Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2019
Verurteilung als faktischer Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung
Verurteilung als faktischer Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Atomkraftgegner A organisiert eine unangemeldete Demo in der baden-württembergischen Stadt H. Er erteilt dabei über Funk Anweisungen, u.a. zum Aufspannen eines Banners und zur Beendigung der Versammlung. Da ein Veranstalter nicht auszumachen ist, verhängen die Fachgerichte strafrechtliche Sanktionen gegen A.
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Einordnung des Falls
Verurteilung als faktischer Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Im gesamten Bundesgebiet gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG).
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Jede öffentliche Versammlung unter freiem Himmel muss spätestens 48 Stunden vor ihrer Durchführung angemeldet werden.
Nein!
3. Vorliegend handelt es sich um eine Spontanversammlung, sodass die Anmeldepflicht (§ 14 Abs. 1 VersG) entfällt.
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Der Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung unter freiem Himmel macht sich strafbar (§ 26 Nr. 2 VersG).
Ja, in der Tat!
5. A war „Leiter“ (§ 26 Nr. 2 VersG) der Versammlung.
Ja!
6. Nach dem sog. Analogieverbot darf eine Strafnorm nicht über ihren Wortlaut hinaus angewendet werden (Art. 103 Abs. 2 GG).
Genau, so ist das!
7. Die Verurteilung des A als „faktischer Leiter“ verstößt gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG).
Nein, das trifft nicht zu!
8. Die Verurteilung des A verstößt gegen das Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), denn die Nichtanmeldung der Versammlung kann ihm nicht vorgeworfen werden.
Nein!
9. Die Verurteilung des A als „faktischer Leiter“ verstößt gegen die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), da so die bloße Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung bestraft wird.
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Marcoyayo
25.3.2020, 08:33:28
Den Sachverhalt ausschmücken bitte, "...Anweisungen, u.a. Zum Anbringen eines Banners und zur Beendigung..."
Raimond
9.9.2020, 13:21:03
Sie haben jetzt das Bildchen ergänzt, das passt ganz gut: Banner, Anweisungen. Aber gebe dir Recht. Längerer Sachverhalt wäre schön gewesen. Liebe Grüße 👩🏻🎓🤗
Eigentum verpflichtet 🏔️
21.1.2021, 14:55:17
Hallo ihr beiden, wir haben jetzt auch das "Aufspannen des Banners" neben dem Fallbild, auch in den geschriebenen Sachverhalt eingefügt. LG ;)
🦊LEXDEROGANS
21.1.2021, 08:16:06
An § 17 VersammlG als (nichteinschlägigen) Ausschlusstatb. wäre auch noch zu denken...
Eigentum verpflichtet 🏔️
21.1.2021, 14:51:37
Hallo Lexderogans, sdanke für den Hinweis auf die Norm. Allerdings kommen die dort aufgeführten Ausnahmen (Gottesdienste unter freiem Himmel, kirchliche Prozessionen, Bittgänge und Wallfahrten, gewöhnliche Leichenbegängnisse, Züge von Hochzeitsgesellschaften und hergebrachte Volksfeste) hier ja ganz offensichtlich nicht in Betracht. Dennoch gut, immer daran zu denken!
chuck lawris
23.2.2022, 09:17:03
Art. 8 Abs 1 GG normiert die Freiheit der Versammlung "ohne Anmeldung". Abs. 2 die Möglichkeit der Einschränkung. Es wäre cool, wenn man hierzu noch ein paar Fragen gestellt und eine Erklärung geliefert bekäme, warum das Grundsatz-Ausnahme-Prinzip zum Ausnahme-Grundsatz-Prinzip verkehrt werden darf 😬 Gerade bei einem demokratischen Grundrecht ist die Strafbarkeit mE extrem problematisch.
Lukas_Mengestu
25.2.2022, 15:37:38
Hallo chuck lawris, in unserem Grundrechtekurs haben wir einige Aufgaben zu diesem Komplex aufgenommen (https://applink.jurafuchs.de/PvtV7gFaWnb). Die (verkürzte) Antwort ist aber letztlich, dass von Versammlungen unter freiem Himmel ein erhöhtes Gefahrenpotential ausgeht. Art. 8 Abs. 2 GG berücksichtigt dies, indem er öffentliche Versammlungen unter einen Gesetzesvorbehalt stellt. Jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung (Sonderregelung für Eil-/
Spontanversammlung) stellt die Regelung des § 14 Abs. 1 BVersG einen angemessenen Ausgleich dar zwischen der Versammlungsfreiheit einerseits, und der Pflicht des Staates für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, andererseits. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Nico
28.5.2022, 13:00:33
Wie verhält sich denn § 26 Nr. 2 VersG bei
Spontanversammlungen? Kann hier auch ein faktischer Versammlungsleiter bestehen, der dann strafbar wäre oder wäre die Norm hier (ggf. I.S.d. Art. 8 I GG) nicht anwendbar, weil ansonsten ja
Spontanversammlungen mangels Anmeldungsmöglichkeit kaum straflos möglich wären?
Nora Mommsen
21.6.2022, 16:21:18
Hallo NiC.-,
Spontanversammlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgrund eines konkreten Anlasses spontan entstehen. Es handelt es sich um nicht organisierte, vor allem nicht vorher geplante oder verabredete Veranstaltungen. Es kann somit schon rein praktisch keinen Leiter geben. Die Strafnorm wird jedenfalls aber dahingehend verfassungskonform ausgelegt, dass
Spontanversammlungjedenfalls vom Anmeldungserfordernis befreit sind. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team.
QuiGonTim
19.4.2024, 09:00:42
Dass Schuldprinzip wird hier aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3 GG hergeleitet. Dient die Einbeziehung von Art. 20 Abs. 3 GG nur dazu, die unmittelbare Anwendbarkeit der Menschenwürdegarantie zu begründen oder hat die Vorschrift hinsichtlich des Schuldprinzips einen eigenen materiellen Gehalt?
Nora Mommsen
19.4.2024, 12:04:28
Hallo QuiGonTim, das Schuldprinzip hat in der deutschen Rechtsordnung Verfassungsrang. Es wird aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde (worin es seine wesentliche Grundlage findet) sowie dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet. Daher der Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG. Dazu wurde von der Rechtsprechung folgende Paradigmen formuliert: - Das Schuldprinzip verlangt, dass die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters steht (BVerfGE 110, 1/13; 120, 224/254; 133, 168 Rn.55). - „Tat und Schuld müssen prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden“ (BVerfGE 140, 317 Rn.58). - Es gilt der Grundsatz „In dubio pro reo“ (Uhle HGR V § 129 Rn.100). - Der Betroffene muss dem Gericht seine Sicht darlegen können (BVerfGE 140, 317 Rn.58). - Notwendig ist ein „lückenloser, wahrheitsorientiert ermittelter und aktueller Strafzumessungssachverhalt“ (BVerfGE 118, 212/230). Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
TobiasD
20.6.2024, 23:54:51
Es müsste nunmehr auch Hessen ergänzt werden aufgrund des Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetz (HVersFG) vom 22. März 2023.