Äußerungsbefugnis kommunaler Amtsträger

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

München eröffnet ein NS-Dokumentationszentrum. B kritisiert dieses unter Hinweis auf ein Buch des Wissenschaftlers W in einem Brief an Oberbürgermeister O. O antwortet B, dass viele Fachleute die Thesen des W als falsch ablehnen würden. Darüber informiert der B den W.

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Einordnung des Falls

Äußerungsbefugnis kommunaler Amtsträger

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. W ist durch die Äußerung des O in grundrechtlich geschützten Positionen betroffen.

Ja, in der Tat!

In Betracht kommt das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses schützt neben der Ehre weitere Aspekte des sozialen Geltungsanspruchs. Der Staat darf nicht ohne rechtfertigenden Grund Äußerungen tätigen, die geeignet sind, sich negativ auf das Ansehen des Einzelnen in der Öffentlichkeit auszuwirken.Als Wissenschaftler ist W auch von der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) geschützt. Im Rahmen seines Persönlichkeitsrechts kann er daher „Schutz vor hoheitlichen Äußerungen beanspruchen, die ihn in seiner wissenschaftlichen Reputation bzw. seinem beruflich-sozialen Ansehen beeinträchtigen“ (RdNr. 20).
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2. Oberbürgermeister O kann sich ebenfalls auf Grundrechte berufen.

Nein!

Ein öffentlicher Amtsträger ist ausschließlich grundrechtsverpflichtet und nicht grundrechtsberechtigt (Art. 1 Abs. 3 GG). Vorliegend äußerte sich O nicht als Privatperson, sondern erkennbar in amtlicher Funktion als Behördenleiter. Er kann sich nicht auf die Wissenschafts- oder Meinungsfreiheit berufen (RdNr. 22).

3. Ob die Äußerungen des O verfassungsrechtlich zulässig sind, richtet sich danach, ob sie als Schmähkritik einzuordnen sind.

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei Meinungsäußerungen von Grundrechtsträgern, die das Persönlichkeitsrecht eines anderen Grundrechtsträgers berühren, richtet sich die Zulässigkeit der Äußerung danach, ob die Meinungsäußerung die Schwelle zur unzulässigen Schmähkritik überschreitet. Darauf kommt es vorliegend mangels Grundrechtsberechtigung des O nicht an. VGH: „Entscheidungserheblich ist vielmehr, welche Äußerungsbefugnisse einem Amtsträger bei der Erfüllung von kommunalen (Verwaltungs-)Aufgaben zukommen. Dies hängt von den Vorgaben für den Betrieb der gemeindlichen Einrichtung ab, auf die sich die gerügten Äußerungen beziehen“ (RdNr. 22).

4. Ein kommunaler Amtsträger bedarf einer gesonderten Ermächtigungsgrundlage, wenn er seine gemeindliche Einrichtung durch Äußerungen gegenüber Dritten verteidigt.

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß Art. 28 Abs. 2 GG darf die Gemeinde öffentliche Einrichtungen schaffen. Mit der Aufgabenzuweisung aus Art. 28 Abs. 2 GG ist grundsätzlich die Befugnis der Gemeinde verbunden, ihr Konzept durch Äußerungen zu verteidigen, selbst wenn diese zu mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen führen (Grundsätze des staatlichen Informationshandelns). Voraussetzung ist nur, dass sie ein legitimes Ziel verfolgt und die Verhältnismäßigkeit wahrt. Etwas anderes gilt mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes erst, wenn ein klassischer Grundrechtseingriff vorliegt, also der Staat mit seiner Äußerung zielgerichtet zu Lasten Dritter handelt (RdNr. 25).

5. Bei dem NS-Dokumentationszentrum handelt es sich um eine gemeindliche Einrichtung.

Ja!

Art. 28 Abs. 2 GG garantiert die Selbstverwaltung der Gemeinden. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben. So darf die Gemeinde öffentliche Einrichtungen schaffen, die für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl der Gemeindeeinwohner wichtig sind (Organisationshoheit). Dazu zählt die Einrichtung von Museen wie des NS-Dokumentationszentrums. Dieses wird laut Benutzungssatzung als öffentliche Einrichtung betrieben und dient der Volksbildung über Münchens Rolle im Dritten Reich, sodass ein örtlicher Bezug besteht (RdNr. 23).

6. Indem O die Thesen des W als falsch einschätzt, hat er die Schwelle zum klassischen Grundrechtseingriff überschritten. Es bedarf daher einer besonderen Ermächtigungsgrundlage für die Äußerung des O.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein klassischer Grundrechtseingriff ist gegeben, wenn ein Hoheitsträger final durch Rechtsakt unmittelbar in einen grundrechtlichen Freiheitsbereich eingreift. Dies ist hier offenkundig nicht der Fall. Es fehlt bereits am Rechtsakt. Auch für die Finalität des Eingriffs gibt es keine Anhaltspunkte. Dies liegt insbesondere am intern angelegten und auch intern gebliebenen Kommunikationsvorgang. Angesichts dessen ist auch die Eingriffsintensität eher gering. Folglich liegt auch kein die Schwelle zum klassischen Eingriff überschreitendes funktionales Eingriffsäquivalent vor (RdNr. 28).

