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„Elfes“-Urteil: Ausreisefreiheit und die Reichweite der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) - Jurafuchs

„Elfes“-Urteil: Ausreisefreiheit und die Reichweite der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) - Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Elfes-Urteil: Darf der Staat Elfes die Ausreise versagen? Verletzt dies die allgemeine Handlungsfreiheit?

Politiker Wilhelm Elfes (E) will ausreisen, um im Ausland gegen deutsche Außenpolitik zu agitieren. Die zuständige Behörde verweigert E die Verlängerung seines Reisepasses, weil E durch sein geplantes Verhalten erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährde (§ 7 Abs. 1 PassG). Den Rechtsweg beschreitet E ohne Erfolg.

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Einordnung des Falls

Das Elfes-Urteil - benannt nach dem Beschwerdeführer, Wilhelm Elfes - ist eine frühe Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sie befasst sich vordergründig mit der Frage, ob das Grundgesetz die Freiheit schützt, die Bundesrepublik zu verlassen (Ausreisefreiheit). Nach Ansicht des BVerfG ist die Ausreisefreiheit nicht Bestandteil des Grundrechts auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), sondern Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). In der Elfes-Entscheidung konturiert das BVerfG den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit: Sie schützt nicht nur einen Kern der Persönlichkeitsentfaltung, sondern die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne. Gegenüber anderen speziellen Grundrechten ist Art. 2 Abs. 1 GG ein subsidiäres Auffanggrundrecht. Mit der Weite des Schutzbereichs korrespondiert ein weites Verständnis seiner Schranke: Der Schrankenvorbehalt der „verfassungsmäßigen Ordnung“ (Art. 2 Abs. 1 GG) umfasst die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsgemäß sind. Eine weitere wichtige Weichenstellung des Falles ist prozessualer Natur: Das BVerfG hält fest, dass jedermann mithilfe der Verfassungsbeschwerde einen Verstoß gegen seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) durch eine verfassungswidrige Norm rügen kann. Dadurch wertet das Bundesverfassungsgericht die prozessuale Durchsetzung von Grundrechtsverletzungen deutlich auf.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E erhebt Urteilsverfassungsbeschwerde. Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig?

Ja!

Das BVerfG ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig. Die Ablehnung der Verlängerung des Reisepasses stellt einen Verwaltungsakt dar, der als Akt der öffentlichen Gewalt zu qualifizieren (§ 90 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) ist. Ebenfalls Akte öffentlicher Gewalt sind die abweisenden Gerichtsentscheidungen. Darüber hinaus ist E auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Auch ist der Rechtsweg erschöpft, denn die letzte ablehnende Entscheidung erging durch das letztinstanzliche Revisionsgericht, das BVerwG. Das Elfes-Urteil aus dem Jahr 1957 enthält wichtige Aussagen zu Art. 11 GG und konturiert wesentlich die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), weshalb es verfassungsrechtliches Grundwissen darstellt.
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2. Kann E die Ausreisefreiheit auf das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) stützen, sodass hier der Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 GG eröffnet ist?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das BVerfG beschäftigte sich im Elfes-Urteil mit der Frage, ob die Ausreisefreiheit vom Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) umfasst ist. Dies sei nach Ansicht des BVerfG - entgegen Teilen der damaligen Literatur - nicht so. Dagegen spreche bereits der Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 GG, der die Freizügigkeit „im ganzen Bundesgebiet“ gewährleistet. Auf sein Grundrecht auf Freizügigkeit kann E die Ausreisefreiheit nicht stützen. Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist nicht eröffnet. Als weiteren Grund dagegen führt das BVerfG die Entstehungsgeschichte von Art. 11 Abs. 2 GG an. Bei der Formulierung der Tatbestände zur Einschränkung der Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 2 GG habe der Grundgesetzgeber erkennbar an Beschränkungen der innerstaatlichen Freizügigkeit gedacht (RdNr. 11).

3. E beruft sich für die Ausreisefreiheit auf seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Schützt die allgemeine Handlungsfreiheit nur den Kernbereich der Persönlichkeit?

Nein, das trifft nicht zu!

