„Osho“-Fall
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Im Zuge einer öffentlichen Diskussion um neue religiöse Bewegungen Ende der 1970er-Jahre bezeichneten Mitglieder der Bundesregierung die Osho-Bewegung u.a. als „destruktive“ und „pseudoreligiöse“ Jugendsekte. Der M e.V., ein Meditationsverein der Osho-Bewegung, ist empört.
Diesen Fall lösen 77,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
2002 musste das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob die Bezeichnung der „Osho“-Bewegung als „destruktive“ und „pseudoreligiöse“ Jugendsekte durch Mitglieder der Bundesregierung gegen die Religionsfreiheit verstoße. Das Bundesverfassungsgericht nahm einen solchen Verstoß an. Die mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigung sei laut Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu messen. Das BVerfG sieht in dem Ziel, Jugendliche durch Informationshandeln vor der Osho-Bewegung zu schützen, zwar einen legitimen Zweck. Allerdings seien die Attribute „destruktiv“ und „pseudoreligiös“ für M diffamierend und damit in Anbetracht der Bedeutung des Grundrechts der Weltanschauungsfreiheit und der Neutralitätspflicht des Staates jedenfalls unangemessen (RdNr. 91ff.).
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist der M e.V., der die Lehren des sog. Osho-Rajneesh zum Sinn der Welt und des menschlichen Lebens pflegt, vom persönlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) umfasst?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Schützt die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) in sachlicher Hinsicht auch vor verfälschenden Darstellungen einer weltanschaulichen Gemeinschaft durch den Staat?
Genau, so ist das!
3. Sind die vorliegenden Äußerungen der Mitglieder der Bundesregierung ein Grundrechtseingriff im „klassischen“ Sinn?
Nein, das trifft nicht zu!
4. Ist der Grundrechtsschutz der Religionsfreiheit auf Eingriffe im „klassischen“ Sinn beschränkt?
Nein!
5. Kann sich die Bundesregierung im Rahmen der Rechtfertigung auf ihre verfassungsrechtliche Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit berufen?
Genau, so ist das!
6. Sind die Äußerungen verfassungswidrig, da keine explizite Ermächtigungsgrundlage für die staatliche Warnung existiert?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Ist staatliches Informationshandeln stets zulässig und unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Grenzen?
Nein!
8. Verstoßen die Äußerungen der Mitglieder der Bundesregierung über die Osho-Bewegung gegen die grundgesetzliche Kompetenzordnung?
Nein, das ist nicht der Fall!
9. Verstoßen die Bezeichnung der Osho-Bewegung als "destruktiv" und "pseudoreligiös" durch Mitglieder der Bundesregierung nach Ansicht des BVerfG gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Ja, in der Tat!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Vanessa io
28.5.2021, 17:08:02
Interessanter Fall und gute Aufbereitung! Gibt dazu ne mega interessante Doku zur Osho Bewegung, kann ich nur empfehlen!
ri
24.7.2021, 01:47:20
Nach dem klassischen
Eingriffsbegriffmuss das staatliche Handeln, das grundrechtlich geschützte Freiheiten beschränkt also *F*inal, *U*nmittelbar, durch *R*echtsakt geschehen und mit *Z*wang durchsetzbar sein? Also mit … FURZ 💨 Warum fühle ich mich plötzlich so erwachsen 🤡
Lukas_Mengestu
16.12.2021, 14:49:54
Haben wir direkt mit aufgenommen, danke Dir :D
CR7
28.4.2023, 10:20:09
QuiGonTim
8.4.2022, 09:17:25
Könnte mir vielleicht nochmal jemand die Begriffe Verbandskompetenz und Organkompetenz definieren und voneinander abgrenzen? Ich stehe da gerade ein bisschen auf dem Schlauch. 😅
Lukas_Mengestu
11.4.2022, 17:49:25
Hallo QuiGonTim, Verbandskompetenz bezeichnet die einem Rechtssubjekt (Verband) zugewiesene Aufgabe (Kompetenz). Gegenbegriff ist die
Organzuständigkeit/Organkompetenz. Diese gibt an, welchem Organ innerhalb des Verbandes eine Aufgabe zugewiesen ist. Am Beispiel des Informationshandelns ermittelt man über die Verbandskompetenz hier die Zuständigkeit des Bundes (statt der Länder) und im Hinblick auf die
Organzuständigkeitdie Zuständigkeit der Bundesregierung (statt anderer Verfassungsorgane wie zB Bundestag, Bundespräsident oder BVerfG). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
QuiGonTim
8.4.2022, 09:26:03
Toller Fall! Gerade die Wiederholung zu den Grundrechten gefällt mir sehr gut. :) Leider kommen die eigentlichen Themen, Rechtsstaatsprinzip und Neutralitätspflicht mE etwas zu kurz. Bei mir ist eine Frage offen geblieben: Ergibt sich die Neutralitätspflicht staatlicher Organe/Amtsträger aus den jeweils einschlägigen Grundrechten (insbesondere Freiheitsrecht iVm mit Gleichheitsrechten) oder erwächst sie aus allgemeineren Erwägungen zum Rechtsstaatsprinzip?
Lukas_Mengestu
8.4.2022, 09:56:43
Hallo QuiGonTim, freut mich, dass Dir die Wiederholung zu den Grundrechten gefallen hat. Explizite Neutralitätspflichten nennt das Grundgesetz nicht. Als Ansatzpunkt für die Herleitung lassen sich deshalb zum einen die Gleichheitsrechte heranziehen (Art. 3 Abs. 1 GG, bei Parteien Art. 21 iVm Art. 3 GG), aber auch Freiheitsrechte (vgl. Gusy, Neutralität staatlicher Öffentlichkeitsarbeit, NVwZ 2015, 700). Im Hinblick auf die Neutralitätspflicht des Staates bgzl. religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, stützt das BVerfG dies sowohl auf Art. 4 Abs. 1 GG, als auch auf Art. 3 Abs. 3 S. 1, 33 Abs. 3 GG (religiöses Bekenntnis) und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1, Abs. IV, 137 Abs. 1 WRV (keine Staatskirche) ab. Zwar ist Deutschland anders als Frankreich kein laizistischer Staat. Dennoch sei der Staat gehalten, "sich in Fragen des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses neutral zu verhalten und nicht seinerseits den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefährden". Auf einfachgesetzlicher Ebene ist die Unparteilichkeit teilweise explizit kodifiziert (vgl. § 60 Abs. 1 S. 2 BBG). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Pilea
24.8.2022, 22:13:04
Warum ist dieser Fall bei den Staatsstrukturprinzipien eingeordnet? Irgendwie kann ich die Brücke nicht schlagen
Lukas_Mengestu
25.8.2022, 17:49:21
Hallo Pilea, zu den Staatsstrukturprinzipien gehört unter anderem das Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem wiederum folgt, dass staatliches Handeln zulasten des Bürgers grundsätzlich einer entsprechenden
Ermächtigungsgrundlagebedarf (Vorbehalt des Gesetzes). In der Osho-Entscheidung hat das BVerfG dies im Hinblick auf mittelbar-faktische Eingriffe durch
staatliches Informationshandelnetwas relativiert. Hier lässt es bereits genügen, dass dem staatlichen Akteur die entsprechende Aufgabe zugewiesen ist - ohne dass es einer zusätzlichen
Ermächtigungsgrundlagebedarf, auf die das Informationshandeln gestützt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung für das Thema Staatsstrukturprizipien von Relevanz :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Pilea
25.8.2022, 18:48:46
Danke, das war hilfreich.
Strand Spaziergang
19.4.2023, 03:54:36
Ich fand den Fall etwas zu lang und den Übergang zu den Fällen davor auch nicht so fließend. Mir hätte hier eine Aufteilung in kleinere Abschnitte besser gefallen. Habt ihr vielleicht vor, den Staatsorganisationsrechtlichen Bereich noch weiter auszubauen, also insgesamt mehr Fälle und Fragen?
Nora Mommsen
20.4.2023, 13:53:49
Hallo Strand Spaziergang, danke für deine kritische Rückmeldung. Das hilft uns sehr bei der Planung neuer Inhalte für Jurafuchs. Genau wie in anderen Bereichen sind wir auch hier kontinuierlich dabei, mehr Fälle und mehr Themen für euch abzudecken. Insbesondere legen wir dabei natürlich Wert auf aktuelle Entwicklung und Gewichtung nach Examensrelevanz. Solltest du ein bestimmtes Themengebiet oder einen Fragentyp haben, der dir fehlt freuen wir uns immer über entsprechendes Feedback um dies bei unseren Planungen zu berücksichtigen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Jopies
5.7.2024, 14:26:19
Osho (und ebenso Glykol) ist einer der seltsamsten Fälle des BVerfG. Problem ist, dass eine EGL für Ministerielle Warnungen dieser Art nicht zu finden ist. Gleichzeitig soll dies möglich sein. Das BVerfG lässt deshalb den modernen
Eingriffsbegriffausschließlich hier einfach unter den Tisch fallen um den Eingriff und damit das Erfordernis einer EGL abzulehnen. Die Gegenansicht (BVerwG, Lit) macht das nicht mit und nimmt einen Eingriff an. Bricht sich dann aber ein Bein bei der EGL. Ein Hinweis oder sogar eine Erklärung/Argumentationshilfe für diesen extrem schwierigen Fall wäre äußerst wertvoll.
L.Goldstyn
21.8.2024, 18:24:42
Hallo Jopies, die Warnfälle sind tatsächlich ziemlich unangenehm, wenn sie einem in der Klausur begegnen. Bist Du Dir sicher, dass die Fälle Osho und Glykol vom BVerfG gleich behandelt wurden/werden? Ich hatte abgespeichert, dass die Sonderrechtsprechung des BVerfG, die zum Verneinung des Eingriffs führt, nur für Art. 12 Abs. 1 GG entwickelt wurde und nur dort gilt. Bei allen anderen Grundrechten (z.B. Art. 4 Abs. 1 GG) wäre demnach der Eingriff nach dem modernen
Eingriffsbegriffohne größere Ausführungen zu bejahen, und das Problem nur im Rahmen der EGL/Schranke zu behandeln.
Jopies
2.9.2024, 08:39:00
Aus der Osho Entscheidung des BVerfG: „Die Verwendung der Attribute "destruktiv" und "pseudoreligiös" und die Erhebung des Vorwurfs der Mitgliedermanipulation beeinträchtigen danach das durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierte Recht der Beschwerdeführer auf eine in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral und zurückhaltend erfolgende Behandlung. Die Merkmale eines Grundrechtseingriffs im herkömmlichen Sinne werden damit allerdings nicht erfüllt. Danach wird unter einem Grundrechtseingriff im Allgemeinen ein rechtsförmiger Vorgang verstanden, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt. Keines dieser Merkmale liegt bei den Äußerungen vor, die hier zu beurteilen sind.“