Strafrecht

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Klausurklassiker Heimtücke: Argwohn bei Kleinkindern

Klausurklassiker Heimtücke: Argwohn bei Kleinkindern

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: A zündet ein Haus an in dem Wissen, dass dort kleine Kinder leben.
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Klassisches Klausurproblem

A will ein Wohnhaus in Brand setzen. Er legt nachts einen Brand im Hausflur. A weiß, dass alle Personen im Haus seelenruhig schlafen. A nimmt billigend in Kauf, alle – 6 Erwachsene und 3 Kinder (K1: 3 Jahre; K2: 2 Jahre; K3: 6 Monate) – durch den Brand zu töten. Alle Personen werden gerettet.

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Einordnung des Falls

Der BGH beschäftigt sich hier mir der Möglichkeit eines Heimtücke-Mordes an Klein(st)kindern. Dies sei in der Regel nicht möglich, da Kleinkinder nicht fähig sind, anderen Vertrauen entgegenzubringen. Ihnen fehlt also nicht Fähigkeit, Argwohn zu entwickeln. Diese Fähigkeit ist allerdings im Einzelfall zu prüfen und kann durchaus auch schon bei Dreijährigen vorhanden sein. Bei einem Fehlen sei stattdessen auf die Arglosigkeit von schutzbereiten Dritten abzustellen. Hierbei kommen aber nur Personen in Betracht, die im Augenblick der Tat tatsächlich den Schutz des Kindes übernommen haben und es eben deshalb nicht haben, weil sie arglos waren.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A sich wegen neunfachen vollendeten Mordes strafbar gemacht (§ 211 Abs. 2 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (§ 211 Abs. 2 StGB). Alle Personen im Haus konnten gerettet werden. A hat sich daher nicht wegen vollendeten Mordes strafbar gemacht.
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2. Ist der Versuch des Mordes strafbar (§§ 211 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar (§ 23 Abs. 1 StGB). Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist (§ 12 StGB). Der Mord ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht und stellt damit ein Verbrechen dar.

3. Versucht Straftat, wer mit Tatentschluss unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt?

Ja!

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB). Subjektiv setzt der Versuch Tatentschluss voraus. Dieser liegt vor, wenn der Täter endgültig entschlossen ist, den Tatbestand zu verwirklichen. Objektiv setzt der Versuch einer Straftat unmittelbares Ansetzen zur tatbestandlichen Handlung voraus. Dabei ist auf die Vorstellung des Täters abzustellen. Der Täter hat unmittelbar zur Tat angesetzt, wenn er subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschreitet und objektiv Handlungen vornimmt, die bei ungestörtem Fortgang ohne Zwischenakte zur Tatbestandsverwirklichung führen.

4. Hat A sich wegen versuchten, heimtückischen Mordes an den sechs erwachsenen Personen im Haus strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

Heimtückisch i.S.d. § 211 Abs. 2 Var. 5 StGB handelt, wer die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit seines Opfers ausnutzt. Arglos ist, wer sich eines Angriffs zur Tatzeit nicht versieht. Wehrlos ist, wer aufgrund der Arglosigkeit zur Verteidigung nicht imstande oder stark eingeschränkt ist. Eine schlafende Person ist arglos, wenn sie die Arglosigkeit mit in den Schlaf nimmt, also wenn sie sich in dem Bewusstsein schlafen legt, dass ihr von Anwesenden oder Zutrittsberechtigten kein Angriff droht. A nahm die Tötung der erwachsenen Personen durch den Hausbrand billigend in Kauf, hatte also Tatentschluss. Durch die Brandlegung hat A auch unmittelbar zur Tötung angesetzt. Dabei wusste A, dass alle Personen im Haus seelenruhig schlafen und sich keines Angriffes versahen.

5. Auch K1 (3 Jahre alt) war arglos. Hat A sich mithin wegen versuchten, heimtückischen Mordes an K1 strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

In Fällen (versuchten) Heimtücke-Mordes an Kindern ist das Merkmal der Arglosigkeit bei Klein- und Kleinstkindern problematisch. Arglos ist, wer sich eines Angriffs zur Tatzeit nicht versieht. BGH: Heimtücke gegenüber Kleinstkindern ist in der Regel nicht möglich, weil sie nicht fähig sind, anderen Vertrauen entgegenzubringen. Ihnen fehlt daher die Fähigkeit zum Argwohn. Bei einem dreijährigen Kind ist allerdings schon davon auszugehen, dass es fähig ist, Vertrauen zu entwickeln und Argwohn zu empfinden. Im Alter von drei Jahren ist K1 zu Argwohn fähig. K1 hat mithin – wie die Erwachsenen – seine Arglosigkeit mit in den Schlaf genommen (RdNr. 11).

6. Auch K2 (2 Jahre) und K3 (6 Monate) waren arglos. Hat A sich wegen versuchten, heimtückischen Mordes an K2 und K3 strafbar gemacht (§§ 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Nein!

BGH: Kleinstkinder unter drei Jahren können regelmäßig nicht arglos sein. weil sie nicht fähig sind, anderen Vertrauen entgegenzubringen. Ihnen fehlt daher die Fähigkeit zum Argwohn. K 2 und K 3 waren wegen ihres Alters (K 2: 2 Jahre; K 3: 6 Monate) mangels der Fähigkeit zum Argwohn nicht selbst arglos. In Bezug hierauf scheidet die Annahme der Heimtücke vorliegend aus.