Die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt nicht nur die Entfaltung innerhalb des Kernbereichs der Persönlichkeit (sog. Persönlichkeitskerntheorie). Vielmehr schützt Art. 2 Abs. 1 GG die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne (RdNr. 14). Dafür spricht zum einen die Entstehungsgeschichte: Die ursprüngliche Fassung von Art. 2 Abs. 1 GG („Jeder kann tun und lassen, was er will“) wies der Parlamentarische Rat lediglich aus sprachlichen, nicht aus inhaltlichen Gründen zurück (RdNr. 15). Dafür spricht auch die Systematik: Das menschliche Verhalten im Kernbereich der Persönlichkeit könnte kaum mit den Schranken in Art. 2 Abs. 1 GG in Konflikt geraten (RdNr. 14). Damit weist das BVerfG die sog. Persönlichkeitskerntheorie zugunsten eines lückenlosen Grundrechtsschutzes zurück.

4. Ist die allgemeine Handlungsfreiheit gegenüber spezielleren Grundrechten gleichrangig?

Nein!

Im Elfes-Urteil stellte das BVerfG fest, dass sich der Einzelne nur dann auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen kann, „[s]oweit nicht solche besonderen Lebensbereiche grundrechtlich geschützt sind“ (RdNr. 16). Damit beschreibt das BVerfG die Subsidiarität der allgemeinen Handlungsfreiheit gegenüber spezielleren Grundrechten. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist damit Auffanggrundrecht gegenüber den spezielleren Grundrechten. Deshalb musst Du in der Klausur immer zunächst prüfen, ob der Schutzbereich spezieller Grundrechte eröffnet ist. Kommst Du – wie hier – zu dem Ergebnis, dass deren Schutzbereich nicht eröffnet ist, kannst Du auf die allgemeine Handlungsfreiheit zurückgreifen.

5. Fällt die Ausreisefreiheit in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)?

Genau, so ist das!

Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG schützt die menschliche Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne. Die Ausreisefreiheit wird nicht durch speziellere Grundrechte – insbesondere die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) – geschützt. Die Ausreise und die dafür notwendige Verlängerung des Reisepasses stellt eine Betätigung der menschlichen Handlungsfreiheit dar. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet.

6. Stellt die Versagung der Verlängerung des Reisepasses einen Eingriff in Es allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) dar?

Ja, in der Tat!

Ein Eingriff ist jedes staatliche Ge- oder Verbot, das die Ausübung grundrechtlicher Gewährleistungen verkürzt. Die Versagung des Reisepasses verhindert Es begehrte Ausreise und verkürzt daher seine grundrechtliche Freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG.

7. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit müsste auch gerechtfertigt sein. Wird das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) schrankenlos gewährleistet?

Nein!

Art. 2 Abs. 1 GG unterwirft die allgemeine Handlungsfreiheit einem Schrankenvorbehalt: Das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG wird beschränkt durch die „Rechte anderer“, „die verfassungsmäßige Ordnung“ sowie „das Sittengesetz“ (sog. Schrankentrias). Die Reichweite dieser Schrankenregelungen war zur Zeit des Elfes-Urteils umstritten.

8. Umfasst die Schrankenregelung der „verfassungsmäßigen Ordnung“ (Art. 2 Abs. 1 GG) die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsgemäß sind?

Genau, so ist das!

Im Elfes-Urteil konkretisiert das BVerfG die Anforderungen an die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Art. 2 Abs. 1 GG: Sie erfasst die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsgemäß sind. Daraus folgt ein weites Verständnis des Schrankenvorbehalts. Der Schrankenvorbehalt ist dabei als einfacher Gesetzesvorbehalt ausgestaltet. Für dieses weite Verständnis spricht auch die Entstehungsgeschichte von Art. 2 Abs. 1 GG: So enthielt der Herrenchiemsee-Entwurf die Formulierung „innerhalb der Schranken der Rechtsordnung“ (RdNr. 19ff.).

9. Droht der Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. 1 GG durch dieses sehr weite Verständnis der Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ leerzulaufen?

Nein!

Diesen Einwand erhoben Teile der Literatur. Dem entgegnet das BVerfG, dass über die formellen Anforderungen des eingreifenden Gesetzes hinaus materielle Anforderungen erfüllt werden müssen. Namentlich darf das die allgemeine Handlungsfreiheit beschränkende Gesetz das Rechts- und Sozialstaatsprinzip sowie die verfassungsrechtlich unantastbare „Sphäre privater Lebensgestaltung“ (RdNr. 28) nicht verletzen. Das BVerfG zählte damit solche Regelungen auf, die wir heute als Schranken-Schranke bezeichnen würden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als wichtigste Schranken-Schranke war zu dieser Zeit dogmatisch erst in Ansätzen vorhanden und wurde deshalb nicht aufgezählt.

