Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2015
Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers („GBL-Fall“)
Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers („GBL-Fall“)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A nimmt mit Freunden Drogen ein. Er trinkt 2ml „GBL“, stark verdünnt, und bietet es seinen Freunden an. O nimmt trotz Warnung einen unverdünnten Schluck, wird bewusstlos und atmet nur noch alle 8 Sekunden. A merkt dies, ruft aber keinen Krankenwagen. Hätte A dies getan, hätte O überlebt. O stirbt.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der sogenannte „GBL-Fall“ ist eine Leitentscheidung des BGH zur Garantenpflicht bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers. Die Entscheidung betrifft eine Fallkonstellation, in der der Täter dem Opfer beim gemeinsamen Drogenkonsum schwere Drogen anbietet, das Opfer die Drogen entgegen dem Rat des Täters überdosiert konsumiert und der Täter im Anschluss nichts oder zu wenig unternimmt, um die tödlichen Folgen der Überdosis abzuwenden. Rechtlich behandelt der Fall die Abgrenzung einer fahrlässigen Tötung und einer Tötung durch Unterlassen. Zentrale Prüfungspunkte sind die Garantenstellung aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle, die Abgrenzung zu Fällen der Selbsttötung (Stichwort eigenverantwortliche Selbstgefährdung) sowie die Frage, in welchem Umfang der Täter verpflichtet ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs – hier den Eintritt des Todes infolge einer Überdosis – abzuwenden.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat A den Tod des O kausal verursacht (§ 222 StGB), indem er das „GBL“ (Gammabutyrolacton) seinen Freunden angeboten hat?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat A eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung (§ 222 StGB) begangen, indem er das GBL anbot und zugänglich machte?
Ja, in der Tat!
3. War der Tod des O objektiv vorhersehbar (§ 222 StGB)?
Ja!
4. Beruhte der Tod des O auf dem Pflichtverstoß des A (§ 222 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Hat A es unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB), den Tod des O durch Rufen eines Rettungswagens abzuwenden?
Ja, in der Tat!
6. Hatte A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) aus Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle (Verkehrssicherungspflicht)?
Ja!
7. Ist die Erfolgsabwendungspflicht des A ist in dem Moment entfallen, in dem O das GBL unverdünnt zu sich genommen und sich eigenverantwortlich selbst gefährdet hat?
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Hat A seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt, indem er es unterlassen hat, medizinische Hilfe zu rufen?
Ja, in der Tat!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
gelöscht
15.6.2021, 18:52:54
Finde den Fall nicht gut aufbereitet. Bringt A zu einer Party eine 1l Flasche Absinth (70%) mit und X trinkt die Flasche alleine ohne abzusetzen aus und verstirbt an einer Alkohol Vergiftung, würde man ja auch nicht die Verantwortung auf A schieben. Bei Konsumenten von Drogen haben die meisten Konsumenten doch ungefähr eine Ahnung, was man wie nimmt und welches Risiko man leicht eingehen kann...
Lukas_Mengestu
16.6.2021, 16:37:12
Vielen Dank für Dein Feedback, Pbl! Die Rückmeldungen von Nutzer*innen haben uns schon in zahlreichen Fällen geholfen, die Fälle weiter zu optimieren und verständlicher zu gestalten. Insoweit würde ich Dich bitten, mir vielleich noch einmal rückzumelden, ob Dich die Darstellung der Fragen und Antworten oder das Endergebnis stört. Auf letzteres haben wir leider nur bedingt Einfluss, da es sich hierbei um die Rechtsprechung des BGH handelt, auf dem dieser Fall beruht. Zur besseren Verständlichkeit hilft es vielleicht sich zu ver
gegenwärtigen, dass sich der von dir geschilderte Fall (Absinth) in einem entscheidenden Detail von dem GBL-Fall unterscheidet. Denn - anders als im GBL-Fall - wissen wir bei Deinem Absinth-Beispiel noch nicht, wie A sich verhält, nachdem X die ganze Flasche getrunken hat. Bis zu diesem Zeitpunkt scheidet eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) aber aufgrund der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des X aus (vgl. Fragen 1-3 unseres Falles). Spannend ist nun, was danach passiert. Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit des A in unserem Falles war nicht das Mitbringen des GBL. Der strafrechtliche Vorwurf liegt vielmehr darin begründet, dass er es unterlassen hat, den Rettungswagen zu rufen. Denn hier schließt die
eigenverantwortliche Selbstgefährdungnicht die Erfolgsabwendungspflicht des Garanten (Verursacher der Gefahrenquelle) aus. Das ist das eigentlich bemerkenswerte an dieser Entscheidung. Überträgt man das nun auf Dein Absinth-Beispiel, so kommt es also darauf an, ob A überhaupt noch die Möglichkeit hatte Rettungsmaßnahmen einzuleiten und ob er davon Gebrauch macht. Unterlässt er dies trotz bestehender Möglichkeit, dann macht er sich wegen Totschlags durch Unterlassen (§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) strafbar. Wird es so etwas klarer? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Vincent
17.6.2021, 10:06:02
Ich würde auch sagen, dass es stark einzelfallabhängig ist. Wenn ich einen Absinth mitbringe und jemand ihn entwendet und alleine irgendwo austrinkt, würde ich hier auch eine Strafbarkeit verneinen. Wenn ich demjenigen allerdings eigenverantwortlich Zugang zu der Flasche verschaffe und nicht eingreife, wenn diese Person - an einer Alkoholvergiftung - zu sterben droht, würde ich auch hier eine Strafbarkeit durch unterlassen annehmen. Ich finde aber das gerade dieser Fall die Thematik von Fahrlässigkeit und unterlassen gut aufbereitet.