7. Kann Heimtücke bei der Tötung von nicht zum Argwohn fähigen Kleinstkindern unter drei Jahren gegeben sein, wenn der Täter die Arglosigkeit schutzbereiter Dritter ausnutzt?

Genau, so ist das!

Bei der Tötung von Kleinkindern kann die Heimtücke in der Ausnutzung der Arglosigkeit schutzbereiter Dritter liegen (BGH, NStZ-RR 2006, 43). Dafür muss jedoch ein schutzbereiter Dritter, der den Schutz des Kleinstkindes übernommen hat, den Schutz über das Kind im Augenblick der Tat tatsächlich ausüben oder dies nicht tun, weil er dem Täter vertraut. Der schutzbereite Dritte muss den Schutz auf Grund der Umstände des Einzelfalls wirksam erbringen können. Im Ausgangsfall ließ sich nicht feststellen, dass die Eltern von K2 und K3 als schutzbereite Dritte imstande waren, angesichts des eigenen Schlafs den Schutz über die Kinder im Zeitpunkt der nächtlichen Tatausführung durch A wirksam zu erbringen. Deshalb hat A bei der versuchten Tötung von K2 und K3 nicht die Arglosigkeit schutzbereiter Dritter ausgenutzt. A handelte daher nicht heimtückisch hinsichtlich K2 und K3 (RdNr. 12f.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

KATE

Kate

5.11.2021, 10:04:10

Tolle Fallaufbereitung :) Mir stellt sich die Frage, wieso der BGH bzgl. der Kleinstkinder letztlich einen versuchten Totschlag und nicht einen versuchen Mord aus niedrigen Beweggründen annimmt.. die Ablehnung des

gemeingefährlich

en Mittels leuchtet aufgrund der Individualisierung der Opfer ja noch ein, aber ist es sittlich nicht besonders

verwerflich

gerade die zu gefährden, die sich im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht selbst aus einem brennenden Wohnhaus retten könnten?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.11.2021, 11:26:14

Hallo Kate, vielen Dank und sehr gute Frage. Die Beurteilung eines Beweggrundes als "niedrig" setzti regelmäßig ein eklatantes Missverhältnis zwischenAnlass und Tat voraus, wobei nicht jede vorsätzliche Tötung, für welche sich kein "nachvollziehbarer oder naheligender Grund finden lässt, als Mord aus niedrigen Beweggründen anzusehen ist. "Niedrig im Sinne von Abs. 2 wird dieser Umstand vielmehr erst durch die Bewertung des Täters, wonach er für die Tat keinen Grund oder besonderen Anlass brauche, weil der Wert des Lebens schon im Verhältnis zu geringfügigen Verstimmungen oder plötzlichen , unreflektierten Launen zurücktrete (vgl. Fischer, § 211 RdNr. 9). Zu den Hintergründen der Tat fehlt es in dem Urteil leider an näheren Informationen. Allein aus dem objektiven Umstand, dass es sich hierbei um Kleinstkinder handelt, kann man insofern noch nicht mit "Sicherheit" die niedrigen Beweggründe ableiten. Interessant ist, dass auch die Vorinstanz (LG Köln) hier das Merkmal der niederen Beweggründe verneint hat. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Victoria Langen

Victoria Langen

16.7.2023, 09:39:42

Warum heißt es 211 usw und nicht 212 I, 211 usw als Normenkette

Nora Mommsen

Nora Mommsen

16.7.2023, 14:36:22

Hallo Victoria Langen, § 211 StGB ist ein eigenständiger Tatbestand. Es bedarf somit nicht der Kombination mit § 212 StGB für eine Strafbarkeit. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Dogu

Dogu

31.7.2023, 23:11:08

Nach der anderen Auffassung ist Mord eine Qualifikation des Totschlags.

EmmaValentina

EmmaValentina

11.8.2023, 18:02:14

Ich finde die Formulierung, dass Kleinstkinder kein Vertrauen aufbauen und keinen Argwohn empfinden könnten, merkwürdig. Man merkt Kleinstkindern und auch Säuglingen an, dass sie ein Urvertrauen zu ihren Eltern haben und gegenüber fremden Personen misstrauend sein können und das auch durch Körpersprache äußern - die ist bei Kindern ja nicht willkürlich?

LELEE

Leo Lee

18.8.2023, 12:00:21

Hallo Phinemaria, das ist ein sehr guter und berechtigter Einwand. Dieser Leitlinie der Rspr. widerspricht auch der ehem. vorsitzende Richter am BGH in Fischer StGB, 69. Auflage, § 211 Rn. 38c und beschreibt die Differenzierung zw. Klein- und Kleinkindern als "wenig plausibel" :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

21.10.2023, 12:47:57

Scheinbar hat der BGH noch nie ein (fremdelndes) Kleinkind aus der Nähe gesehen.

MUS

MusterschüLAW

16.12.2023, 20:39:27

Die Eltern konnten also nur die sie selbst betreffende Arglosigkeit mit in den Schlaf nehmen. Das ist doch gerade bei Gefährdung des schutzbereiten Dritten und des zu Schützenden durch dasselbe Ereignis eine realitätsferne Aufsplittung. Eine Unterscheidung in Bezug auf die Gefährdung für beide oder nur den Schützling ist bisher aber nicht entwickelt, oder?


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