Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungskompetenzen

Abschließendes Gebrauchmachen durch Bund - "Landesimpfpflicht" [F]

Abschließendes Gebrauchmachen durch Bund - "Landesimpfpflicht" [F]

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ein neues, hochansteckendes Virus erreicht Deutschland. Der Bund hält die Situation für ungefährlich und will gar nichts dagegen unternehmen, um die aktuelle wirtschaftliche Lage nicht zu gefährden. Das Land L ist anderer Meinung und führt mit dem „Virus-Bekämpfungs-Gesetz“ (VBG) unter anderem eine Impfpflicht gegen das Virus ein.

Diesen Fall lösen 81,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Abschließendes Gebrauchmachen durch Bund - "Landesimpfpflicht" [F]

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Grundsätzlich haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz inne (Art. 30 GG; Art. 70 Abs. 1 Hs. 1 GG).

Ja, in der Tat!

Art. 30 GG; Art. 70 Abs. 1 Hs. 1 GG regelt den Grundsatz der Länderzuständigkeit für die Gesetzgebung. Fehlt es an einer geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenz des Bundes, sind demnach die Länder zuständig (Art. 70 Abs. 1 Hs. 1 GG). Der Grundsatz der Länderzuständigkeit (Art. 30 GG; Art. 70 Abs. 1 Hs. 1 GG) ist Ausgangspunkt jeder Prüfung der Gesetzgebungskompetenzen. Wenn Du diesen Grundsatz nicht zum Einstieg erläuterst, wird Dir unterstellt, dass Du die Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern nicht verstehst.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Der Bund ist ausnahmsweise für die Einführung einer Impflicht zuständig (Art. 70 Abs. 1 Hs. 2 GG), weil eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 71 GG) besteht.

Nein!

Ein ausschließlicher Kompetenztitel des Bundes aus Art. 73 Abs. 1 GG oder dem sonstigen GG ist nicht ersichtlich.

3. In Art. 74 Abs. 1 GG findet sich ein konkurrierender Kompetenztitel des Bundes, mit dem eine Impflicht eingeführt werden könnte.

Genau, so ist das!

Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG verschafft dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“.

4. Bei dem neuen Virus handelt es sich um eine gemeingefährliche oder übertragbare Krankheit im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG.

Ja, in der Tat!

Eine Krankheit ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Gemeingefährlich sind verbreitet auftretende Krankheiten, die zu schweren Gesundheitsschäden oder gar zum Tod führen können. Übertragbar sind Krankheiten, bei denen die ursächlichen Krankheitserreger „direkt oder mittelbar“ weitergegeben werden. Dies ist insbesondere bei allen Infektionskrankheiten der Fall. Die Krankheit muss nur gemeingefährlich oder übertragbar sein. Virusinfektionen rufen Infektionskrankheiten hervor. Dabei wird der Krankheitserreger weitergegeben. Eine übertragbare Krankheit liegt daher vor. Über die Erheblichkeit der Bedrohung für eine Vielzahl von Menschen und Tieren ist (bei strenger Sachverhaltsauslegung) hingegen nichts bekannt, weshalb nach derzeitigem Kenntnisstand keine gemeingefährliche Krankheit vorliegt.

5. Die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht ist eine Maßnahme im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG.

Ja!

Der Begriff der Maßnahme erstreckt sich auch auf vorbeugende Handlungen. Ansonsten wäre eine eine effektive Bekämpfung des Infektionsgeschehens oftmals nicht möglich (Telos). Schutzimpfungen sind vorbeugende Handlungen, die den Ausbruch und/oder die Verbreitung einer bestimmten Krankheit eindämmen können. Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG enthält Ausnahmen von der grundsätzlichen Länderzuständigkeit für das Gesundheitswesen (Art. 30 GG; Art. 70 Abs. 1 Hs. 1 GG).

6. Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch gemacht.

Genau, so ist das!

Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch gemacht, wenn der Bund (1) eine bestimmte Frage ausdrücklich durch Bundesgesetz geregelt hat, (2) absichtsvoll auf eine Normierung verzichtet („beredtes Schweigen“) oder (3) eine bestimmte Materie insgesamt abschließend regeln wollte. Der Bund will ausdrücklich keine Maßnahmen ergreifen, um die Wirtschaft nicht zu gefährden. Damit hat er absichtsvoll auf eine Regelung verzichtet. Durch dieses Unterlassen („beredtes Schweigen“) macht der Bund auch von seiner Gesetzgebungskompetenz im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch.

7. Das VBG muss für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich sein (Art. 72 Abs. 2 GG).

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 72 Abs. 2 GG gilt allein für den Bund. Hier handelt aber das Land L. Zudem wird der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG in Art. 72 Abs. 2 GG nicht aufgezählt.

8. Die Länder dürfen von den bundesgesetzlichen Regelungen auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG abweichen (Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG).

Nein!

In einigen abschließend aufgezählten Bereichen (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-7 GG) können die Länder abweichende Regelungen treffen, obwohl es bereits ein Bundesgesetz gibt. Insoweit bewirkt das Bundesgesetz also keine Sperrwirkung im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG. Die Länder haben insoweit also eine Abweichungskompetenz. Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren werden in Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-7 GG nicht genannt.

9. L hat die Gesetzgebungskompetenz für das VBG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das VBG fällt unter den Kompetenztitel des Bundes für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG). Somit ist eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 72 Abs. 1 GG) gegeben. Der Bund hat auf eine Regelung absichtlich verzichtet und somit von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. L ist daher von der Gesetzgebung ausgeschlossen (Art. 72 Abs. 1 GG). L hat nicht die Gesetzgebungskompetenz für das VBG. Das VBG ist daher wegen des Verstoßes gegen Art. 72 Abs. 1 GG formell verfassungswidrig. Ein wegen Art. 72 Abs. 1 GG ursprünglich kompetenzwidriges Landesgesetz lebt nach dem Wegfall der Sperrwirkung nicht wieder auf. Es müsste dann erneut erlassen werden.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Larissa3

Larissa3

19.1.2023, 15:06:02

Der Kompetenztitel ist hier aber doch, wie ihr vorher auch erwähnt habt, Art. 74 I Nr. 19 und nicht Nr. 1 oder? Da ist euch in der letzten Erläuterung wohl ein kleiner Fehler unterlaufen.

Paul König

Paul König

20.1.2023, 13:14:14

Hey @[Larissa3](185700), da hast Du natürlich recht! Den Dreher haben wir korrigiert - danke fürs aufmerksame Lesen und den Hinweis! Beste Grüße - Paul (für das Jurafuchs-Team)

DIAA

Diaa

5.10.2023, 08:54:24

Wann ergibt sich dann die Kompetenz für die Länder aus Art. 72 I iVm Art. 74 I GG?

Paul König

Paul König

5.10.2023, 09:19:09

Hey @[Diaa](211889), nach Art. 72 Abs. 1 GG besteht eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz der Länder solange und soweit ein Kompetenztitel der konkurrierenden Gesetzgebung einschlägig ist, aber der Bund von seiner Kompetenz nichtdurch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Auch dann kannst du mE zusätzlich noch Art. 30, 70 Abs. 1 GG mitzitieren. Klärt das Deine Frage? Beste Grüße - Paul (für das Jurafuchs-Team) @[Lukas_Mengestu](136780) @[

Nora Mommsen

](178057)

TUBAT

TubaTheo

3.1.2024, 00:03:49

Wie steht es um den Fall, in dem der Bund beschließt, absichtlich nichts zu regeln, nachdem schon ein Landesgesetz existiert? Wird dieses dann aufgehoben und es existiert dann keine gesetzliche Regelung mehr?

0815jurafuchs

0815jurafuchs

17.9.2024, 15:07:01

Hallo, gem. Art. 72 I GG besteht die Gesetzgebungskompetenz der Länder nur so lange, wie der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat. In dem Moment, in dem der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat (ggf. auch mit der Entscheidung, die Materie unreguliert zu lassen), tritt m. E. die Sperrwirkung ein und das Landesgesetz wird ungültig. Es ist dann nicht mehr anzuwenden.

Pilea

Pilea

16.2.2024, 13:04:49

Wird in der Praxis das bered'te Schweigen vom Bund irgendwie dokumentiert? Ansonsten würde doch erhebliche Rechtsunsicherheit bezüglich der Gesetzgebungskompetenz entstehen.


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
© Jurafuchs 2024