Tim
2.12.2021, 14:11:04
Müsste man die Tatsache, dass A selbst Drogen genommen hat, nicht auch in puncto Schuldfähigkeit thematisieren? Oder wäre das Sachverhaltsquetsche?
Lukas_Mengestu
2.12.2021, 14:39:18
Hallo Tim, ansprechen könntest Du es. Allerdings gibt der Sachverhalt nicht wirklich Material für eine ordentliche Subsumtion her. Insbesondere ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, welche Auswirkung die 2ml GBL hier nun auf A hatten und inwieweit er hierdurch in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt war. In der Praxis würde man hier im Zweifel ein Sachverständigengutachten einholen müssen. In der Klausur könntest Du es mangels Anhaltspunkte mit einem Satz ablehnen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Tim
2.12.2021, 14:44:25
Cool, danke! Für den Fall, dass die Schuldfähigkeit beeinträchtigt wäre (nicht hier), wäre das Bemerken des A allerdings irrelevant, folglich Straffreiheit, oder?
Lukas_Mengestu
3.12.2021, 09:40:52
Hallo Tim, auch hier müsste man dann noch differenzieren, ob die Schuldfähigkeit nur beeinträchtigt ist (§ 21 StGB) oder ein Fall der absoluten Schuldunfähigkeit vorliegt (§ 20 StGB). Nur in dem letzten Fall wäre Straffreiheit gegeben. Beste Grüße, Lukas
bibu knows best
22.8.2022, 07:41:26
Evt stehe ich jetzt etwas auf dem Schlauch aber wieso prüfen wir erst 222 StGB und danach 212, 13 StGB ? Ich hätte glaub ich mit 212 angefangen und dann gesagt dass schon an der Handlung scheitert, weil das geben des GBL per se noch nicht den Tod herbeigeführt hat. Und wäre dann direkt auf ein Unterlassen gesprungen und in Rahmen der
UnterlassungsHandlung hätte ich dann noch Mal aufgegriffen, dass A seine Aufklärungspflicht bzgl. der Dosierung nachgekommen ist und dann eben, dass die strafrechtlich relevante "Handlung" das nicht rufen des RTW ist.
Lukas_Mengestu
26.8.2022, 16:36:13
Hallo bibu knows best, grundsätzlich kommen "Dickschiffe" natürlich zuerst. Im Hinblick auf das Geben der Drogen ist der Totschlag hier allerdings eher fernliegend, weil diesbezüglich eindeutig der Vorsatz fehlt. Dies kann man zwar kurz zuvor prüfen. Dann müsste man aber gleichzeitig auch schon im Rahmen der objektiven Zurechnung die Frage stellen, inwieweit hier eine
eigenverantwortliche Selbstgefährdungvorliegt, die zu einem Tatbestandsausschluss führt. Dies ist aufbautechnisch eher unglücklich, da dies zugleich den Schwerpunkt der Fahrlässigkeitsprüfung bildet. Da § 212 StGB aber klar ausscheidet, kann man hier bzgl. der ersten Handlung direkt mit § 222 StGB beginnen. Da die Fahrlässigkeitstat an eine andere Handlung/Unterlassung anknüpft, als die anschließende Prüfung des Totschlags durch Unterlassen (die fehlende Hilfe durch Rufen des RTW), sollte man die fahrlässige Tötung hier zunächst prüfen und ablehnen. Anschließend kommt man dann chronologisch zur Prüfung des Totschlags durch Unterlassen, der dann bejaht wird. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team