10. Prüft das BVerfG im Rahmen der Verfassungsbeschwerde auch vollumfänglich, ob die Voraussetzungen für die Passversagung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG vorgelegen haben?

Genau, so ist das!

Die verfassungsmäßige Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG umfasst die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungskonform sind. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist der Pass zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Die Norm ist formell verfassungsgemäß, der Gesetzgeber hatte die Gesetzgebungskompetenz und hielt die Verfahrens- und Formerfordernisse ein. In materieller Hinsicht wurden Zweifel an der Bestimmtheit der Norm geäußert, weil sie die Passversagung auch bei Gefährdung „sonstige[r] erhebliche[r] Belange der Bundesrepublik“ zulässt. Durch die vorangestellten Belange der inneren und äußeren Sicherheit sei die Norm aber hinreichend konkretisiert (RdNr. 32). Hierin liegt die wohl größte Konsequenz der Entscheidung: „Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen [Verfassungsrecht] verstoße“ (RdNr. 29). Wer Verfassungsbeschwerde erhebt, macht daher nicht nur die subjektive Verletzung seiner Grundrechte geltend, sondern bezieht mittelbar die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in die Prüfung ein. Dadurch können auch kompetenz- und verfahrensrechtliche Aspekte (formelle Verfassungsmäßigkeit) geprüft werden.

11. Das BVerfG prüft im Rahmen der Verfassungsbeschwerde auch vollumfänglich, ob die Voraussetzungen für die Passversagung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG vorgelegen haben.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Es überprüft instanzgerichtliche Entscheidungen nicht darauf, ob sie insgesamt materiell rechtmäßig sind. Das BVerfG überprüft nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die Gerichte. BVerfG: Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts sei nicht erkennbar. Insbesondere hätten die Gerichte die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte nicht verkannt. Auch rechtfertigen Tatsachen die Annahme, der Beschwerdeführer werde sich als Inhaber eines Reisepasses durch seine politischen Äußerungen im Ausland so verhalten, dass er erhebliche Belange der Bundesrepublik gefährde (RdNr. 34). Elfes' Verfassungsbeschwerde war damit zwar zulässig, aber unbegründet. Mach in Deiner verfassungsrechtlichen Klausur nicht den Fehler, diesen Prüfungsmaßstab des BVerfG zu überdehnen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

alra_bln

alra_bln

23.3.2023, 23:08:02

Wie verhält es sich denn, wenn es eben keine begründete Annahme gibt, dass die Person „sonstige erhebliche Belange“ gefährdet und die Urteile vorher „falsch“ waren oder zumindest die Begründung sehr zweifelhaft ist. Ich habe schon verstanden, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist, aber das scheint dann schon ein erheblicher Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu sein?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.3.2023, 10:23:24

Hallo alra_bln, wie Du schon richtig feststellst, ist das BVerfG keine Superrevisionsinstanz. Der Kläger, der Urteilsverfassungsbeschwerde erhebt, kann sich also nicht darauf beschränken, seinen Vortrag, den er bei den Fachgerichten angebracht hat, noch einmal zu wiederholen. Allein der Vortrag: "Das BVerwG hat aber § 7 PassG falsch angewendet" würde zu kurz greifen. Es genügt eben gerade nicht, dass die Entscheidung nach einfachem Recht falsch ist. Vielmehr muss der Beschwerdeführer darlegen, dass er hierdurch spezifisch in seinen Grundrechten verletzt wurde, hier also in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit ("Steht somit fest, daß die Bestimmung, auf die die Paßbehörde und die Verwaltungsgerichte ihre Entscheidungen gestützt haben, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, so wäre doch möglich, daß sie bei der Anwendung dieser Bestimmung Verfassungsrecht verletzt hätten. Das Bundesverfassungsgericht hat des öfteren ausgesprochen, daß es auf Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen diese nicht in vollem Umfang nachprüft, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist.") Im Rahmen der Prüfung der Anwendung der Vorschrift müsste dann also geprüft werden, ob die Gerichte das Verfassungsrecht verkannt haben, zB bei der Auslegung von bestimmten unbestimmten Rechtsbegriffen (zB "sonstige erhebliche Belange"). Dies ist dann letztlich eine Frage des Einzelfalls und war bei Elfes im Ergebnis nicht zu beanstanden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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