Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2020

Haftung für Verletzung eines fremden Kindes während eines Besuchs

Haftung für Verletzung eines fremden Kindes während eines Besuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V lässt seinen fünfjährigen Sohn S im eingefriedeten Garten der Nachbarin N spielen. N erklärt V, auf S aufzupassen. Im Garten steht ein kindgerechtes Spielhaus. Weil dessen Tür plötzlich klemmt, steigt S aus dem Fenster und bricht sich den Arm. N sitzt in der Küche und bemerkt nichts.

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Einordnung des Falls

Haftung für Verletzung eines fremden Kindes während eines Besuchs

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S verlangt von N Schadensersatz und Schmerzensgeld. Vorrangig zu prüfen sind vertragliche Ansprüche.

Ja, in der Tat!

In derartigen Fallkonstellationen sollte man nicht den Fehler machen, vorschnell in die Prüfung deliktischer Ansprüche einzusteigen. Selbst wenn solche tatsächlich bestehen, sind für den Geschädigten vertragliche Ansprüche in der Regel günstiger, denn das vertragliche Haftungsrecht hat gegenüber dem Deliktsrecht diverse Vorteile: Erstens schützt § 280 Abs. 1 BGB das gesamte Vermögen des Geschädigten und nicht – wie etwa § 823 Abs. 1 BGB – nur bestimmte Rechtsgüter. Zweitens bewirkt § 280 Abs. 1 S. 2 BGB eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens. Und drittens besteht über § 278 BGB die Möglichkeit der Zurechnung von Fremdverschulden.
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2. N hat mit S, vertreten von V, einen Vertrag über die Beaufsichtigung des S geschlossen. Da N ihre Aufsichtspflicht verletzt hat, kann S gemäß § 280 Abs. 1 BGB Schadensersatz verlangen.

Nein!

Ein Vertrag kommt durch zwei korrespondierende, inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen zustande. Eine Willenserklärung erfordert unter anderem den Rechtsbindungswillen des Erklärenden. OLG: Die Gestattung eines Kinderbesuches lasse für sich noch keinen Schluss auf den Willen zu einer vertraglichen Bindung zu; Gefälligkeiten unter Nachbarn bewegten sich regelmäßig vielmehr außerhalb des rechtsgeschäftlichen Bereichs. Auch vorliegend sei die Beaufsichtigung des S lediglich eine alltägliche Gefälligkeit der N, der sich kein Rechtsbindungswille entnehmen lasse (RdNr. 21).

3. N hat aber mit V einen Vertrag über die Beaufsichtigung des S geschlossen, der Schutzwirkung zugunsten des S entfaltet.

Nein, das ist nicht der Fall!

Vorliegend sind verschiedene Vertragskonstellationen denkbar: N könnte sich nicht nur gegenüber S (vertreten von V), sondern auch gegenüber V zur Beaufsichtigung des S verpflichten. In letzterem Fall könnte auch S selbst den Anspruch auf Beaufsichtigung erwerben (Vertrag zugunsten Dritter) oder zumindest – ohne eigene Leistungsansprüche – in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen sein (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter). Denkbar ist auch ein sog. rechtsgeschäftsähnliches Gefälligkeitsverhältnis, das nur Rücksichtnahmepflichten nach § 241 Abs. 2 BGB auslöst. All dies ist aber letztlich egal, weil jedweder Vertragsschluss am fehlenden Rechtsbindungswillen der N scheitert.

4. Ein Schadensersatzanspruch des S ergibt sich jedoch aus § 832 Abs. 1 S.1, Abs. 2 BGB.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB ist, wer die Aufsicht über einen Minderjährigen vertraglich übernommen hat, für den Schaden verantwortlich, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Mangels Rechtsbindungswillen hat N schon nicht die Aufsicht über S vertraglich übernommen. Hinzu kommt, dass § 832 BGB nicht für Schäden gilt, die der zu beaufsichtigende Minderjährige selbst erleidet.

5. Nunmehr kommt ein Anspruch des S aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht. Dafür müsste N eine Verkehrssicherungspflicht verletzt haben.

Ja!

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB sind: (1) Rechtsgutverletzung; (2) Verletzungshandlung; (3) „haftungsbegründende“ Kausalität (zwischen Verletzungshandlung und -erfolg); (4) Rechtswidrigkeit; (5) Verschulden; (6) Schaden; (7) „haftungsausfüllende“ Kausalität (zwischen Verletzungserfolg und Schaden). Als Verletzungshandlung kommt hier das Unterlassen ausreichender Sicherungs- bzw. Beaufsichtigungsmaßnahmen in Betracht. Ein solches Unterlassen ist nur dann eine tatbestandliche Verletzungshandlung, wenn auch eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht bestand und diese verletzt ist (Sprau, in: Palandt, 80.A. 2021, § 823 Rn. 26).

