+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Ire O lebte als Wanderarbeitnehmer im Vereinigten Königreich. Sein Sohn S verstarb dort 2019 und wurde in Ireland beerdigt. O beantragte Bestattungsgeld bei seinem Arbeitgeber, das mit der Begründung abgelehnt wurde, dass die Beerdigung nicht im Vereinigten Königreich statt fand.
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Einordnung des Falls
Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV: Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist zunächst eröffnet.
Genau, so ist das!
Arbeitnehmer i.S.d. Art. 45 AEUV ist jeder Unionsbürger, der während einer bestimmten Zeit weisungsgebunden Leistungen von einem wirtschaftlichen Wert für einen anderen erbringt und dafür als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der Anwendungsbereich des Art. 45 AEUV setzt zudem die Unionsbürgerschaft und einen grenzüberschreitenden Bezug voraus.
S war als Wanderarbeitnehmer im Vereinigten Königreich tätig. Als Ire war S auch Unionsbürger, sodass auch der persönliche Anwendungsbereich eröffnet ist. Auch der grenzüberschreitende Bezug ist gegeben.
Mit dem Brexit haben britische Staatsangehörige mit Wirkung ab dem 31.01.2020 die Unionsbürgerschaft verloren.
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2. Die Ablehnung des Bestattungsgeldes stellt keine Beschränkung des Art. 45 AEUV dar, da der Arbeitnehmer S bereits verstorben ist.
Nein, das trifft nicht zu!
Die Zahlung des Bestattungsgeldes wird insoweit durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet, als das Diskriminierungsverbot in Art. 45 Abs.2 AEUV vorsieht, dass Wanderarbeitnehmern den inländischen Arbeitnehmern mit Blick auf sonstige Arbeitsbedingungen gleichgestellt sein müssen. Wenn der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern bei Tod von Angehörigen ein Bestattungsgeld auszahlen muss, dann hängt die Zahlung des Bestattungsgeld direkt mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammen und stellt eine sonstige Arbeitsbedingung dar.
3. Bei der Ablehnung des Bestattungsgelds handelt es sich um eine versteckte Diskriminierung.
Ja!
Eine versteckte Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung an ein anderes Differenzierungskriterium als die Staatsangehörigkeit geknüpft wird. Formal liegt bei der versteckten Diskriminierung eine gleiche (unterschiedslose) Behandlung von Inländern und Ausländern vor. Durch die versteckt diskriminierende Maßnahme werden Wanderarbeitnehmer jedoch typischerweisestärker und häufiger betroffen als inländische Arbeitnehmer.
Wanderarbeitnehmern, die ihren Angehörigen verpflichtet sind, entstehen im Todesfall Kosten der gleichen Art und in gleicher Höhe wie inländischen Arbeitnehmern. Dagegen werden vor allem Wanderarbeitnehmer beim Tod eines Familienangehörigen eine Bestattung in einem anderen Mitgliedstaat vornehmen lassen. Eine versteckte Diskriminierung liegt somit vor.
4. Die versteckte Diskriminierung kann mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit gemäß Art. 45 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden.
Nein, das ist nicht der Fall!
Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit kann das Recht auf Einreise wegen Krankheiten mit epidemischem Potenzial oder sonstigen übertragbaren Krankheiten eingeschränkt werden oder es können sonstige Maßnahmen angeordnet werden. Vorliegend besteht kein solch epidemischer Krankheitsfall. Vielmehr geht es darum durch die selektive Zahlung von Bestattungsgeld eine angemessene Bestattung zu sichern, was nicht in den engen Auslegungsbereich der öffentlichen Gesundheit gemäß Art. 45 Abs. 3 AEUV fällt.
5. Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe können nur unterschiedslose Beschränkungen rechtfertigen. Vorliegend kommt eine Rechtfertigung daher nicht in Betracht.
Nein, das trifft nicht zu!
Anfangs wendete der EuGH die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nur für unterschiedslose Beschränkungen an. Mittlerweile wendet der EuGH ungeschriebene Rechtfertigungsgründe dagegen teilweise auch für versteckt diskriminierende Maßnahmen an. Die Rechtsprechung ist insoweit noch uneinheitlich. Auch in der Literatur wird von einigen die Rechtfertigung durch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe bei versteckten Diskriminierungen mittlerweile für möglich gehalten. Begründet wird dies damit, dass unterschiedlose Beschränkungen und versteckte Diskriminierungen schwer abgrenzbar sind. Vereinzelt wird sogar befürwortet auch direkte Diskriminierungen mittels ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen zu rechtfertigen, um die Mitgliedstaaten nicht zu Umgehungsversuchen zu animieren.
6. Die versteckte Diskriminierung kann vorliegend durch den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der öffentliche Gesundheit gerechtfertigt werden.
Nein!
Der Schutz der Gesundheit ist vom EuGH als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt worden. Als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund wird der Schutz der öffentlichen Gesundheit weiter ausgelegt als der geschriebene Rechtfertigungsgrund in Art. 45 Abs. 3 AEUV und kann auch den Schutz des Gesundheitssystems umfassen. Eine Berufung auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit als ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund scheitert jedoch, da dieser Schutz vorliegend auch gewährleistet ist, wenn der Leichnam aus dem Vereinigten Königreich in einen anderen Mitgliedstaat übergeführt wird, um dort beerdigt zu werden.