine Rechtfertigung gibt (§§ 8 ff. AGG).Das Alter stellt ein grundsätzlich unzulässiges Differenzierungsmerkmal dar. Sollte B allein wegen ihres Alters nicht eingestellt worden sein, so liegt darin eine unmittelbare Benachteiligung. Es ist nicht ersichtlich, dass die Tätigkeit als Lehrerin hier ein bestimmtes (junges) Alter erfordert, sodass für die Benachteiligung auch keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind (vgl. §§ 8, 10 AGG).

4. Trägt B die volle Beweislast dafür, dass die S-GmbH gegen das Diskriminierungsverbot aus § 7 Abs. 1 Hs. 1 AGG verstoßen hat (§ 22 AGG)?

Nein!

Es genügt, dass die diskriminierte Person Indizien beweist, die eine Benachteiligung vermuten lassen. Diese liegen vor, wenn die vorgetragenen Tatsachen aus objektiver Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass die Benachteiligung wegen dieses Merkmals erfolgt ist. Die andere Partei trägt dann die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vorgelegen hat (§ 22 AGG).Vorliegend wurde Bs Alter markiert. Die Stellenanzeige wurde durch den Zusatz „jung“ diskriminierend ausgeschrieben (§§ 11, 7 Abs. 1 Hs. 1 AGG) und letztlich eine zwanzig Jahre jüngere Bewerberin eingestellt. Damit liegen Indizien vor, die eine Benachteiligung der B wegen ihres Alters vermuten lassen.Regelmäßig wird es Arbeitgebern nicht gelingen, eine einmal begründete Vermutung zu entkräften.

5. Nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 S. 2 AGG muss der Arbeitgeber die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben.

Genau, so ist das!

Nach dem Wortlaut setzt der Ersatz des materiellen Schadens ein Verschulden des Arbeitgebers voraus, das aber gesetzlich vermutet wird („nicht zu vertreten hat“). Nach verbreiteter Ansicht ist diese Einschränkung aber europarechtswidrig und nicht anwendbar. Die europäische Gender-Richtlinie (RL 2002/73/EG) verpflichte den nationalen Gesetzgeber zwar nicht zur Schaffung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen. Führe er aber solche Ansprüche ein, so müssen sie verschuldensunabhängig sein.Es fehlt an entgegenstehenden Umständen, sodass das Verschulden der S-GmbH vermutet wird. Es kann also dahinstehen, ob § 15 Abs. 1 S. 2 AGG trotz des Verstoßes gegen die Richtlinie anwendbar ist. Die Voraussetzung ist jedenfalls erfüllt.

6. Kann B als Schadensersatz verlangen, eingestellt zu werden (§ 15 Abs. 6 AGG)?

Nein, das trifft nicht zu!

Liegt ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vor, hat der Arbeitgeber den aus der Benachteiligung entstandenen Schaden zu ersetzen. Explizit ausgeschlossen ist dabei die Verpflichtung ein Beschäftigungsverhältnis zu begründen (§ 15 Abs. 6 AGG). In Betracht kommt insoweit allein ein Schadensersatz in Geld.B kann nicht verlangen, als Englischlehrerin eingestellt zu werden. Als Schadensersatz kann sich insoweit nur finanzielle Schäden verlangen.

7. B kann nicht beweisen, dass sie bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre. Kann sie trotzdem einen Teil des Arbeitsentgelts als Schaden nach § 15 Abs. 1 S. 1 AGG verlangen?

Nein!

Im Hinblick auf den entstandenen materiellen Schaden greift zugunsten des benachteiligten Bewerbers keine Beweislastumkehr. Er ist also vollumfänglich darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass ihm durch die Nichteinstellung ein kausaler materieller Schaden entstanden ist.Kann B also nicht beweisen, dass sie besser qualifiziert ist und deshalb bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre, so fehlt es am notwendigen Schaden.In Betracht kommt dann allerdings eine Entschädigung für den immateriellen Schaden, der durch die Diskriminierung entstanden ist (§ 15 Abs. 2 AGG). Dazu gleich mehr!
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CHEFM

