Öffentliches Recht

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Entscheidungen von 2020

Abberufung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Bundestags

Abberufung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Bundestags

23. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

B, Abgeordneter der A-Fraktion, wird vom Rechtsausschuss des Bundestages als Vorsitzender abgewählt. Neben dem bereits anhängigen Organstreitverfahren begehrt die A-Fraktion vor dem BVerfG, dem B einstweilen zu ermöglichen, seinen Posten wieder effektiv wahrnehmen zu können.

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Einordnung des Falls

Abberufung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Bundestags

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Statthaft ist hier ein Antrag der A-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG).

Genau, so ist das!

Das BVerfG kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Der Antrag ist statthaft, da die A-Fraktion begehrt, dem B einstweilen – bis zur Entscheidung in der Hauptsache – zu ermöglichen, den Vorsitz im Rechtsausschuss des Bundestages wieder aufzunehmen.
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2. Der Antrag ist von vornherein unzulässig, da im Organstreitverfahren aufgrund dessen hoher verfassungsrechtlicher Bedeutung ein Eilrechtsschutz nicht in Betracht kommt.

Nein, das trifft nicht zu!

Auch wenn es sich in der Hauptsache um ein Organstreitverfahren (und nicht etwa eine Verfassungsbeschwerde) handelt, kommt ein verfassungsgerichtliches Eilverfahren (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) grundsätzlich in Betracht. Wenngleich der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren einen erheblichen Eingriff des BVerfG in die Autonomie und originäre Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane bedeutet, scheidet ein Eilverfahren deshalb nicht prinzipiell aus. BVerfG: Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG sei daher grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (RdNr. 25).

3. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) ist unzulässig, wenn das BVerfG die begehrte Rechtsfolge im Hauptsacheverfahren gar nicht bewirken kann.

Ja!

Der Antrag (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) muss zwar keinen konkreten Anordnungsinhalt benennen, weil das BVerfG ohnehin nicht an den Antrag gebunden ist; das BVerfG kann anordnen, was zur vorläufigen Sicherung aus Gründen des Gemeinwohls dringend geboten ist. Dennoch muss die einstweilige Anordnung als Sicherungsmittel für das Hauptsacheverfahren geeignet sein. Sie ist daher regelmäßig unzulässig, wenn das BVerfG eine entsprechende Rechtsfolge im Hauptsacheverfahren gar nicht bewirken kann (RdNr. 22).

4. Der Antrag der A-Fraktion ist unzulässig, da er auf eine Rechtsfolge gerichtet ist, die im Hauptsacheverfahren nicht bewirkt werden kann.

Nein, das ist nicht der Fall!

Im Organstreitverfahren kann nur die Verletzung organschaftlicher Rechte festgestellt werden (§ 67 Abs. 1 BVerfGG). BVerfG: Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreit, in dem z.B. um die Unanwendbarkeit einer Norm gestritten wird, komme daher nicht in Betracht. Allerdings sei die Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten durch einstweilige Anordnung zulässig, wenn es um die vorläufige Sicherung des streitigen organschaftlichen Rechts gehe. Andernfalls könne „die einstweilige Anordnung, der immanent ist, dass die einen Zustand vorläufig regelt (§ 32 Abs. 1 BVerfGG), ihre Funktion nicht erfüllen“ (RdNr. 22f.).

5. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) ist begründet, wenn sich der angegriffene Hoheitsakt nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist.

Nein, das trifft nicht zu!

Im Rahmen des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Auch bei offenem Ausgang der Hauptsache findet grundsätzlich gerade keine summarische Prüfung statt, sondern eine Folgenabwägung nach der sog. Doppelhypothese (RdNr. 25).

6. Fraktionen im Bundestag haben ein Recht auf Gleichbehandlung bzw. auf gleiche Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung.

Ja!

BVerfG: Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) erstrecke sich auch auf die Mitwirkungsbefugnisse der Abgeordneten in den Ausschüssen des Bundestages. Grundsätzlich muss jeder Ausschuss die Zusammensetzung des Plenums widerspiegeln, und zwar durch eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der Fraktionen (sog. Grundsatz der Spiegelbildlichkeit). Vorliegend stehe der Vorsitz im Rechtsausschuss der A-Fraktion grundsätzlich zu (§ 12 GO-BT). Es sei daher „nicht ausgeschlossen“, dass der A-Fraktion ein Teilhaberecht zusteht, das durch die Abberufung des B beeinträchtigt sein könnte (RdNr. 29).

