Referendariat: Prozessrecht & Klausurtypen

Die zivilrechtliche Urteilsklausur

Versäumnisurteil

Umfang des Prüfungsmaßstabs: Berufung gegen zweites Versäumnisurteil nach Einspruch gegen Vollstreckungsbescheid

Umfang des Prüfungsmaßstabs: Berufung gegen zweites Versäumnisurteil nach Einspruch gegen Vollstreckungsbescheid

16. Februar 2025

8 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Schlendrian S legt gegen ein gegen ihn ergangenen Vollstreckungsbescheid Einspruch ein. Da er den Einspruchstermin versäumt, ergeht ein zweites Versäumnisurteil. Da er die Säumnis verschuldet hat, fragt er sich, ob es überhaupt noch Sinn ergibt, hiergegen Berufung einzulegen.

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Einordnung des Falls

Umfang des Prüfungsmaßstabs: Berufung gegen zweites Versäumnisurteil nach Einspruch gegen Vollstreckungsbescheid

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Grundsätzlich unterliegt ein Versäumnisurteil, gegen das der Einspruch an sich nicht statthaft ist, der Berufung nur insoweit, als sie darauf gestützt wird, dass kein Fall der schuldhaften Säumnis vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 S. 1 ZPO).

Ja, in der Tat!

Der Prüfmaßstab in der Berufung ist beim zweiten Versäumnisurteil (§ 345 ZPO) nach § 514 Abs.2 S.1 ZPO grundsätzlich beschränkt. Danach wird nur überprüft, ob ein Fall der Säumnis vorlag.
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2. Diese Beschränkung nach § 514 Abs.2 ZPO gilt auch für den Prüfmaßstab in der Berufung beim zweiten Versäumnisurteil nach vorangegangenem Vollstreckungsbescheid.

Nein!

Der BGH hat entschieden, dass in der Berufung trotz des engen Wortlauts des § 514 Abs.2 ZPO alle Umstände zu überprüfen sind, die für den Einspruchsrichter von Bedeutung waren. Er begründet dies damit, dass nach dem Telos der Norm ein Gleichlauf zwischen der Überprüfungspflicht des Einspruchsrichters und des Berufungsrichters bestehen müsse. Diese „erweiterte Überprüfbarkeit“ hat die Berufung nach vorangegangenem Versäumnisurteil in jüngerer Zeit zu einer beliebten Klausurkonstellation der Prüfungsämter gemacht. Lass Dich von der ungewohnten Einkleidung nicht aus der Ruhe bringen. Im Ergebnis prüfst Du hier neben der unverschuldeten Säumnis zusätzlich einfach die Zulässigkeit und Schlüssigkeit der Klage (nicht aber Begründetheit!).

3. Die Berufung gegen ein nach Erlass eines Vollstreckungsbescheids ergangenes zweites Versäumnisurteil kann vielmehr auch darauf gestützt werden, dass dieses Versäumnisurteil nicht gesetzmäßig ergangen ist.

Genau, so ist das!

Die Berufung gegen ein nach Erlass eines Vollstreckungsbescheids ergangenes zweites Versäumnisurteil kann auch darauf gestützt werden, dass dieses Versäumnisurteil nicht gesetzmäßig ergangen ist. Dies ist der Fall, wenn die Klage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch unzulässig oder unschlüssig gewesen ist. Denn die Überprüfungspflicht des Einspruchsrichters und des Berufungsrichters muss übereinstimmen. Wegen § 700 Abs.6 ZPO sind daher auch die Prozessvoraussetzungen und die Schlüssigkeit der Klage vom Berufungsrichter zu überprüfen. Achtung: Dies gilt aber nicht bei zweitem Versäumnisurteil nach vorausgegangenem ersten Versäumnisurteil, weil dann -anders als bei § 700 Abs.6 ZPO- im Rahmen des § 345 ZPO keine erneute Schlüssigkeitsprüfung stattfindet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jeon Jungkook

Jeon Jungkook

2.3.2023, 14:47:45

Könntet Ihr vielleicht erläutern, warum bei der Berufung gegen das zweite VU nach vorangegangenem Vollstreckungsbescheid „nur“

Zulässigkeit

und Schlüssigkeit und nicht

Zulässigkeit und Begründetheit

zu prüfen ist? Vielen Dank!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2023, 17:19:35

Hallo Jeon, das können wir sehr gerne machen. Damit es deutlicher wird, hole ich hierfür aber vielleicht etwas aus: Im Grundsatz erhält eine säumige Partei nur 1x eine zweite Chance. D.h. gegen ein VU ist nur 1x ein Einspruch möglich. Ein Vollstreckungsbescheid steht einem VU gleich, deshalb hat der Säumige auch hier eigl. nur eine Chance. Legt er Einspruch ein, so ist die Frage, inwieweit der Vollstreckungsbescheid/das VU rechtmäßig ergangen sind, zunächst egal. Geprüft wird beim Einspruch lediglich (1)

Statthaftigkeit

, (2) Form und (3) Frist des Einspruchs (§ 341 S. 1 ZPO). Bei zulässigem Einspruch kann Termin zur mdl. Verhandlung bestimmt werden (§ 341a ZPO) bzw. eine Klageerwiderungsfrist gesetzt werden. Der Prozess wird in die Lage vor der Säumnis versetzt (§ 342 ZPO).

