Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2015

Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers („GBL-Fall“)

Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers („GBL-Fall“)

13. Juni 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Gemeinsamer Drogenkonsum, Hinweis auf Gefährlichkeit von Drogen

A nimmt mit Freunden Drogen ein. Er trinkt 2ml „GBL“, stark verdünnt, und bietet es seinen Freunden an. O nimmt trotz Warnung einen unverdünnten Schluck, wird bewusstlos und atmet nur noch alle 8 Sekunden. A merkt dies, ruft aber keinen Krankenwagen. Hätte A dies getan, hätte O überlebt. O stirbt.

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Einordnung des Falls

Der sogenannte „GBL-Fall“ ist eine Leitentscheidung des BGH zur Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers. Die Entscheidung betrifft eine Fallkonstellation, in der der Täter dem Opfer beim gemeinsamen Drogenkonsum schwere Drogen anbietet, das Opfer die Drogen entgegen dem Rat des Täters überdosiert konsumiert und der Täter im Anschluss nichts oder zu wenig unternimmt, um die tödlichen Folgen der Überdosis abzuwenden. Rechtlich behandelt der Fall die Abgrenzung einer fahrlässigen Tötung und einer Tötung durch Unterlassen. Zentrale Prüfungspunkte sind die Garantenstellung aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle, die Abgrenzung zu Fällen der Selbsttötung (Stichwort eigenverantwortliche Selbstgefährdung) sowie die Frage, in welchem Umfang der Täter verpflichtet ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs – hier den Eintritt des Todes infolge einer Überdosis – abzuwenden.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A den Tod des O kausal verursacht (§ 222 StGB), indem er das „GBL“ (Gammabutyrolacton) seinen Freunden angeboten hat?

Genau, so ist das!

Nach der Äquivalenztheorie ist eine Handlung ursächlich für einen Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel) (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Vor § 13 RdNr. 21). Hätte A das GBL nicht angeboten, hätte O es nicht getrunken und wäre daran nicht gestorben.
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2. Hat A eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung (§ 222 StGB) begangen, indem er das GBL anbot und zugänglich machte?

Ja, in der Tat!

Eine Sorgfaltspflichtverletzung begeht, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt unberücksichtigt lässt. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 15 RdNr. 16). BGH: Das GBL sei hochgefährlich und für jeden der Freunde des A frei zugänglich gewesen. Die Warnung, GBL nicht unverdünnt zu nehmen, habe nicht den hohen an A zu stellenden Sorgfaltsanforderungen genügt (RdNr.12).

3. War der Tod des O objektiv vorhersehbar (§ 222 StGB)?

Ja!

Der Erfolg muss für den Täter in seiner konkreten Gestalt und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen objektiv voraussehbar gewesen sein. Persönliche Fähigkeiten und individuelle Kenntnisse des Täters sind auf Ebene der Schuld zu thematisieren (subjektive Vorhersehbarkeit) (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 15 RdNr. 17a; § 222 RdNr. 25f.). BGH: In der Wohnung des A war es bereits im Laufe des Nachmittags zu wahllosem Suchtmittelkonsum gekommen. Es entspreche allgemeiner Erfahrung, dass Suchtmittel enthemmen. Es sei voraussehbar gewesen, dass es auch zur Einnahme von GBL kommen würde (RdNr. 11).

4. Beruhte der Tod des O auf dem Pflichtverstoß des A (§ 222 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der eingetretene Erfolg muss auf dem Pflichtverstoß des Täters beruhen. Es gelten grundsätzlich dieselben Voraussetzungen wie bei der objektiven Zurechnung beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt. Von besonderer Relevanz sind: (1) Schutzzweck der verletzten Norm, (2) rechtmäßiges Alternativverhalten, (3) eigenverantwortliche Selbstgefährdung Dritter. Im Falle eigenverantwortlicher Selbstverletzung/ -gefährdung scheidet § 222 StGB aus (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 222 RdNr. 28). BGH: O habe sein Leben eigenverantwortlich selbst gefährdet. A sei nicht nach § 222 StGB strafbar, denn er nehme an einem straflosen Geschehen teil (vgl. RdNr. 14f.).

5. Hat A es unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB), den Tod des O durch Rufen eines Rettungswagens abzuwenden?

Ja, in der Tat!

Wird dem Täter das Nichteingreifen in eine laufende Kausalkette vorgeworfen, kommt es auf eine hypothetische Kausalität an. Sie liegt vor, wenn die unterlassene Handlung nicht „hinzugedacht“ werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (sog. „Quasi-Kausalität“) (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Vor § 113, RdNr. 39). BGH: Hätte A medizinische Hilfe angefordert, als O nur noch alle 8 Sekunden atmete, wäre das Leben des O mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden (RdNr. 5).

6. Hatte A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle (Verkehrssicherungspflicht)?

Ja!

Die Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle kann eine Garantenstellung begründen. Anders als bei Ingerenz ist eine „objektive Pflichtwidrigkeit“ nicht erforderlich (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 13, RdNr. 52, 60). BGH: Jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, habe die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen. Wenn mit der Eröffnung der Gefahrenquelle die naheliegende Möglichkeit begründet wird, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden, begründe dies eine Erfolgsabwendungspflicht (§ 13 Abs. 1 StGB). Dies sei für das in der Wohnung des A frei verfügbare GBL zu bejahen (RdNr. 9ff.).

7. Ist die Erfolgsabwendungspflicht des A ist in dem Moment entfallen, in dem O das GBL unverdünnt zu sich genommen und sich eigenverantwortlich selbst gefährdet hat?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Die Erfolgsabwendungspflicht des Garanten entfalle nicht, wenn sein Verhalten lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers ermögliche. Darin liege auch kein Wertungswiderspruch zu den Selbsttötungsfällen. Anderes als in Fällen der Selbsttötung setze das Opfer in Fällen der Selbstgefährdung sein Leben nur einem Risiko aus, ohne es vollständig preiszugeben. Damit verzichte das Opfer nicht auf lebensrettende Maßnahmen, sollte es in konkrete Gefahr geraten. Den Garanten treffe dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden (RdNr. 16ff.).

8. Hat A seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt, indem er es unterlassen hat, medizinische Hilfe zu rufen?

Ja, in der Tat!

BGH: A habe in dem Zeitraum, in dem noch die Möglichkeit der Abwendung des Todes von O bestand, auf das Herbeirufen der lebensnotwendigen medizinischen Hilfe verzichtet (RdNr. 19). A ist strafbar gem. §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

GEL

gelöscht

15.6.2021, 18:52:54

Finde den Fall nicht gut aufbereitet. Bringt A zu einer Party eine 1l Flasche Absinth (70%) mit und X trinkt die Flasche alleine ohne abzusetzen aus und verstirbt an einer Alkohol Vergiftung, würde man ja auch nicht die Verantwortung auf A schieben. Bei Konsumenten von Drogen haben die meisten Konsumenten doch ungefähr eine Ahnung, was man wie nimmt und welches Risiko man leicht eingehen kann...

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.6.2021, 16:37:12

Vielen Dank für Dein Feedback, Pbl! Die Rückmeldungen von Nutzer*innen haben uns schon in zahlreichen Fällen geholfen, die Fälle weiter zu optimieren und verständlicher zu gestalten. Insoweit würde ich Dich bitten, mir vielleich noch einmal rückzumelden, ob Dich die Darstellung der Fragen und Antworten oder das Endergebnis stört. Auf letzteres haben wir leider nur bedingt Einfluss, da es sich hierbei um die Rechtsprechung des BGH handelt, auf dem dieser Fall beruht. Zur besseren Verständlichkeit hilft es vielleicht sich zu vergegenwärtigen, dass sich der von dir geschilderte Fall (Absinth) in einem entscheidenden Detail von dem GBL-Fall unterscheidet. Denn - anders als im GBL-Fall - wissen wir bei Deinem Absinth-Beispiel noch nicht, wie A sich verhält, nachdem X die ganze Flasche getrunken hat. Bis zu diesem Zeitpunkt scheidet eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) aber aufgrund der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des X aus (vgl. Fragen 1-3 unseres Falles). Spannend ist nun, was danach passiert. Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit des A in unserem Falles war nicht das Mitbringen des GBL. Der strafrechtliche Vorwurf liegt vielmehr darin begründet, dass er es unterlassen hat, den Rettungswagen zu rufen. Denn hier schließt die

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

nicht die Erfolgsabwendungspflicht des Garanten (Verursacher der Gefahrenquelle) aus. Das ist das eigentlich bemerkenswerte an dieser Entscheidung. Überträgt man das nun auf Dein Absinth-Beispiel, so kommt es also darauf an, ob A überhaupt noch die Möglichkeit hatte Rettungsmaßnahmen einzuleiten und ob er davon Gebrauch macht. Unterlässt er dies trotz bestehender Möglichkeit, dann macht er sich wegen Totschlags durch Unterlassen (§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) strafbar. Wird es so etwas klarer? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Vincent

Vincent

17.6.2021, 10:06:02

Ich würde auch sagen, dass es stark einzelfallabhängig ist. Wenn ich einen Absinth mitbringe und jemand ihn entwendet und alleine irgendwo austrinkt, würde ich hier auch eine Strafbarkeit verneinen. Wenn ich demjenigen allerdings eigenverantwortlich Zugang zu der Flasche verschaffe und nicht eingreife, wenn diese Person - an einer Alkoholvergiftung - zu sterben droht, würde ich auch hier eine Strafbarkeit durch unterlassen annehmen. Ich finde aber das gerade dieser Fall die Thematik von Fahrlässigkeit und unterlassen gut aufbereitet.

TI

Tim

2.12.2021, 14:11:04

Müsste man die Tatsache, dass A selbst Drogen genommen hat, nicht auch in puncto Schuldfähigkeit thematisieren? Oder wäre das Sachverhaltsquetsche?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.12.2021, 14:39:18

Hallo Tim, ansprechen könntest Du es. Allerdings gibt der Sachverhalt nicht wirklich Material für eine ordentliche Subsumtion her. Insbesondere ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, welche Auswirkung die 2ml GBL hier nun auf A hatten und inwieweit er hierdurch in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt war. In der Praxis würde man hier im Zweifel ein Sachverständigengutachten einholen müssen. In der Klausur könntest Du es mangels Anhaltspunkte mit einem Satz ablehnen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

TI

Tim

2.12.2021, 14:44:25

Cool, danke! Für den Fall, dass die Schuldfähigkeit beeinträchtigt wäre (nicht hier), wäre das Bemerken des A allerdings irrelevant, folglich Straffreiheit, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.12.2021, 09:40:52

Hallo Tim, auch hier müsste man dann noch differenzieren, ob die Schuldfähigkeit nur beeinträchtigt ist (§ 21 StGB) oder ein Fall der absoluten Schuldunfähigkeit vorliegt (§ 20 StGB). Nur in dem letzten Fall wäre Straffreiheit gegeben. Beste Grüße, Lukas

BBE

bibu knows best

22.8.2022, 07:41:26

Evt stehe ich jetzt etwas auf dem Schlauch aber wieso prüfen wir erst 222 StGB und danach 212, 13 StGB ? Ich hätte glaub ich mit 212 angefangen und dann gesagt dass schon an der Handlung scheitert, weil das geben des GBL per se noch nicht den Tod herbeigeführt hat. Und wäre dann direkt auf ein Unterlassen gesprungen und in Rahmen der

Unterlassungs

Handlung hätte ich dann noch Mal aufgegriffen, dass A seine Aufklärungspflicht bzgl. der Dosierung nachgekommen ist und dann eben, dass die strafrechtlich relevante "Handlung" das nicht rufen des RTW ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.8.2022, 16:36:13

Hallo bibu knows best, grundsätzlich kommen "Dickschiffe" natürlich zuerst. Im Hinblick auf das Geben der Drogen ist der Totschlag hier allerdings eher fernliegend, weil diesbezüglich eindeutig der

Vorsatz

fehlt. Dies kann man zwar kurz zuvor prüfen. Dann müsste man aber gleichzeitig auch schon im Rahmen der objektiven Zurechnung die Frage stellen, inwieweit hier eine

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

vorliegt, die zu einem Tatbestandsausschluss führt. Dies ist aufbautechnisch eher unglücklich, da dies zugleich den Schwerpunkt der Fahrlässigkeitsprüfung bildet. Da § 212 StGB aber klar ausscheidet, kann man hier bzgl. der ersten Handlung direkt mit § 222 StGB beginnen. Da die Fahrlässigkeitstat an eine andere Handlung/Unterlassung anknüpft, als die anschließende Prüfung des Totschlags durch Unterlassen (die fehlende Hilfe durch Rufen des RTW), sollte man die fahrlässige Tötung hier zunächst prüfen und ablehnen. Anschließend kommt man dann chronologisch zur Prüfung des Totschlags durch Unterlassen, der dann bejaht wird. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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