7. Die Bildung und Ausübung einer organisierten politischen Opposition wird vom Grundgesetz gewährleistet (sog. Grundsatz effektiver Opposition).

Genau, so ist das!

BVerfG: Der Grundsatz effektiver Opposition folge im Wesentlichen aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG): Die parlamentarische Minderheit müsse die realistische Chance habe, zur Mehrheit zu werden. Dies setze insbesondere voraus, dass die Opposition ihre parlamentarische Kontrollfunktion unabhängig vom Wohlwollen der Parlamentsmehrheit erfüllen kann. Es erscheine hier „nicht von vornherein ausgeschlossen“, dass die Besetzung eines Ausschussvorsitzes als Kontrollrecht in diesem Sinne aufzufassen ist (RdNr. 30f.).

8. Der Verfahrensausgang in der Hauptsache ist somit nicht von vornherein unzulässig und unbegründet.

Ja, in der Tat!

Richtig - laut BVerfG sei eine Beeinträchtigung der Gleichbehandlung der Fraktionen sowie des Grundsatzes effektiver Oppositionen jedenfalls nicht ausgeschlossen. Insbesondere sei nicht klar, ob eine Beeinträchtigung dieser Rechtspositionen überhaupt und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden könnte (RdNr. 32; vgl. auch § 58 GO-BT). Der Verfahrensausgang in der Hauptsache ist somit offen, sodass eine Folgenabwägung nach der Doppelhypothese vorzunehmen ist.

9. Die Doppelhypothese verlangt eine Abwägung zwischen den Folgen des Ergehens der einstweiligen Anordnung bei Erfolglosigkeit der Hauptsache und den Folgen einer Versagung bei Erfolg in der Hauptsache.

Ja!

Richtig! Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Hauptsache aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache jedoch der Erfolg versagt bliebe.

10. Erginge die Anordnung nicht und hätte der Hauptantrag Erfolg, wäre B einstweilen daran gehindert, ein ihm rechtlich zustehendes Amt auszuüben.

Genau, so ist das!

Während dies zwar eine spürbare Beeinträchtigung des B darstellt, weist das BVerfG darauf hin, dass im vorliegenden Verfahren nicht die Rechtsposition des B, sondern die der A-Fraktion maßgebend ist. Die A-Fraktion hat jedoch die Möglichkeit, ihre derzeitige Beeinträchtigung durch Benennung eines anderen Kandidaten selbst zu verringern. Die A-Fraktion sei daher nicht vollständig an der Erfüllung ihrer Oppositionsaufgaben gehindert (RdNr. 34f.).

11. Erginge die Anordnung und wäre die Hauptsache später erfolglos, würde der Rechtsausschuss wieder von B geleitet und es entstünden keine Nachteile.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens würde der Rechtsausschuss wieder von B geleitet und damit von einer Person, die – aufgrund der vorangegangenen Abberufung – „das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt“. Dies gefährde die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses. Zudem greife eine solche Anordnung in das Selbstbestimmungsrecht des Bundestages (Art. 40 Abs. 1 GG) ein, wozu das BVerfG nur in Ausnahmefällen befugt sei (RdNr. 36).

12. Bei der vorzunehmenden Folgenabwägung überwiegt das Interesse der A-Fraktion, sodass B sein Amt wieder aufnehmen darf.

Nein!

BVerfG: Auf Seiten der A-Fraktion liegen keine Umstände vor, die den Erlass der einstweiligen Anordnung dringend geboten erscheinen lassen (RdNr. 37). Auch wenn es laut BVerfG nicht ausgeschlossen sei, dass die A-Fraktion durch die Abwahl des B in ihren organschaftlichen Rechten verletzt wurde, habe sie die Nachteile hinzunehmen, die ihr dadurch entstehen, dass B einstweilen nicht ins Amt zurückkehren kann. Das Ergebnis des Organstreitverfahrens (Hauptsache) bleibt abzuwarten, erscheint aber nach den Ausführungen des BVerfG durchaus offen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CAMU

