Öffentliches Recht

Verwaltungsrecht AT

Ermessen und Verhältnismäßigkeit

Sonderfall: Behörde hätte auch ohne Ermessensfehler so gehandelt

Sonderfall: Behörde hätte auch ohne Ermessensfehler so gehandelt

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Nach einem Gesetz kann die Gemeinde Bullerbü (B) eine Reinigungsgebühr von 30-50 Euro erheben, wenn die (privaten) Zufahrten zu den Höfen nicht in einem befahrbaren Zustand sind. B erhebt meistens eine Gebühr von 40 Euro, weswegen Sachbearbeiter S diese ohne weitere Erwägungen gegenüber L festlegt.

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Einordnung des Falls

Sonderfall: Behörde hätte auch ohne Ermessensfehler so gehandelt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L klagt gegen den Gebührenbescheid. Statthaft ist die Verpflichtungsklage.

Nein!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren. Die Anfechtungsklage ist statthaft, wenn der Kläger die Aufhebung eines Verwaltungsakt begehrt (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO). Die Verpflichtungsklage ist statthaft, wenn der Kläger den Erlass eines Verwaltungsakts begehrt. L begehrt die Aufhebung des Gebührenbescheids. Dieser ist ein Verwaltungsakt im Sinne von § 35 S. 1 VwVfG. L kann die Anfechtungsklage erheben.
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2. Der Gebührenbescheid ist ermessensfehlerhaft ergangen.

Genau, so ist das!

Ermessensentscheidungen sind rechtswidrig, wenn die Verwaltung ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Ermessensfehlerhaft handelt die Behörde z.B. dann, wenn sie nicht erkennt, dass ihr ein Ermessen zusteht und sie deswegen keinerlei Ermessenserwägungen vor ihrer Entscheidung anstellt (Ermessensnichtgebrauch).Die einschlägige Norm sieht vor, dass die Behörde eine Gebühr zwischen 30 und 50 Euro erheben kann, wenn die Hofzufahrten durch die Gemeinde gereinigt werden müssen. Die Norm räumt damit Ermessen dahingehend ein, ob und wie die Behörde tätig wird. S ging davon aus, er müsse die Entscheidung in dieser konkreten Form treffen und hat daher keinerlei Ermessenserwägungen angestellt. Es liegt daher ein Fall des Ermessensnichtgebrauch vor.

3. Liegt ein Ermessensfehler vor, hebt das Gericht den Verwaltungsakt grundsätzlich auf.

Ja, in der Tat!

Auch Ermessensentscheidungen müssen wegen des Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes gerichtlich überprüfbar sein. Ermessensentscheidungen kann das Gericht allerdings nur auf Vorliegen von Ermessensfehlern überprüfen. Liegen Ermessensfehler vor, so ist der Verwaltungsakt rechtswidrig und wird vom Gericht aufgehoben. Die Behörde kann dann eine neue (ermessensfehlerfreie) Entscheidung treffen. In der Regel würde das Gericht den rechtswidrigen Gebührenbescheid hier aufheben.

4. Das Gericht hebt den ermessensfehlerhaften Verwaltungsakt ausnahmsweise nicht auf, wenn die Entscheidung auch bei pflichtgemäßer Ermessensausübung genauso ergangen wäre.

Ja!

Ein Ermessensfehler ist ausnahmsweise dann unbeachtlich, wenn (1) der Verwaltungsakt im Ergebnis innerhalb des behördlichen Ermessens liegt und (2) objektiv und ohne jeden Zweifel feststeht, dass die Behörde auch ohne den Ermessensfehler so gehandelt hätte. Es wäre in diesen Fällen nämlich widersinnig, wenn das Gericht den Verwaltungsakt aufhebt, wenn doch bereits absehbar ist, dass die Behörde bei pflichtgemäßer Ermessensausübung erneut genau die gleiche Entscheidung treffen wird. Das Gericht wird den Gebührenbescheid nicht aufheben, wenn hier eine solche Ausnahme vorliegt.

5. Hier steht ohne jeden Zweifel fest, dass S auch bei einer pflichtgemäßen Ermessensausübung eine Gebühr von 40 Euro gegenüber L festgesetzt hätte.

Nein, das ist nicht der Fall!

Da es sich um eine Ausnahme handelt, sind die Anforderungen eher hoch. Dafür spricht vor allem auch der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Fall muss sehr eindeutig sein, damit die Einschränkung des Rechtsschutzes vertretbar ist. Die Behörde setzt meistens eine Gebühr von 40 Euro fest. Das bedeutet, dass es auch Fälle gibt, in denen anders entschieden wurde/wird. Es ist gerade nicht ohne Zweifel anzunehmen, dass auch im Fall der L eine Gebühr von 40 Euro erhoben worden wäre, wenn S entsprechende Ermessenserwägungen angestellt hätte. Das Gericht wird den Gebührenbescheid aufheben. Dies hindert S natürlich nicht daran, nach einer Ermessenserwägung die gleiche Entscheidung erneut zu treffen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FAL

FalkTG

15.6.2024, 13:04:27

LELEE

Leo Lee

17.6.2024, 18:20:24

Hallo FalkTG, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könne man hier meinen, die

Selbstbindung der Verwaltung

sei i.R.d. Ermessens zu erwähnen. Dies ist auch nachvollziehbar. Beachte allerdings, dass die

Selbstbindung der Verwaltung

bei VERPFLICHTUNGSklagen relevant werden und hier eine Anfechtungsklage vorlag, weshalb die

Selbstbindung der Verwaltung

nicht relevant war. Eine Aufgabe zur

Selbstbindung der Verwaltung

findets du i.Ü. hier: https://applink.jurafuchs.de/MDNJ6NO1tKb. I.Ü. kann ich hierzu die Lektüre vom Schoch/Schneider, Geis §

40 VwVfG

Rn. 74 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

FAL

FalkTG

19.8.2024, 08:35:59

m.E. hat ja die Klageart keinen Einfluss auf die materielle Rechtslage. Wenn schon die Verpflichtung begründet wäre, wäre es die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abweichung erst recht (Argumentum a maiore ad minum).

hot.priest

hot.priest

31.8.2024, 15:15:25

Selbstbindung der Verwaltung

wird benutzt, um einen Anspruch für den Bürger gegen den Staat herzuleiten, also nur zugunsten des Bürgers und nicht um schlampige Ermessensabwägungen/ ermessensnichtgebrauch des Staates zu legitimieren. (Ähnlich wie die

betriebliche Übung

im ARbeitsrecht, durch die auch keine neuen REchte für den AG entstehen.) Im Vorliegenden fall verlangt L gar keine Gleichbehandlung, sondern will grade nicht so viel zahlen wie alle anderen.


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