+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Arbeitnehmer Anton (A) arbeitet seit 12 Jahren bei der Pünktlich GmbH (P). Diese beschäftigt acht in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer und vier Teilzeitkräfte, die 28 Stunden pro Woche arbeiten. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Am 1.6.2022 verschläft A und kommt erstmalig eine halbe Stunde zu spät. Die für Personalangelegenheiten bevollmächtigte Vorarbeiterin (V) wirft A daraufhin am Montag, 06.06.2022 um 20 Uhr, die ordentliche, schriftliche Kündigung in seinen Briefkasten, die zum 30.11. wirken soll. Am Dienstag, 28.6. hat A einen Termin bei seiner Anwältin und fragt, ob eine Klage gegen die Kündigung begründet wäre.
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Einordnung des Falls
Unbegründete ordentliche, verhaltensbedingte Kündigung (Klausurlösung)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Eine gegen die Kündigung gerichtete Klage ist begründet, wenn die ordentliche Kündigung unwirksam ist (§ 4 S. 1 KSchG).
Ja!
Bei einer Klage der Arbeitnehmerin „gegen eine Kündigung“ prüft das Arbeitsgericht im Rahmen der Begründetheit, ob durch die Kündigung das bestehende Arbeitsverhältnis beendet wurde. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Kündigung wirksam ist. Wirksam ist eine ordentliche Kündigung, wenn sie (1) wirksam erklärt wurde, (2) ihr keine sonstigen Nichtigkeitsgründe entgegenstehen und (3) sie bei Anwendbarkeit des KSchG sozial gerechtfertigt ist.Andere Beendigungsgründe als die angegriffene Kündigung (zB weitere Kündigungen) prüft das Arbeitsgericht nur, wenn dies gesondert beantragt wird (sog. „punktuelle Streitgegenstandstheorie“). Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
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2. Hat V die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wirksam erklärt?
Genau, so ist das!
Zu den allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen jeder Kündigung gehört zunächst eine wirksame Kündigungserklärung. Diese liegt vor, wenn (1) die notwendige Schriftform (§ 623 BGB) gewahrt wurde, (2) die Erklärung durch eine zur Kündigung berechtigte Person erfolgt und (3) die Kündigung der Arbeitnehmerin zugeht.Eine schriftliche Kündigung liegt vor. V hat die Kündigung im Namen der P abgegeben und war hierzu auch bevollmächtigt. Sie hat P damit wirksam vertreten (§ 164 Abs. 1 BGB). Durch den Einwurf in den Briefkasten ist die Kündigung in den Machtbereich des A gelangt. Aufgrund des späten Einwurfs ist zwar erst am Folgetag, also am 7.6., mit einer Kennntnisnahme zu rechnen. Spätestens dann ist die Kündigung aber nach § 130 Abs. 1 BGB zugegangen ist.Sofern sich in der Klausur hier keine Probleme ergeben, kannst Du Dich hier kurz fasssen. Ansprechen musst Du diese Punkte aber auf jeden Fall!
3. A kann sich nur mit Erfolg gegen die Kündigung wehren, wenn die dreiwöchige Ausschlussfrist noch nicht abgelaufen ist (§§ 4 S. 1, 7 KSchG).
Ja, in der Tat!
Es obliegt dem Arbeitnehmer, die Klage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben (§ 4 S. 1 Hs. 2 KSchG). Versäumt er diese Präklusionsfrist, so werden etwaige Mängel der Kündigung - bis auf Mängel der Form, des Zugangs und der Stellvertretung - rückwirkend geheilt (§ 7 KSchG), sodass die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam gilt. Da Mängel der Form, des Zugangs und der Stellvertretung durch die Präklusionsvorschrift nicht geheilt werden, prüfst Du diese im Gegensatz zu anderen Unwirksamkeitsgründen bereits vorab.
4. Da V die Kündigung am 6.6. in As Briefkasten eingeworfen hat, ist am 27.6 bereits die dreiwöchige Ausschlussfrist abgelaufen und die Kündigung gilt als rechtswirksam (§§ 4 S. 1, 7 KSchG) .
Nein!