Camus

2.5.2021, 19:46:36

"Im Organstreitverfahren kann nur die Verletzung organschaftlicher Rechte festgestellt werden. BVerfG: Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreit, in dem z.B. um die Unanwendbarkeit einer Norm gestritten wird, komme daher nicht in Betracht." Wie habe ich diese Begründung zu verstehen? Schließlich kann auch der Erlass einer Norm als rechtserhebliche Maßnahme eine Verletzung organschaftlicher Rechte bewirken.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.5.2021, 12:30:01

Hallo Camus, vielen Dank für Deine Nachfrage. Das BVerfG hat sich an dieser Stelle etwas kurz gehalten und im Wesentlichen auf eine andere Entscheidung verwiesen hat (Beschluss v. 12.03.2019 - 2 BvQ 91/18, BVerfGE 151, 58). Im Kern hat das BVerfG dort ausgeführt, dass das Organstreitverfahren für eine Normenkontrolle unstatthaft ist. Denn es gehe hier vordringlich um die Abgrenzungen von Kompetenzen und der Klärung der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander, nicht dagegen um eine allgemeine Verfassungsaufsicht. Dies zeige sich letztlich auch an den Rechtsfolgen, da im Rahmen des Organstreits lediglich die Feststellung erfolgt, ob eine Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Dieser Feststellung kommt indes keine kassatorische oder

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.5.2021, 12:40:46

rechtsgestaltende Wirkung zu. Vielmehr obliege es dem jeweiligen Staatsorgan dann selbst, einen festgestellten verfassungswidrigen Zustand zu beenden. Das heißt natürlich nicht, dass man sich als Organ nicht gegen eine verfassungswidrige Norm wenden kann. Hierfür ist aber dann eben nicht das Organstreitverfahren statthaft, sondern ggfs. die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) bzw. die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, sofern sich 1/4 des Bundestages dem anschließt). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CAJE

Cajetan

16.1.2022, 10:57:40

Aber wo ist denn da der Unterschied zur Entscheidung im vorliegenden Fall? Hier könnte in der HS doch eigentlich auch nur die Verfassungswidrigkeit festgestellt werden, im Eilverfahren soll aber eine einstweilige Anordnung möglich sein? Verstehe die unterschiedliche Behandlung von Streitigkeiten über Normen und solchen über Handlungen nicht.

Bibcrush

Bibcrush

24.7.2021, 20:32:20

Hi liebes Team, ich habe letztens hier einen Fall gehabt, der am Ende nochmal den Aufbau der

Begründetheit

abgefragt hat und fande das super gut um die ganzen Fragen einzuordnen in den Prüfungsaufbau. Ich wollte also mal lieb vorschlagen, ob man das für weitere Fälle, wie den hier, auch einrichten könnte. Beste Grüße

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.7.2021, 11:56:29

Hallo Bibcrush, erst einmal herzlich willkommen bei Jurafuchs und vielen Dank für Deine super Anmerkung. Sehr gerne werden wir zukünftig vermehrt noch eine abschließende Frage zur Wiederholung des Aufbaus mit aufnehmen. Gerne kannst Du uns insoweit auch an anderen Stellen einen entsprechenden Hinweis geben, wenn Dir dort noch etwas fehlt. Beste Grüße und weiterhin viel Spaß, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

10.10.2022, 00:09:30

Könntet ihr den Unterschied zwischen der Doppelhypothese und der summarischen Prüfung erklären?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.10.2022, 09:37:45

Hallo Philipp, der Unterschied liegt hier in der Frage, was Gegenstand der Prüfung ist. Die

summarische Prüfung

wird im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren relevant. Das angerufene Gericht prüft dabei die Erfolgsaussichten des Beg

ehre

ns des Antragsstellers in der Hauptsache "summarisch", d.h. insbesondere ohne bereits eine umfangreiche Beweisaufnahme durchzuführen. Die Prüfung des BVerfG ist dagegen auf die Folgen der "fehlerhaften" Eilentscheidung gerichtet. Verglichen wird die Situation, bei der das BVerfG eine entsprechende Anordnung erlässt, der Antrag sich später aber als unbegründet herausstellt (Hypothese 1) verglichen mit der Situation, wo das BVerfG dem Eilantrag nicht stattgibt, er sich aber später im Hauptsacheverfahren als begründet herausstellt (Hypothese 2). Je nachdem, welches Szenario die gravierenderen Folgen bereithält, wird dem Eilantrag stattgegeben oder nicht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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