Referendariat

Die StA-Klausur im Assessorexamen

Das materielle Gutachten

Verstoß gegen Beweiserhebung, aber kein Beweisverwertungsverbot (Abwägungslehre)

Verstoß gegen Beweiserhebung, aber kein Beweisverwertungsverbot (Abwägungslehre)

2. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Dealerin D gerät um 22 Uhr in eine Polizeikontrolle. Sie flieht zu Fuß. Auf der Rückbank ihres gestohlenen Autos finden die Beamten Ds Ausweis und eine Geldkassette, in der sie Drogen vermuten. Da kein Richter mehr erreichbar ist, ordnet der zuständige Staatsanwalt S die Öffnung der Kassette an und findet Heroin.

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Einordnung des Falls

Verstoß gegen Beweiserhebung, aber kein Beweisverwertungsverbot (Abwägungslehre)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Durchsuchung des Autos stellt eine Maßnahme zur Identitätsfeststellung dar (§ 163b Abs. 1 S. 3 StPO).

Genau, so ist das!

Nach § 163b Abs. 1 S. 3 StPO kann eine Durchsuchung vorgenommen werden, wenn der Betroffene einer Straftat verdächtig ist und seine Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Ein Anfangsverdacht, der Anlass zum Einschreiten gibt und zur Erforschung des Sachverhaltes verpflichtet, ist erforderlich, aber auch ausreichend. Liegt ein entsprechender Verdacht vor, können auch vom Verdächtigen mitgeführte Sachen zur Identitätsfeststellung durchsucht werden.Gegen D liegt ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Diebstahls des Fahrzeugs vor. Dieser rechtfertigt die Durchsuchung des Wagens, um Ds Identität zu ermitteln.Zulässig wäre dabei sogar die gewaltsame Öffnung (zB durch Einschlagen der Fenster) des Wagens.
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2. Auch das Durchsuchen der Geldkassette stellt noch eine Maßnahme zur Identitätsfeststellung dar.

Nein, das trifft nicht zu!

§ 163b Abs. 1 S. 3 StPO gestattet nur die Durchsuchung zum Zwecke der Identitätsfeststellung.Durch den aufgefundenen Ausweis auf der Rückbank war Ds Identität festgestellt, sodass die Identitätsfeststellung damit abgeschlossen war.

3. Eine Durchsuchung beim Beschuldigten, die nicht der Identitätsfeststellung dient, bedarf grundsätzlich einer richterlichen Anordnung.

Ja!

Nach § 105 Abs. 1 S. 1 StPO bedarf die Durchsuchung beim Beschuldigten wegen des damit verbundenen Grundrechtseingriffs grundsätzlich einer richterlichen Anordnung (Richtervorbehalt).

4. Da in der Nacht kein Richter mehr erreichbar war, durfte die Anordnung ausnahmsweise durch den Staatsanwalt S erfolgen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden ist nur bei Gefahr im Verzug gegeben. Also dann, wenn die vorherige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährdet hätte.BGH: Gefahr im Verzug als Grund für die Annahme einer Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungspersonen war jedenfalls nach der Sicherstellung des Fahrzeugs nicht mehr anzunehmen (RdNr. 23).

5. Führt ein Verstoß gegen die Beweiserhebung stets zu einem Beweisverwertungsverbot im Bezug auf die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse?

Nein, das trifft nicht zu!

Sofern bei Verstößen gegen Verfahrensvorschriften nicht explizit ein Beweiserhebungsverbot normiert ist, führen diese nach der Abwägungslehre nur dann zu einem (unselbstständigen) Beweiserhebungsverbot, wenn bei einer umfassenden Abwägung das Interesse an der Sicherung der Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren die Wahrheitserforschungspflicht und das Interesse der Allgemeinheit am Funktionieren der Strafrechtspflege überwiegt.

6. Ist das aufgefundene Heroin als Augenscheinsobjekt in der Hauptverhandlung verwertbar, obwohl der Richtervorbehalt bei der Durchsuchung nicht gewahrt wurde?

Ja!

