Öffentliches Recht

VwGO

Feststellungsklage

Verhältnis Nichtigkeitsklage zur Anfechtungsklage

Verhältnis Nichtigkeitsklage zur Anfechtungsklage

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

BAföG-Behörde B erlässt einen Rückforderungsbescheid gegenüber Stundentin S. Der Bescheid lässt B als erlassende Behörde nicht erkennen. Ein Widerspruchsverfahren ist unstatthaft. Zwei Monate vergehen. S will nun den Bescheid anfechten, hilfsweise die Nichtigkeit feststellen lassen.

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Einordnung des Falls

Verhältnis Nichtigkeitsklage zur Anfechtungsklage

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Statthaft könnte die Anfechtungsklage sein.

Ja!

Auch nichtige Verwaltungsakte können nach h.M. Gegenstand einer Anfechtungsklage sein. Dafür spricht der Rechtsschein, der von einem erlassenen Verwaltungsakt ausgeht. Der Adressat kann nicht sicher sein, ob es sich um einen rechtswidrigen oder einen nichtigen Verwaltungsakt handelt. Bevor er sich irrt und einen rechtswidrigen Verwaltungsakt nicht angreift, sodass dieser bestandskräftig wird, ist es im Sinne des effektiven Rechtsschutzes geboten, dass er auch einen nichtigen Verwaltungsakt "zur Sicherheit" anfechten kann. S ist der Meinung, Bs Bescheid ist nichtig. Sie kann diesen grundsätzlich anfechten.
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2. S hat hier die Klagefrist eingehalten, sodass eine Anfechtungsklage zulässig sein könnte.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Anfechtungsklage kann nur innerhalb der Frist des § 74 VwGO erfolgen. Nach § 74 Abs. 1 S. 1 VwGO beträgt diese einen Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheids bzw. bei Unstatthaftigkeit des Widerspruchsverfahrens einen Monat nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 74 Abs. 1 S. 2 VwGO). S hat die Klage erst zwei Monate nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben. Die Anfechtungsklage ist verfristet und damit nicht mehr zulässig.

3. Statthaft könnte die Nichtigkeitsfeststellungsklage sein.

Ja, in der Tat!

Zum einen kann das Gericht Klagen nach dem erkannten Zweck umdeuten. Zudem ist es möglich, von vornherein neben einer Anfechtungsklage hilfsweise die Nichtigkeitsfeststellungsklage zu erheben. Ist die Anfechtungsklage nicht zulässig (weil sie z.B. verfristet ist), prüft das Gericht die Zulässigkeit der hilfsweise erhobenen Klage. Andersherum kann auch eine Nichtigkeitsfeststellungsklage und hilfsweise die Anfechtungsklage erhoben werden. Dafür spricht vor allem, dass ein Bürger vor Klageerhebung oft nicht erkennen kann, ob es sich um einen rechtswidrigen oder einen nichtigen Verwaltungsakt handelt. Die von S hilfsweise erhobene Nichtigkeitsfeststellungsklage könnte hier statthaft sein.

4. Ein schriftlicher Bescheid, der die erlassende Behörde nicht erkennen lässt, ist in jedem Fall nur rechtswidrig. Eine Nichtigkeitsfeststellungsklage scheidet aus.

Nein!

Ein schriftlicher Bescheid, der die erlassende Behörde nicht erkennen lässt, ist nichtig (§ 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG). Als statthafte Klageart kommt in diesen Fällen eine Feststellungsklage, gerichtet auf die Feststellung der Nichtigkeit des Verwaltungsakts, in Betracht (§ 43 Abs. 1, Var. 3 VwGO). Die Feststellungsklage unterliegt keiner Klagefrist - ein nichtiger Verwaltungsakt wird nämlich nie bestandskräftig. Die Nichtigkeit kann damit - auch aus Gründen der Rechtssicherheit - jederzeit festgestellt werden. Der BAföG-Bescheid könnte nichtig sein. Statthaft ist die Feststellungsklage, gerichtet auf die Feststellung der Nichtigkeit (§ 43 Abs. 1, Var. 3 VwGO).

5. Die Frist der Anfechtungsklage gilt auch für die Nichtigkeitsfeststellungsklage.

Nein, das trifft nicht zu!

Gegenstand der Anfechtungsklage ist ein (ggf.) rechtswidriger Verwaltugsakt. Rechtswidrige Verwaltungsakte werden mit Ablauf der Klagefrist bestandskräftig (vhl. § 70 VwGO). Das heißt, sie können - aus Gründen der Rechtssicherheit - nicht mehr angefochten werden, auch, wenn sie rechtswidrig sind. Nichtige Verwaltungsakte hingegen werden nie bestandskräftig, denn sie sind schon nicht wirksam (§ 43 Abs. 3 VwVfG). Die Nichtigkeitsfeststellungsklage ist deswegen nicht fristgebunden. Die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts muss aus Gründen der Rechtssicherheit jederzeit feststellbar sein. Ansonsten könnte es dazu kommen, dass die Behörde einen nichtigen Verwaltungsakt vollstreckt. Aufgrund der unterschiedlichen Klagegegenstände ist die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage keine Umgehung des Fristerfordernisses der Anfechtungsklage.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DIAA

Diaa

22.7.2023, 17:23:59

Vielleicht liege ich falsch, aber wenn der VA ja nichtig ist, dann entfaltet er keine Rechtswirkung und somit nicht bestandskräftig. Wieso gilt die Frits für die Anfechtungsklage?

NI

Nilson2503

15.9.2023, 17:41:15

Obgleich ich abschließender Weisheit nicht mächtig bin, würde ich die Dogmatik der AK anführen. Diese ist stets fristgebunden. Es würde dogmatisch unglaublich unsauber, wenn man die einzelnen Klagearten je nach Sachverhalt mit Blick auf ihre Voraussetzungen unterschiedlich handhaben würde. Führt man deinen Gedanken konsequent zuende, so müsste ja die AK deshalb keine

Klagefrist

voraussetzen, weil der zugrundeliegende VA nichtig ist. Aber eben aufgrund der Unterschiedlichkeit der einzelnen Klagearten der VwGO ist schlicht eine andere Klageart statthaft. Die Voraussetzungen der divergierenden Klagearten sind eben kein Selbstzweck. Sie sind zwingende prozessuale Zulässigkeitsvoraussetzungen.

L.G

L.Goldstyn

26.8.2024, 16:47:23

Darüber hinaus lässt sich eventuell auch mit dem Gesetzeswortlaut argumentieren: Die

Klagefrist

ist in § 74 Abs. 1 VwGO geregelt. Dieser spricht aber lediglich davon, dass die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids (S. 1) oder bei Entbehrlichkeit des Vorverfahrens

innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe

des

Verwaltungsakt

es (S. 2) erhoben werden muss. Die Bekanntgabe richtet sich nach § 41 VwVfG. Ob der VA wirksam oder nichtig ist, ergibt sich aus § 43 Abs. 1, 3,

§ 44 VwVfG

, und wird weder in

§ 74 VwGO

noch in § 41 VwVfG nicht erwähnt.


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