Bei verkörperten Willenserklärungen liegt Zugang vor, wenn die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass er von ihr Kenntnis nehmen kann und wenn unter normalen Umständen mit der Kenntnisnahme zu rechnen ist (§ 130 Abs. 1 S. 1 BGB).V hat die Kündigung am 6.6. erst um 20 Uhr in As Briefkasten eingeworfen. Damit ist sie zwar in seinen Machtbereich gelangt. Allerdings ist zu dieser Uhrzeit nach der Verkehrssitte nicht mehr damit zu rechnen, dass A den Briefkasten leert und hiervon Kenntnis nimmt. Damit ist die Kündigung erst am 7.6 zugegangen. Nach § 187 Abs. 1 BGB beginnt damit die Präklusionsfrist am 8.6. um 0 Uhr zu laufen und endet nach § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB am 28.6 um 24 Uhr. Zum Zeitpunkt der Beratung ist die Frist noch nicht abgelaufen.
5. Die Kündigung ist unwirksam, weil P es unterlassen hat, den Betriebsrat anzuhören (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG).
Nein, das ist nicht der Fall!
Grundsätzlich besteht die Pflicht zur Anhörung des Betriebsrates (§ 102 BetrVG) vor jeder Kündigung eines Arbeitnehmers. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG). Die Pflicht besteht aber nur, soweit im Betrieb ein Betriebsrat existiert.Ein Betriebsrat existiert nicht im Betrieb der P, sodass eine Anhörung nach § 102 BetrVG entbehrlich ist.Sofern kein Betriebsrat besteht, kannst Du diesen Unwirksamkeitsgrund mit einem Satz ablehnen. Auf den Sonderkündigungsschutz solltest Du nur eingehen, wenn der Sachverhalt hierfür Anhaltspunkte bietet (zB Schwerbehinderte, Schwangere).
6. Hat P die für A geltende Kündigungsfrist gewahrt (§ 622)?
Ja, in der Tat!
Gemäß § 622 Abs. 1 BGB kann mit Frist von vier Wochen zum 15. Tag eines Kalendermonats oder zum Monatsende gekündigt werden. Diese Kündigungsfrist verlängert sich nach § 622 Abs. 2 BGB für eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung je nach Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers.A ist 12 Jahre beschäftigt, d.h. seine Kündigungsfrist beträgt fünf volle Monate zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 Nr. 5 BGB). Nach §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB sind die fünf Monate mit Ablauf des 1.11. verstrichen. Da die Kündigung nur zum Monatsende möglich ist, kann A frühestens zum Ablauf des 30.11. gekündigt werden. Diese Frist hat P eingehalten.
7. A kann sich nur darauf berufen, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 2 KSchG), wenn das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) anwendbar ist.
Ja!
Der Arbeitnehmer kann sich nur dann auf die Einschränkungen berufen, die das KSchG dem Arbeitgeber auferlegt, wenn dessen Anwendungsbereich eröffnet ist. Das KSchG erstreckt sich (1) nur auf eine ordentliche Kündigung (=sachliche Anwendbarkeit), (2) der Arbeitnehmer muss mindestens sechs Monate beschäftigt sein (§ 1 Abs. 1 KSchG) und darf nicht nach § 14 Abs. 1 KSchG ausgenommen sein (=persönliche Anwendbarkeit) und (3) müssen die Schwellenwerte des § 23 Abs. 1 KSchG erreicht sein (=betriebliche Anwendbarkeit).Auf die außerordentliche Kündigung finden nur die Verfahrensvorschriften des KSchG Anwendung (§ 13 KSchG). Findet das KSchG bei ordentlichen Kündigungen keine Anwendung (zB bei Kleinbetrieben), so ist die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers primär durch die Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB) begrenzt.
8. Indem A zur spät zur Arbeit erschienen ist, hat er seine arbeitsvertragliche Pflicht verletzt. Liegt insoweit ein personengebundener Kündigungsgrund vor?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein personenbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der Arbeitnehmer seine geschuldete Arbeitsleistung aufgrund von Umständen, die aus der Sphäre des Arbeitnehmers stammen und an seine Person selbst anknüpfen, nicht mehr vertragsgemäß erbringen kann. Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund knüpft dagegen an das Verhalten des Arbeitnehmers und dessen Pflichtverletzung an.Anknüpfungspunkt für den Ausspruch der Kündigung war der Umstand, dass A zu spät zur Arbeit erschien. Sie reagiert insofern auf ein von A beherrschbares Verhalten und eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung. Dabei handelt es sich aber um Umstände, die einen verhaltensbedingten und keinen personenbedingten Kündigungsgrund darstellen.Die Abgrenzung wird insbesondere bei der Frage relevant, welche alternativen Möglichkeiten dem Arbeitgeber neben dem Ausspruch einer Kündigung zur Verfügung stehen.