ChefMarcelo

1.10.2023, 18:04:42

Aber uU kann doch das Alter auch eine gerechtfertigte Ablehung iSd AGG sein, wenn bspw für einen Job nur Leute unter 30 benötigt werden. (Bspw bei einigen Clubs die Kellner) im Fall des Lehrers ist das natürlich nicht gegeben.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.10.2023, 17:02:12

Hallo ChefMarcelo, in der Tat kann eine Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt sein (s. insbesondere § 10 AGG). Hierunter fallen unter anderem Höchstaltersgrenzen aus Sicherheitsgründen (zB bei Piloten). Vorsichtig musst Du bei "Kundenwünschen" als wesentliche berufliche Anforderung iSv § 8 AGG sein). Kundenwünsche oder eine bestimmte Marktausrichtung sollen die Unverzichtbarkeit nur begründen, wenn ein besonderes öffentliches oder sozialpolitisches Interesse an der optimalen Erfüllung der Aufgabe besteht, die das Gleichbehandlungsinteresse zu überspielen geeignet ist (BeckOK ArbR/Roloff, 69. Ed. 1.9.2023, AGG § 8 Rn. 5). Fehlt es - wie hier - an einem Rechtfertigungsgrund, so liegt ein Verstoß vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MWA

mwally

26.11.2023, 13:37:28

In Clubs können auch Leute kellnern, die älter als 30 sind. Dass die Leute gut aussehen und körperlich fit sein sollten, halte ich für vernünftige Kriterien (die auch nicht zu einem Diskriminierungsproblem führen), nicht aber grundsätzlich das Alter. Hier von vorneherein nach dem Alter zu diskriminieren ist weder rational noch wirtschaftlich sinnvoll.

M0NAC0

M0NAC0

15.4.2024, 16:10:48

B muss doch auch nicht beweisen, dass sie besserqualifiziert ist, sondern lediglich den Verstoß der S gegen das Benachteiligungsverbot indizieren (§ 22 AGG). Wäre es in dem Sinne nicht eher die Frage, ob B dieses Indiz anführen kann, oder hab ich da was falsch verstanden?

MWA

mwally

27.5.2024, 19:27:42

Die

Beweislastumkehr

greift nur bei der Entschädigung, nicht beim Schadenersatz. Beim Schadenersatz (für materiellen Schaden) muss der abgelehnte Bewerber nachweisen, dass er bei diskriminierungsfreier Auswahl der am besten qualifizierte Bewerber gewesen wäre. Dann steht ihm Schadenersatz bspw. für entgangenen Lohn zu. Bei der Entschädigung (für

immaterielle Schäden

) reichen Indizien, damit die

Beweislastumkehr

aus § 22 AGG greift. Wenn der Bewerber hier zusätzlich sogar nachweisen kann, der am besten qualifizierte Bewerber gewesen zu sein (was eher selten der Fall sein dürfte), ist die Entschädigung nach oben unbegrenzt. Ansonsten ist die Entschädigung auf maximal drei Monatsgehälter beschränkt.

Whale

Whale

10.9.2024, 18:33:53

Die Aufgabe hier weist auch darauf hin, dass beim Schadensersatzanspruch lediglich eine Beweistlastumkehr im Rahmen des Verstoßes besteht und nicht der Schaden selbst umfasst ist. Verstoß ist nicht gleich Schaden!

Natze

Natze

30.8.2024, 13:52:52

Gibt es denn auch aussagekräftige Fälle/Beispiele zu den anderen Punkten des sachlichen Anwendungsbereichs? meines Wissen beschränken sich alle Anwendungsfälle nur auf die Bewerbungsphase. gibt es noch andere prüfungsrelevante Anwendungsbereiche?

LELEE

Leo Lee

1.9.2024, 08:10:02

Hallo Natze, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat sind auch mir persönlich noch keine Fälle bekannt, außerhalb von arbeitsrechtlichen Schwerpunkten, in denen auch andere Fälle als die der Bewerbungen relevant wurden :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Natze

Natze

2.9.2024, 16:51:40

Vielen vielen Dank :)

A-MUC

A-MUC

22.11.2024, 13:24:58

Woraus folgert man, dass die Ansprüche verschuldensunabhängig sind? Bei Lektüre der RL hätte ich Art. 8d vermutet, sicher bin ich mir aber nicht.


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen