„Mauerschützen“-Entscheidung

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Beschwerdeführer waren an der Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze beteiligt. Obwohl die Tötungen nach dem Recht der DDR zulässig waren, wurden sie nach der Wiedervereinigung für diese strafrechtlich verurteilt.

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Einordnung des Falls

„Mauerschützen“-Entscheidung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Beschwerdeführer erheben zulässige Verfassungsbeschwerden gegen ihre letztinstanzliche Verurteilung durch den BGH. Sind die Verfassungsbeschwerden begründet, wenn die strafgerichtliche Verurteilung die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG)?

Ja, in der Tat!

Die Prüfung der Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist immer gleich aufgebaut: (1) Eröffnung des Schutzbereichs des Grundrechts (persönlicher und sachlicher Schutzbereich), (2) Eingriff in den Schutzbereich, (3) verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs. Hier rügten die Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots (Art. 103 Abs. 2 GG).
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2. Kann das BVerfG strafgerichtliche Verurteilungen uneingeschränkt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nachprüfen?

Nein!

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, sondern kann nur eingreifen, wenn die Strafgerichte Verfassungsrecht verletzt haben. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung, am Straf- oder Strafprozessrecht gemessen, objektiv fehlerhaft ist, sondern, nur wenn der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegt (RdNr. 121). Die Gestaltung des Strafverfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des Straf- und Strafprozessrechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind demnach allein Sache der dafür zuständigen Strafgerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG entzogen (RdNr. 121). Die eingeschränkte Prüfungskompetenz des BVerfG gelte auch, wenn es um die Feststellung, Auslegung und Anwendung von Normen einer fremden Rechtsordnung gehe, von denen nach den Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland die strafrechtliche Beurteilung abhängt – hier Vorschriften der DDR.

3. Die Beschwerdeführer B1 und B3 waren hochrangige Regierungsvertreter der DDR. Verletzt die Strafverfolgung gegen sie ihre fortwirkende Immunität und damit eine allgemeine Regel des Völkerrechts (Art. 25 GG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Unter den allgemeinen Regeln des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG sind das universell geltende Völkergewohnheitsrecht zu verstehen, ergänzt durch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze. Das Völkergewohnheitsrecht muss auf einer allgemeinen, gefestigten Übung zahlreicher Staaten beruhen, der die Rechtsüberzeugung zugrunde liegt, dass dieses Verhalten rechtens sei (RdNr. 125). Die Act-of-State-Doktrin, nach der Rechtsakte fremder Staaten der nationalen gerichtlichen Kontrolle entzogen sind, sei nur im anglo-amerikanischen Rechtskreis anerkannt. Demnach sei sie keine allgemeine Regel des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG. Zudem entspreche es der h.M. im völkerrechtlichen Schrifttum, dass eine Immunität die Existenz des Staates, dem der Betreffende angehört, nicht überdauert. Demnach missachte die Strafverfolgung auch nicht die Souveränität der DDR als Völkerrechtssubjekt und damit Art. 25 GG (RdNr. 126f.). Die Verletzung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts kann im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde – also auch hier – nur in Verbindung mit einem Grundrecht (hier Art. 2 Abs. 1 GG) gerügt werden.

4. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein absolutes strafrechtliches Rückwirkungsverbot.

Ja, in der Tat!

Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Gewährleistung ist Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), welches den Gebrauch der Freiheitsrechte fundiert, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt. Für den Bürger begründet Art. 103 Abs. 2 GG das Vertrauen darauf, dass der Staat nur ein solches Verhalten als strafbare Handlung verfolgt, für das der parlamentarische Gesetzgeber die Strafbarkeit und die Höhe der Strafe im Zeitpunkt einer Tat gesetzlich bestimmt hat. Der Bürger erhält damit die Grundlage dafür, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet. (RdNr. 132f.)

5. Gebietet Art. 103 Abs. 2 GG auch, einen bei Begehung der Tat gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist?

Ja!

Art. 103 Abs. 2 GG schützt davor, dass die Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat nachträglich zum Nachteil des Täters geändert wird. BVerfG: Deshalb gebiete er auch, einen bei Begehung der Tat gesetzlich geltenden Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist.(RdNr. 134). Die Beschwerdeführer beriefen sich hier auf einen teils normierten, teils auf staatlicher Anordnung und Praxis beruhenden Rechtfertigungsgrund im Recht der DDR. Ob auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe den Schutz des Rückwirkungsverbots genießen, ließ das BVerfG offen, da der Rechtfertigungsgrund hier unter Voraussetzungen in Anspruch genommen werde, die Einschränkungen des absoluten Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG von Verfassungs wegen zulassen (RdNr. 134).

6. In der DDR wurde die Tötung von Grenzflüchtlingen von oben angeordnet oder jedenfalls rechtfertigt. Angesichts dieses schwersten Unrechts entfällt die besondere Vertrauensgrundlage des Rückwirkungsverbots.

Genau, so ist das!

Die besondere Vertrauensgrundlage des Rückwirkungsverbots entfalle, wenn der Staat Menschenrechte in schwerwiegender Weise verletzt, indem er zu schwerstem kriminellem Unrecht auffordert oder es rechtfertigt. In dieser besonderen Situation untersage das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG müsse dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten (RdNr. 137). Die staatlich angeordneten oder zumindest geduldeten Tötungen unbewaffneter Personen wegen des Versuchs, die innerdeutsche Grenze zu überwinden, stellen solches schwerstes kriminelles Unrecht dar. Ähnliche Konfliktlagen sind bereits bei der Beurteilung nationalsozialistischen Unrechts aufgetreten.

7. Ein Rechtfertigungsgrund, der die vorsätzliche Tötung von Personen deckt, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, muss nach diesen Maßstäben unangewendet bleiben.

Ja, in der Tat!

So hat der BGH argumentiert. Ein solcher Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überschreiten, schlechthin Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gibt, sei wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wirke so schwer, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. In einem solchen Fall müsse das positive Recht der Gerechtigkeit weichen. Das BVerfG bestätigte diese auf der sog. Radbruch’schen Formel beruhenden Argumentation (Rd. 142) und hielt die strafrechtlichen Verurteilungen der „Mauerschützen“ und ihrer Hintermänner durch den BGH aufrecht. Die Radbruch’sche Formel geht zurück auf den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch. Sie besagt – vereinfacht gesagt –, dass Gesetze, die grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit widersprechen, kein geltendes Recht sind, sondern „gesetzliches Unrecht“, dem man den Rechtscharakter absprechen müsse und demgegenüber man keinen Gehorsam schuldig sei.
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