6. Gegenüber Kindern gelten besonders strenge Verkehrssicherungspflichten.

Genau, so ist das!

OLG: Bei Kindern sei in besonderem Maße deren Unerfahrenheit, Leichtsinnigkeit und Spieltrieb zu berücksichtigen; auf ein „erwachsenengleiches“, vernünftiges Handeln von Kindern könne man deshalb nicht vertrauen. Deshalb habe der Verkehrssicherungspflichtige seine Sicherungsmaßnahmen zu intensivieren, soweit zu erkennen sei, dass eine Gefahrenquelle auf Kinder besonders anziehend wirke oder sonst gesteigerte Risiken für sie begründe. Die Grenze dieser gesteigerten Sicherungsanforderungen liege dort, wo Schutzmaßnahmen die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern hemmen und sie daran hindern würden, den Umgang mit alltäglichen Gefahren zu lernen (RdNr. 25).

7. N hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil sie im Garten das Spielhaus mit klemmender Tür aufgestellt hat.

Nein, das trifft nicht zu!

OLG: Grundsätzlich müsse, wer eine Gefahrenlage schafft, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um Schädigungen zu verhindern. Man könne aber nicht jeder abstrakten Gefahr begegnen; ausreichend seien Maßnahmen, die ein gewissenhafter Unterhalter von Anlagen für ausreichend halten dürfe (RdNr. 24). Dabei seien die gesteigerten Sicherungsanforderungen gegenüber Kindern zu beachten (RdNr. 25). OLG: Das Spielhaus sei grundsätzlich in kindgerechter Weise konzipiert. N habe deshalb davon ausgehen dürfen, dass davon auch für Kinder keine gesteigerten Gefahren ausgingen (RdNr. 26). Etwas anderes könne nur gelten, wenn N von vornherein gewusst hätte, dass die Tür des Hauses klemmt. Dafür sei vorliegend aber nichts ersichtlich (RdNr. 27).

8. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der N ist aber darin zu sehen, dass sie S während des Unfalls nicht im Blick hatte.

Nein!

OLG: Da das Spielhaus für Kinder konzipiert war, habe N von einem Gefährdungsgrad ausgehen dürfen, der ein fünfjähriges Kind nicht überfordere. Ohne Kenntnis von der defekten Tür habe sie deshalb keinen Anlass dazu gehabt, S während des Spielens ständig zu beobachten (RdNr. 26). Auch insoweit sei es N nur dann vorzuwerfen, dass sie sich in die Küche begeben habe, wenn sie den Defekt der Tür bereits gekannt hätte.

9. S kann von N Schadensersatz verlangen.

Nein, das ist nicht der Fall!

N hat keine Verkehrssicherungspflicht verletzt. Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet deshalb mangels Verletzungshandlung aus. Entsprechendes gilt für einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB. Dieser Fall lässt sich hervorragend in beiden Staatsexamina abprüfen. Da er keine exotischen rechtlichen Probleme enthält, ist es essenziell wichtig, sauber mit den „Basics“ zu arbeiten und die Schwerpunkte – Rechtsbindungswille und Inhalt der Verkehrssicherungspflicht – zu vertiefen: Es gilt, alle verfügbaren Sachverhaltsinformationen auszuwerten und anhand dieser sorgfältig herauszuarbeiten, warum in diesem konkreten Fall N nicht haftet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JO

Johannes

27.4.2024, 16:01:12

Wenn man hier die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht durch die mangelnde Beaufsichtigung bejaht, würde der Anspruch trotzdem an der haftungsbegründenden Kausalität scheitern, richtig? Denn die Verletzung des S hätte die N ja auch dann nicht verhindern können, wenn sie ihn beaufsichtigt hätte.

LELEE

Leo Lee

28.4.2024, 06:11:17

Hallo Johannes, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man hier auch deine Ansicht vertreten, die ebenfalls sehr gut vertretbar ist mit entsprechender – von dir genannten – Begründung. Beachte nur, dass du dann klarstellst, dass die VSP immer noch verletzt wurde und die Verletzung auch i.S.d. CSQN (mit) kausal geworden ist. Einen Ausweg könnte jedoch über das Institut des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu erreichen sein. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Wagner § 823 Rn. 103 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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