9. Legt As Verhalten nahe, dass er auch in Zukunft nicht pünktlich zur Arbeit erscheinen wird?
Nein, das trifft nicht zu!
Die verhaltensbedingte Kündigung soll keine Sanktionsmaßnahme sein. Es geht nicht darum, den Arbeitnehmer für vergangenes Verhalten zu bestrafen, sondern künftige Vertragsverletzungen zum Schutz des Arbeitgebers auszuschließen. Dies setzt voraus, dass (1) mit weiteren Vertragsverletzungen zu rechnen ist (Wiederholungsgefahr) oder (2) die eingetretene Störung so schwerwiegend ist, dass eine vertrauensvolle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich erscheint.A hat während seiner 12-jährigen Beschäftigungszeit das erste Mal verschlafen. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass sich dies in nächster Zeit noch einmal wiederholen wird.Das Prognose- und ultima ratio-Prinzip sowie die Interessenabwägung sind Schranken der Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers, die durch Richterrecht entwickelt wurden.
10. War vorliegend eine Abmahnung ausnahmsweise entbehrlich?
Nein!
Entbehrlich ist eine Abmahnung, wenn aufgrund objektiver Umstände die an sich mögliche Verhaltensänderung in der Zukunft nicht zu erwarten ist. Dies ist insbesondere bei schweren Vertragsverletzungen der Fall, bei denen der Arbeitnehmer auch ohne Abmahnung ohne Weiteres erkennen muss, dass sie zur Kündigung führen können.Es liegen keine objektiven Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Abmahnung keine Verhaltensänderung bei A bewirkt hätte. Die Nichterbringung der Arbeitsleistung stellt für sich genommen zwar eine erhebliche Pflichtverletzung dar. Letztlich fehlte A aber auch „nur“ eine halbe Stunde. Insofern ist sie jedenfalls noch nicht derart gravierend, dass A ohne vorherige Abmahnung mit einer Kündigung rechnen musste.P könnte A dagegen ohne Weiteres die Fehlzeit vom Lohn abziehen - ohne Arbeit kein Lohn (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB).
11. Auch die abschließende Interessenabwägung fällt zugunsten des A aus.
Genau, so ist das!
Eine wirksame Kündigung setzt schließlich voraus, dass das Auflösungsinteresse des Arbeitgebers das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers überwiegt. Bei einer verhaltensbedingten Kündigung sind dabei insbesondere der Grad des Verschuldens, die Bedeutung der verletzten Vertragspflicht sowie die Dauer der störungsfreien Vertragsbeziehung zu berücksichtigen.A ist seit 12 Jahren störungsfrei bei P beschäftigt. Ihm ist im Hinblick auf seine Verspätung lediglich Fahrlässigkeit vorzuwerfen und der Umfang der Verspätung war verhältnismäßig gering. Insoweit überwiegt As Bestandsschutzinteresse.Sofern eine Kündigung schon nicht erforderlich ist (=ultima ratio-Prinzip), wird die Interessenabwägung nie zugunsten des Arbeitgebers ausfallen. Vertretbar wäre es deshalb auch, sich hier noch kürzer zu fassen.
12. Kann sich A am 28.6. (noch) gegen Ps Kündigung zur Wehr setzen?
Ja, in der Tat!
Eine Klage gegen die Kündigung ist begründet, wenn die Kündigung unwirksam ist. Unwirksam ist eine ordentliche Kündigung, wenn sie (1) unwirksam erklärt wurde, (2) ihr sonstige Nichtigkeitsgründe entgegenstehen oder (3) sie bei Anwendbarkeit des KSchG sozial ungerechtfertigt ist.Im Hinblick auf Ps Kündigung fehlt es an dem notwendigen Kündigungsgrund iSv § 1 Abs. 2 KSchG vor. Eine vorherige Abmahnung ist nicht erfolgt. Eine solche war auch nicht entbehrlich. Auch die Interessenabwägung fällt zugunsten des A aus, sodass die Anforderungen an einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund iSv § 1 Abs. 2 KSchG nicht gewahrt wurden. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam (§ 4 S. 1 KSchG).