Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers („GBL-Fall“) BGHSt 61, 21


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Gemeinsamer Drogenkonsum, Hinweis auf Gefährlichkeit von Drogen

A nimmt mit Freunden Drogen ein. Er trinkt 2ml „GBL“, stark verdünnt, und bietet es seinen Freunden an. O nimmt trotz Warnung einen unverdünnten Schluck, wird bewusstlos und atmet nur noch alle 8 Sekunden. A merkt dies, ruft aber keinen Krankenwagen. Hätte A dies getan, hätte O überlebt. O stirbt.

Einordnung des Falls

Der sogenannte „GBL-Fall“ ist eine Leitentscheidung des BGH zur Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers. Die Entscheidung betrifft eine Fallkonstellation, in der der Täter dem Opfer beim gemeinsamen Drogenkonsum schwere Drogen anbietet, das Opfer die Drogen entgegen dem Rat des Täters überdosiert konsumiert und der Täter im Anschluss nichts oder zu wenig unternimmt, um die tödlichen Folgen der Überdosis abzuwenden. Rechtlich behandelt der Fall die Abgrenzung einer fahrlässigen Tötung und einer Tötung durch Unterlassen. Zentrale Prüfungspunkte sind die Garantenstellung aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle, die Abgrenzung zu Fällen der Selbsttötung (Stichwort eigenverantwortliche Selbstgefährdung) sowie die Frage, in welchem Umfang der Täter verpflichtet ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs – hier den Eintritt des Todes infolge einer Überdosis – abzuwenden.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A den Tod des O kausal verursacht (§ 222 StGB), indem er das „GBL“ (Gammabutyrolacton) seinen Freunden angeboten hat?

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Genau, so ist das!

Nach der Äquivalenztheorie ist eine Handlung ursächlich für einen Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel) (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Vor § 13 RdNr. 21). Hätte A das GBL nicht angeboten, hätte O es nicht getrunken und wäre daran nicht gestorben.

2. Hat A eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung (§ 222 StGB) begangen, indem er das GBL anbot und zugänglich machte?

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Ja, in der Tat!

Eine Sorgfaltspflichtverletzung begeht, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt unberücksichtigt lässt. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 15 RdNr. 16). BGH: Das GBL sei hochgefährlich und für jeden der Freunde des A frei zugänglich gewesen. Die Warnung, GBL nicht unverdünnt zu nehmen, habe nicht den hohen an A zu stellenden Sorgfaltsanforderungen genügt (RdNr.12).

3. War der Tod des O objektiv vorhersehbar (§ 222 StGB)?

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Ja!

Der Erfolg muss für den Täter in seiner konkreten Gestalt und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen objektiv voraussehbar gewesen sein. Persönliche Fähigkeiten und individuelle Kenntnisse des Täters sind auf Ebene der Schuld zu thematisieren (subjektive Vorhersehbarkeit) (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 15 RdNr. 17a; § 222 RdNr. 25f.). BGH: In der Wohnung des A war es bereits im Laufe des Nachmittags zu wahllosem Suchtmittelkonsum gekommen. Es entspreche allgemeiner Erfahrung, dass Suchtmittel enthemmen. Es sei voraussehbar gewesen, dass es auch zur Einnahme von GBL kommen würde (RdNr. 11).

4. Beruhte der Tod des O auf dem Pflichtverstoß des A (§ 222 StGB)?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Der eingetretene Erfolg muss auf dem Pflichtverstoß des Täters beruhen. Es gelten grundsätzlich dieselben Voraussetzungen wie bei der objektiven Zurechnung beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt. Von besonderer Relevanz sind: (1) Schutzzweck der verletzten Norm, (2) rechtmäßiges Alternativverhalten, (3) eigenverantwortliche Selbstgefährdung Dritter. Im Falle eigenverantwortlicher Selbstverletzung/ -gefährdung scheidet § 222 StGB aus (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 222 RdNr. 28). BGH: O habe sein Leben eigenverantwortlich selbst gefährdet. A sei nicht nach § 222 StGB strafbar, denn er nehme an einem straflosen Geschehen teil (vgl. RdNr. 14f.).

5. Hat A es unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB), den Tod des O durch Rufen eines Rettungswagens abzuwenden?

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Ja, in der Tat!

Wird dem Täter das Nichteingreifen in eine laufende Kausalkette vorgeworfen, kommt es auf eine hypothetische Kausalität an. Sie liegt vor, wenn die unterlassene Handlung nicht „hinzugedacht“ werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (sog. „Quasi-Kausalität“) (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Vor § 113, RdNr. 39). BGH: Hätte A medizinische Hilfe angefordert, als O nur noch alle 8 Sekunden atmete, wäre das Leben des O mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden (RdNr. 5).

6. Hatte A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle (Verkehrssicherungspflicht)?

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Ja!

Die Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle kann eine Garantenstellung begründen. Anders als bei Ingerenz ist eine „objektive Pflichtwidrigkeit“ nicht erforderlich (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 13, RdNr. 52, 60). BGH: Jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, habe die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen. Wenn mit der Eröffnung der Gefahrenquelle die naheliegende Möglichkeit begründet wird, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden, begründe dies eine Erfolgsabwendungspflicht (§ 13 Abs. 1 StGB). Dies sei für das in der Wohnung des A frei verfügbare GBL zu bejahen (RdNr. 9ff.).

7. Ist die Erfolgsabwendungspflicht des A ist in dem Moment entfallen, in dem O das GBL unverdünnt zu sich genommen und sich eigenverantwortlich selbst gefährdet hat?

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Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Die Erfolgsabwendungspflicht des Garanten entfalle nicht, wenn sein Verhalten lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers ermögliche. Darin liege auch kein Wertungswiderspruch zu den Selbsttötungsfällen. Anderes als in Fällen der Selbsttötung setze das Opfer in Fällen der Selbstgefährdung sein Leben nur einem Risiko aus, ohne es vollständig preiszugeben. Damit verzichte das Opfer nicht auf lebensrettende Maßnahmen, sollte es in konkrete Gefahr geraten. Den Garanten treffe dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden (RdNr. 16ff.).

8. Hat A seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt, indem er es unterlassen hat, medizinische Hilfe zu rufen?

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Ja, in der Tat!

BGH: A habe in dem Zeitraum, in dem noch die Möglichkeit der Abwendung des Todes von O bestand, auf das Herbeirufen der lebensnotwendigen medizinischen Hilfe verzichtet (RdNr. 19). A ist strafbar gem. §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB.

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