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2023, 17:19:56

Fraglich ist aber, was nun bei neuerlicher Säumnis passiert. In diesem Fall kann der ursprünglich zulässige Einspruch unter Umständen durch Erlass eines zweiten VU verworfen werden (§ 345 ZPO). Der Tenor des zweiten VUs lautet dabei einfach: „Der Einspruch gegen das VU/den Vollstreckungsbescheid vom … wird verworfen.“

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2023, 17:22:31

Jetzt kommt aber der erste Knackpunkt. Die Voraussetzungen unter denen der Erlass eines 2. VU möglich ist, unterscheiden sich zwischen vorangegangenem VU und Vollstreckungsbescheid. Beim VU genügt die erneute Säumnis des Einspruchsführers (§ 345 ZPO). Beim Vollstreckungsbescheid müssen nach § 700 Abs. 6 ZPO dagegen zusätzlich die Voraussetzungen vorliegen, die es für den Erlass eines VU nach §

331 ZPO

bedürfte. Warum? Während des gesamten Mahnverfahrens hat keiner den Mahnantrag des Antragsstellers inhaltlich geprüft. Für den Erlass des Vollstreckungsbescheid ist die Schlüssigkeit der geltend gemachten Forderung keine Voraussetzung (vgl. § 699 Abs. 1 S. 1 ZPO). Vielmehr hat der zuständige Rechtspfleger lediglich die Einhaltung der Formalia zu prüfen (zB Ablauf der

Widerspruchsfrist

, wirksame Zutstellung, Mahnbescheid in Kraft…). Die nach § 700 Abs. 6 ZPO vorzunehmende Prüfung soll dies nun ausgleichen. Aus diesem Grund darf der Einspruch nach § 700 Abs. 6 ZPO nur dann verworfen werden, wenn die Voraussetzungen vorliegen, die es auch für den Erlass eines

Versäumnisurteil

s gegen den Beklagten bedürfte (§ 331 Abs. 1 ZPO). Die erstinstanzliche Klage müsste also (1) zulässig und (2) schlüssig sein und (3) der Antragsteller den Erlass des VU beantragt haben. Wichtig: Auch bei Erlass eines VU wird also nur die Schlüssigkeit, nicht aber die

Begründetheit

geprüft.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2023, 17:23:50

Nach dieser langen Vorrede kommt jetzt der finale Schlenker. Der BGH hat entschieden (NJW 1991, 43), dass in der Berufung trotz des engen Wortlauts des § 514 Abs.2 ZPO (=§ 513 Abs. 2 ZPO a.F.) alle Umstände zu überprüfen sind, die für den Einspruchsrichter von Bedeutung

ware

n. Das bedeutet: Beim Erlass eines 2. VU nach vorangegangenem VU kann das Berufungsgericht lediglich prüfen, inwieweit die Säumnis

schuld

haft war. Denn die

schuld

hafte Säumnis ist die einzige Voraussetzung, die es nach § 345 ZPO für das Verwerfen des Einspruchs bei neuerlicher Säumnis bedarf. Anders dagegen beim Vollstreckungsbescheid. Da der Einspruchsrichter hier wegen § 700 Abs. 6 ZPO neben der

schuld

haften Säumnis auch die Voraussetzungen des § 331 Abs. 1 ZPO prüft, gilt dieser

Prüfungsmaßstab

über den Wortlaut des §

514 ZPO

hinaus auch für die Berufungsentscheidung. Da aber auch der Einspruchsrichter nur die Schlüssigkeit, nicht aber die

Begründetheit

zu prüfen hat, ist auch das Berufungsgericht darauf beschränkt. Ich hoffe, jetzt ist es noch klarer geworden :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

medoLaw

medoLaw

11.3.2023, 23:51:14

BGH

Urteil

: Ich fände schön, wenn eine Fundstelle des BGH

Urteil

s direkt mit in der Lösung drinstehen würde. Außerdem fände ich es schön, wenn die Argumente, warum man den engen Wortlaut so überdehnen darf, auch mit angeführt werden. Wenn es wirklich in einer Klausur kommt, muss ich mich ja argumentativ entscheiden und nicht willkürlich.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.3.2023, 14:49:20

Hallo medoLaw, vielen Dank für den Hinweis! Die Entscheidung haben wir verlinkt und im Hinweistext noch stärker hervorgehoben, dass der BGH hier - wie so oft - den Telos der Norm über ihren Wortlaut stellt. Sinn und Zweck der Norm gebiete den Gleichlauf des Prüfumfangs von Einspruchsrichter und Berufungsrichter. Da beim Einspruch gegen den

Widerspruchsbescheid

nach § 700 Abs. 6 ZPO der Einspruchsrichter neben der unver

schuld

eten Säumnis auch die

Zulässigkeit

und Schlüssigkeit prüft, gelte dieser Prüfungsumfang auch in der Berufungsinstanz, wenn der Einspruch gegen den

Widerspruchsbescheid

wegen der Säumnis des Widerspruchsführers verworfen wurde. Ich hoffe, so wird es jetzt noch deutlicher. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PI

Pit

12.7.2024, 16:20:30

Wer die Fundstelle im Kommentar nachschlagen möchte: Der Hinweis der weiten Auslegung findet sich dort (etwas) *verklausuliert* im *vorletzten Satz* der Randnummer. Eine weitere hilfreiche Kommentierung findet sich in § 700 Rn. 25 (bzw. 21) ZPO, denn hier wird in Rn. die Berufung als Rechtsmittel gegen das zweite VU kurz dargestellt und in Rn. 21 den Prüfungsumfang für das zweite VU, der aufgrund des "gleichlaufs" im Grunde der gleiche ist.


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