7. Ist die Äußerungsbefugnis von Amtsträgern eröffnet, dürfen sie sich in diesem Rahmen so äußern, wie wenn sie als Grundrechtsträger die Meinungsfreiheit ausübten.

Nein, das trifft nicht zu!

Amtsträger unterliegen in ihrer Äußerungsbefugnis anderen Rahmenbedingungen als Grundrechtsträger. Grenze amtlicher Äußerungen ist das Sachlichkeitsgebot. Danach dürfen Tatsachen nicht unzutreffend wiedergegeben werden, Werturteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen und die demokratische Willensbildung nicht lenkend beeinflusst werden. Deshalb dürfen Amtsträger die Ebene argumentativer Auseinandersetzung nicht verlassen und Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch diskreditieren, solange diese keine Strafgesetze verletzen (grundlegend BVerwG, Urt. v. 13.09.2017 - 10 C 6.16, RdNr. 26ff.).

8. Für kommunale Amtsträger gilt das allgemeine Sachlichkeitsgebot auch, wenn sie Stellung zur wissenschaftlichen Konzeption ihrer gemeindlichen Einrichtung beziehen.

Ja!

Für amtliche Äußerungen kommunaler Amtsträger gilt das allgemeine Sachlichkeitsgebot. Dies gilt auch in Fällen wissenschaftlichen Dissenses. Hier darf der Staat auch Position beziehen. Zwar darf er keine autoritative Entscheidung über die Richtigkeit der Aussage fällen. Jedoch darf er ein wissenschaftlich begründetes Qualitätsurteil abgeben. Im Hinblick auf das Sachlichkeitsgebot und das rechtsstaatliche Neutralitätsgebot muss er dabei die Grenzen der Ausgewogenheit, Distanz und Sachlichkeit wahren. Folglich gelten die für die Zulässigkeit von staatlichen Äußerungen unter dem Gesichtspunkt des staatlichen Informationshandelns entwickelten Grundsätze auch hier (RdNr. 21).

9. Um festzustellen, ob sich die Äußerungen im Rahmen der gebotenen Sachlichkeit halten, ist der Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen.

Genau, so ist das!

Eine isolierte Betrachtung verbietet sich. Bei der Ermittlung des objektiven Sinngehalts der einzelnen Aussagen sind der Wortlaut, der sprachliche Kontext und die Begleitumstände zu berücksichtigen. Vorliegend ist entscheidend, dass sich O erst auf Anfrage des B geäußert hat und die Antwort den Rahmen der bilateralen Kommunikation zwischen O und B nie verlassen hat (RdNr. 27).

10. Weil O meint, dass viele Fachleute die Thesen des W als falsch ablehnen, hat er die Meinung des W ausgegrenzt und diskreditiert und damit die Grenze des Sachlichkeitsgebots überschritten.

Nein, das trifft nicht zu!

Wesen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ist, dass in einer Sachfrage wissenschaftlicher Dissens sichtbar wird. Bewerten Fachleute einen Ansatz als richtig oder falsch, stellt dies keine Kränkung der am wissenschaftlichen Diskurs beteiligten Personen dar, weil über wissenschaftliche Thesen wissenschaftlich geurteilt werden darf.Es bewegt sich im Rahmen der Sachlichkeit, wenn O den wissenschaftlichen Dissens aufgreift und ihn seiner Einschätzung zugrunde legt. O ging es ersichtlich nicht darum, die Thesen des W öffentlich zu disqualifizieren, sie als unseriös aus dem Diskurs zu entfernen oder W herabzusetzen (RdNr. 28).

11. O nannte in seiner Antwort an B nicht den akademischen Grad und Titel des W. Dies stellt eine Herabwürdigung der Person dar.

Nein!

Es ist lediglich ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln der Höflichkeit. Einen Anspruch auf Richtigstellung kann dies nicht begründen (RdNr. 29).

12. W hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass er durch den Brief in seinen eigenen Rechten verletzt ist, und hat einen Anspruch auf Widerruf der Äußerung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Vorliegend kommt der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch gegen zukünftige Äußerungen sowie ein Folgenbeseitigungsanspruch auf Widerruf in Betracht. Allerdings greifen die Ansprüche nicht durch, weil W durch die Äußerung des O nicht in grundrechtlich geschützten Rechtspositionen verletzt wird und die Äußerung des O deshalb dulden muss (RdNr. 19). O hielt sich im Rahmen seiner kommunalen Äußerungskompetenz. Seine Äußerungen verfolgten ein legitimes Ziel und waren verhältnismäßig (RdNr. 27ff.). Dieser Ansicht folgt auch das BVerfG (Beschl. v. 08.09.2020 – 1 BvR 987/20).
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