Examensrelevante Rechtsprechung
Rechtsprechung Strafrecht
BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung, u.a.
Klausurklassiker Heimtücke: Argwohn bei Kleinkindern
Klausurklassiker Heimtücke: Argwohn bei Kleinkindern
9. Mai 2023
19 Kommentare
4,7 ★ (33.886 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A will ein Wohnhaus in Brand setzen. Er legt nachts einen Brand im Hausflur. A weiß, dass alle Personen im Haus seelenruhig schlafen. A nimmt billigend in Kauf, alle – 6 Erwachsene und 3 Kinder (K1: 3 Jahre; K2: 2 Jahre; K3: 6 Monate) – durch den Brand zu töten. Alle Personen werden gerettet.
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Einordnung des Falls
Der BGH beschäftigt sich hier mir der Möglichkeit eines Heimtücke-Mordes an Klein(st)kindern. Dies sei in der Regel nicht möglich, da Kleinkinder nicht fähig sind, anderen Vertrauen entgegenzubringen. Ihnen fehlt also nicht die Fähigkeit, Argwohn zu entwickeln. Diese Fähigkeit ist allerdings im Einzelfall zu prüfen und kann durchaus auch schon bei Dreijährigen vorhanden sein. Bei einem Fehlen sei stattdessen auf die Arglosigkeit von schutzbereiten Dritten abzustellen. Hierbei kommen aber nur Personen in Betracht, die im Augenblick der Tat tatsächlich den Schutz des Kindes übernommen haben und es eben deshalb nicht haben, weil sie arglos waren.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat A sich wegen neunfachen vollendeten Mordes strafbar gemacht (§ 211 Abs. 2 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
2. Ist der Versuch des Mordes strafbar (§§ 211 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
Ja, in der Tat!
3. Versucht Straftat, wer mit Tatentschluss unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt?
Ja!
4. Hat A sich wegen versuchten, heimtückischen Mordes an den sechs erwachsenen Personen im Haus strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
5. Auch K1 (3 Jahre alt) war arglos. Hat A sich mithin wegen versuchten, heimtückischen Mordes an K1 strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
Ja, in der Tat!
6. Auch K2 (2 Jahre) und K3 (6 Monate) waren arglos. Hat A sich wegen versuchten, heimtückischen Mordes an K2 und K3 strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
Nein!
7. Kann Heimtücke bei der Tötung von nicht zum Argwohn fähigen Kleinstkindern unter drei Jahren gegeben sein, wenn der Täter die Arglosigkeit schutzbereiter Dritter ausnutzt?
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Kate
5.11.2021, 10:04:10
Tolle Fallaufbereitung :) Mir stellt sich die Frage, wieso der BGH bzgl. der Kleinstkinder letztlich einen versuchten Totschlag und nicht einen versuchen Mord aus niedrigen Beweggründen annimmt.. die Ablehnung des
gemeingefährlichen Mittels leuchtet aufgrund der Individualisierung der Opfer ja noch ein, aber ist es sittlich nicht besonders
verwerflichgerade die zu gefährden, die sich im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht selbst aus einem brennenden Wohnhaus retten könnten?

Lukas_Mengestu
5.11.2021, 11:26:14
Hallo Kate, vielen Dank und sehr gute Frage. Die Beurteilung eines Beweggrundes als "niedrig" setzti regelmäßig ein eklatantes Missverhältnis zwischenAnlass und Tat voraus, wobei nicht jede vorsätzliche Tötung, für welche sich kein "nachvollziehbarer oder naheligender Grund finden lässt, als Mord aus niedrigen Beweggründen anzusehen ist. "Niedrig im Sinne von Abs. 2 wird dieser Umstand vielmehr erst durch die Bewertung des Täters, wonach er für die Tat keinen Grund oder besonderen Anlass brauche, weil der Wert des Lebens schon im Verhältnis zu geringfügigen Verstimmungen oder plötzlichen , unreflektierten Launen zurücktrete (vgl. Fischer, § 211 RdNr. 9). Zu den Hintergründen der Tat fehlt es in dem Urteil leider an näheren Informationen. Allein aus dem objektiven Umstand, dass es sich hierbei um Kleinstkinder handelt, kann man insofern noch nicht mit "Sicherheit" die niedrigen Beweggründe ableiten. Interessant ist, dass auch die Vorinstanz (LG Köln) hier das Merkmal der niederen Beweggründe verneint hat. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Victoria Langen
16.7.2023, 09:39:42
Warum heißt es 211 usw und nicht 212 I, 211 usw als Normenkette

Nora Mommsen
16.7.2023, 14:36:22
Hallo Victoria Langen,
§ 211 StGBist ein eigenständiger Tatbestand. Es bedarf somit nicht der Kombination mit § 212 StGB für eine Strafbarkeit. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Dogu
31.7.2023, 23:11:08
Nach der anderen Auffassung ist Mord eine Qualifikation des Totschlags.

EmmaValentina
11.8.2023, 18:02:14
Ich finde die Formulierung, dass Kleinstkinder kein Vertrauen aufbauen und keinen
Argwohnempfinden könnten, merkwürdig. Man merkt Kleinstkindern und auch Säuglingen an, dass sie ein Urvertrauen zu ihren Eltern haben und gegenüber fremden Personen misstrauend sein können und das auch durch Körpersprache äußern - die ist bei Kindern ja nicht willkürlich?
Leo Lee
18.8.2023, 12:00:21
Hallo Phinemaria, das ist ein sehr guter und berechtigter Einwand. Dieser Leitlinie der Rspr. widerspricht auch der ehem. vorsitzende Richter am BGH in Fischer StGB, 69. Auflage, § 211 Rn. 38c und beschreibt die Differenzierung zw. Klein- und Kleinkindern als "wenig plausibel" :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

DeliktusMaximus
21.10.2023, 12:47:57
Scheinbar hat der BGH noch nie ein (fremdelndes) Kleinkind aus der Nähe gesehen.
MusterschüLAW
16.12.2023, 20:39:27
Die Eltern konnten also nur die sie selbst betreffende
Arglosigkeitmit in den Schlaf nehmen. Das ist doch gerade bei Gefährdung des schutzbereiten Dritten und des zu Schützenden durch dasselbe Ereignis eine realitätsferne Aufsplittung. Eine Unterscheidung in Bezug auf die Gefährdung für beide oder nur den Schützling ist bisher aber nicht entwickelt, oder?

LexSuperior
6.5.2025, 19:10:09
Das sehe ich in der Tat ebenso und verstehe diese Ansicht auch nicht. Zudem schwierig nachzuvollziehen die Schutzbereitschaft deshalb zu verneinen weil der zum Schutz bereite sich schlafen gelegt hat. Dies tat er oder sie doch naturgemäß nur deshalb, weil er auch jedem denkbaren Täter X dergestalt vertraut, dass dieser oder diese eben keinen Angriff gegen die zu schützenden Personen plant bzw. einen solchen ausführt. Könnte mir das jemand erklären? Es heißt ja, dass der schutzbereite Dritte entweder im Zeitpunkt der tatausführung imstande sein muss das jeweilige schutzsubjekt zu schützen, oder aber dieser dem Täter vertraut keinen Angriff auszuführen. Tut das nicht jeder automatisch wenn er sich dazu entschließt sich schlafen zu legen? Wer in Bezug auf sich
arglosist, ist es doch dann auch in Bezug auf das schutzsubjekt. Ich bin mir nicht sicher ob ich keinen knoten im Kopf habe. Und Zusatzfrage: kam denn in dem konkreten Fall ein versuchter Mord aus bzw. mit anderen
Mordmerkmalen an dem 2 Jahre und 6 Monate alten Kindern in Betracht ? Oder ist in solchen Konstellationen ein Mord immer ausgeschlossen (was eine Katastrophe wäre).
Tin
28.4.2025, 10:46:30
Ich finde es fernliegend zu sagen, dass der Täter die
Arglosigkeitder Eltern bezogen auf die Kinder nicht ausnutzt oder dass die Eltern nur ihre eigene
Arglosigkeitmit in den Schlaf nehmen. Es ist wohl selbstverständlich dass sich die Kleinstkinder nicht selber retten können ( zumindest Kinder unter einem Jahr ) und dass die Eltern dazu verpflichtet sind sowie dies auch als deren Aufgabe sehen. Wenn man schon sagt, die
Heimtückeliegt gegenüber den Eltern vor, dann muss dies doch auch für deren Kinder gelten.

LexSuperior
6.5.2025, 19:14:59
Sehe ich ebenso. Zudem ist ja die alternativ-Voraussetzung erfüllt. Nämlich das der Schutzbereite Dritte dem Täter vertraut, dass dieser keinen Angriff ausführen wird. Also im Sinne eines generellen Vertrauens in alle Richtungen das eben kein Angriff erfolgen wird, andernfalls würde sich derjenige doch nicht schlafen legen und die schutzsubjekte schutzlos lassen.

Nadim Sarfraz
31.5.2025, 18:29:44
Hallo @[Tin](195209) und @[LexSuperior](105329), danke für Euren Austausch. (: Ich stimme Euch zu, dass die Entscheidung aufgrund der genannten Punkte etwas widersprüchlich erscheint. Der BGH schien hier zuvorderst darum bemüht, von seinen eigens in ständiger Rspr. aufgestellten Grundsätzen zur Ausnutzung der
Arglosigkeitschutzbereiter Dritter nicht abweichen zu müssen. Danach liegt dann ein die
Heimtückebegründendes Ausnutzen vor, wenn die für den Schutz verantwortliche Person "(...) den Schutz des Kindes übernommen hat und ihn im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut (vgl. BGHSt 8, 216). Der schutzbereite Dritte muss den Schutz auf Grund der Umstände des Einzelfalls wirksam erbringen können." Hierunter hat der BGH subsumiert und musste zum Ergebnis kommen, dass angesichts des Schlafs der Eltern der Schutz Ihres Kleinstkindes nicht hätte erbracht werden können. Dass das mit den Grundsätzen zur
Arglosigkeitschlafender Erwachsener, die ihre
Arglosigkeit"mit in den Schlaf nehmen" - obwohl sie dann auch für sich selbst nicht schutzbereit sind - logisch nicht ganz in Einklag zu bringen ist, sehe ich genauso. Hier wurden wohl in jahrzehntelanger Judikatur unterschiedlicher Senate unabhängig voneinander Maßstäbe gebildet, die in diesem Fall aufeinandergetroffen sind. Die teilweise Widersprüchlichkeit wird dadurch gut veranschaulicht - schön, dass es Euch aufgefallen ist! Liebe Grüße, Nadim für das Jurafuchs-Team

Inkognito
24.5.2025, 22:24:33
Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass die Rechtsprechung soweit ich informiert bin besagt, dass ein Tod durch Verbrennung in aller aller Regel grausam ist.