Ein Verfahrensverstoß führt nach der Abwägungslehre des BGH nur dann zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der hierdurch gewonnenen Erkenntnisse, wenn im Rahmen einer umfassenden Abwägung das Interesse des Staates an der Tataufklärung hinter dem Interesse des Beschuldigten an der Bewahrung seiner Rechtsgüter zurücktritt.Zu berücksichtigen ist, dass ein schwerwiegender Tatvorwurf (unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) im Raum steht. Zudem lagen die Voraussetzungen eines Durchsuchungsbeschlusses (§ 102 StPO) vor, sodass im Fall eines Antrages dieser höchstwahrscheinlich erteilt worden wäre (hypothetisch rechtmäßiger Eingriff). Für eine bewusste Missachtung des Richtervorbehalts fehlt es an Anhaltspunkten, sodass das Verfolgungsinteresse überwiegt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LO

Lorenz

19.10.2023, 10:58:32

Müsste es in der vorletzten Frage nicht unselbstständiges Beweisverwertungsverbot heißen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.10.2023, 12:17:22

Hallo Lorenz, in der Frage wird lediglich auf den Begriff des

Beweisverwertungsverbote

s abgestellt, ohne zu präzisieren, ob es sich dabei um ein unselbstständiges oder selbstständiges Verwertungsverbot handelt. Diese Kategorisierung ist letztlich ohne Bedeutung. In der Tat geht es hier aber um ein unselbstständiges Verwertungsverbot, da hier geprüft wird, ob aus einem Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften auch ein Beweisverwertungsverbot resultiert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

vulpes iuris

vulpes iuris

14.10.2024, 14:17:26

Lorenz meinte die Antwort, vermute ich.

Dolusdave

Dolusdave

1.1.2024, 19:35:34

mir fehlt in der Aufgabe die Information, dass das Auto sichergestellt wurde und deshalb eine richterliche Anordnung abgewartet werden kann.

EN

Entenpulli

19.2.2024, 10:53:48

D flieht zu Fuß (das Auto ist also noch da) und man findet im Auto Gegenstände. Daraus ergibt sich mMn ausreichend, dass Polizisten das Auto sicherstellen konnten.

SY

sy

1.4.2024, 23:50:43

Liebes Team, in der Aufgabe davor haben wir doch festgestellt, dass vorerst überhaupt der Rechtskreis des Beschuldigten betroffen sein muss, damit eine etwaige Abwägung nach BGH zu einer Verwertung führen oder auch nicht führen kann. Daraus hatte ich verstanden, dass stets festgehalten werden muss, ob die Norm, gegen welche die staatliche Obrigkeit verstoßen hat auch den Schutz des Beschuldigten - also sein Rechtskreis - betrifft. Frage: wieso haben wir hier kein Wort dazu verloren, ob eine Verfahrensvorschrift dem Schutz des Beschuldigten dient ?

PI

Pit

22.5.2024, 13:31:33

Mir persönlich helfen normative Anknüpfungen in den Erläuterungen immer weiter, um es mir aus dem Gesetz selbst zu erschließen. Daher hier ergänzend und den BGH zitierend: "Die spätere Öffnung und Durchsuchung der Geldkassette war danach aber nicht mehr von § 163b Abs. 1 Satz 3 StPO gedeckt. Dabei handelte es sich um eine Durchsuchung im Sinne der §§ 102, 105 StPO. Die Voraussetzungen dafür lagen nicht vor. Jedoch ergibt sich aus diesem

Verfahrensfehler

kein Beweisverwertungsverbot." >BGH, Urteil vom 17.02.2016 - 2 StR 25/15, Rn. 22 - https://openjur.de/u/889355.html < Hierbei ist hinsichtlich der Abwägung noch die folgende Passage aus dem Urteil (Rn. 26) interessant: "Dabei fällt ins Gewicht, dass es um den schwerwiegenden Vorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge durch den Angeklagten geht, der einschlägig vorbestraft ist. Nachdem seine Identität durch Auffinden des Entlassungsscheins aus der Justizvollzugsanstalt, aus der er bedingt entlassen worden war, bekannt war, ist auch anzunehmen, dass ein Ermittlungsrichter in dem Fall, dass ein Antrag auf Gestattung der Durchsuchung der Geldkassette gestellt worden wäre, höchstwahrscheinlich einen Durchsuchungsbeschluss erlassen hätte. Diese Möglichkeit der hypothetisch rechtmäßigen Beweiserlangung ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen." #Funfact: Herr Fischer hat an dem Urteil mitgewirkt.


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