Zivilrecht
Sonstige vertragliche Schuldverhältnisse
Bürgschaft, §§ 765ff. BGB
Rechtsscheinshaftung 172 Abs. 2 BGB analog (anredewidrig ausgefülltes Blankett)
Rechtsscheinshaftung 172 Abs. 2 BGB analog (anredewidrig ausgefülltes Blankett)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
S möchte ein Boot kaufen, braucht aber einen Kredit. Um diesen aufzunehmen, übergibt Bruder B der S eine unterschriebene Bürgschaftsurkunde. Die Höhe ist nicht eingetragen. B ermächtigt S mündlich, diese bis zur Höhe von €10.000 einzutragen. S trägt €50.000 in die Urkunde ein und übergibt sie dem Gläubiger G.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Rechtsscheinshaftung 172 Abs. 2 BGB analog (anredewidrig ausgefülltes Blankett)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Für die Ausfüllungsermächtigung finden die Vorschriften über die Stellvertretung entsprechende Anwendung.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Ausfüllungsermächtigung bedarf der Schriftform.
Genau, so ist das!
3. In Betracht kommt eine Rechtsscheinshaftung (§ 172 Abs. 2 BGB analog).
Ja, in der Tat!
4. Grenze der analogen Anwendung von § 172 Abs. 2 BGB ist die Kenntnis des Vertragspartners.
Ja!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
kokapidis
15.8.2023, 10:54:39
Das verstehe ich nicht. Also der einzige Unterschied von dem vorherigen Fall und diesem ist doch, dass die Schwester nicht iRd erteilten Vertretungsmacht handelt. Im vorherigen Fall scheitert die Stellvertretung und damit die Bürgschaft wegen eines Formmangels, aber hier soll eine Rechtsscheinhaftung trotz Formmangel greifen? Übersehe ich etwas oder macht das keinen Sinn?
kokapidis
15.8.2023, 11:01:10
Also S würde iE durch den Umstand privilegiert, dass sie sich nicht redlich im Verhältnis zu ihrem Bruder verhalten hat.
David.
16.8.2023, 14:28:37
Zu differenzieren ist dabei zwischen offenen und verdeckten
Blankobürgschaften. „Die offene Blankettlage ist dadurch gekennzeichnet, dass der Gläubiger als Empfänger der Bürgenerklärung erkennt, dass die Bürgenerklärung nicht in Gänze vom Bürgen stammt, sondern durch einen Dritten vervollständigt worden ist. In der verdeckten Blankettlage stellt sich die Bürgenerklärung als in Gänze vom Bürgen stammend dar. Der Leitsatz des BGH dazu lautet: "Gibt der Bürge eine
Blankounterschriftohne formgerechte Vollmacht oder Ermächtigung aus der Hand, haftet er gegenüber dem Gläubiger, der eine vollständige Urkunde erhält und ihr nicht ansehen kann, dass sie durch einen anderen ergänzt wurde." Im Fall davor entsteht damit zwar keine formgerechte Ermächtigung, wenn die
Blankobürgschaftdem Dritten jedoch ausgehändigt werden würde, dann hat der Bürge durch sein Verhalten zurechenbar einen Rechtsschein gesetzt, auf den sich der redliche Geschäftspartner verlassen und kraft dessen er den Unterzeichnenden auch in Anspruch nehmen kann —> dann würde also auch § 172 II analog zur Anwendung kommen. Wenn aber die Bürgschaft im Beisein des Gläubigers von einem Dritten ausgefüllt werden würde, dann läge eine offene Blankettlage vor, sodass die Bürgschaft nach § 177 Abs. 1 BGB
schwebend unwirksamwäre und erst mit der Genehmigung durch den Bürgen Wirksamkeit erlangen würde, denn hier wäre kein Rechtsschein gesetzt worden, auf den sich der Gläubiger berufen könnte.
kokapidis
16.8.2023, 15:40:04
Vielen Dank für die ausführliche Antwort und Erklärung. Der entscheidene Unterschied der beiden Fälle liegt also darin, dass die S im ersten Fall noch nicht dem Gläubiger überreicht hat, aber im zweiten Fall schon. Habe ich das richtig verstanden? Wenn also der erste Fall weiter gedacht wird und S die Bürgschaftserklärung ebenfalls ihrem Gläubiger übergeben hätte, käme es ebenfalls zur Rechtsscheinhaftung. Die Tatsache, dass Sie im ersten Fall iRd Vertretungsmacht handelt und im zweiten Fall nicht, ist also irrelevant. Richtig?
David.
16.8.2023, 21:03:30
Sehr gerne! Ja genau, das ist korrekt :)
Daniel
2.3.2024, 22:59:57
Liebes Jurafuchs-Team, eine Frage hierzu. In Frage 2 steht im Maßstab, in Ausnahmefällen könne eine teleologische Reduktion erforderlich sein und dass die Schutzfunktion des Formerfordernisses (§ 766 S. 1 BGB) eine Solche erfordere. Nun frage ich mich, wieso dies ausgerechnet bei der Bürgschaft der Fall sein soll, denn aufgrund der Schutzfunktion könnte man § 167 Abs. 2 BGB dann doch auch in allen anderen Fällen, in denen das
Grundgeschäfteine bestimmte Form erfordert, teleologisch reduzieren? Liebe Grüße, Daniel
Leo Lee
4.3.2024, 10:37:33
Hallo Daniel, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat ist nicht nur bei der Bürgschaft eine tel. Reduktion von Nöten. Insofern liegst du mit deinem Gefühl völlig richtig. Eine solche Reduktion ist vielmehr dann erforderlich, wenn die Formvorschrift des Vertretergeschäfts eine Warnfunktion haben sollen (also nochmal dem Vertragsschließenden vor Augen führen soll, dass er ein „ernstes“ Geschäft abschließt – wie die Bürgschaft). Während die lit. eine Auslegung des Sinn und Zwecks fordert, hat die Rspr. (da praxisbezogen) Fallgruppen rausgebildet, wie etwa wenn der Vertretene bereits mit Vollmacht gebunden ist, als sei das formbedürftige Geschäft bereits zustandegekommen. Weiter Fallgruppen sind zudem: 311b I (hier auch Warnfunktion Hauptzweck der Formvorschrift), 518 I und 492 IV. I.Ü. kann ich hierzu eine Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Schubert § 167 Rn. 25 ff. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo