Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

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Mitverschulden eines Kindes am Unfall mit Kfz

Mitverschulden eines Kindes am Unfall mit Kfz

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der 11-jährige K steht sehr nahe am Bordsteinrand und wartet darauf, dass die Fußgängerampel grün wird. A fährt mit dem SUV ihres Kumpels dicht an K vorbei. Dabei erwischt sie K mit dem Außenspiegel. K bricht sich beim Sturz das Bein und liegt 3 Wochen im Krankenhaus. K will Schmerzensgeld.

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Einordnung des Falls

Mitverschulden eines Kindes am Unfall mit Kfz

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K könnte einen Anspruch auf Schmerzensgeld gegen A haben, wenn die Voraussetzungen der §§ 18 Abs. 1, 11 S. 2 StVG vorliegen.

Genau, so ist das!

Die Haftungsvoraussetzungen der Fahrerhaftung (§ 18 Abs. 1 S. 1 StVG) entsprechen überwiegend denen der Halterhaftung (§ 7 Abs. 1 StVG). Der (1) Fahrzeugführer eines Kfz haftet für (2) Personen- oder Sachschäden, die (3) bei dem Betrieb des Kfz verursacht werden. Im Gegensatz zum Halter haftet der Fahrer zudem nicht, wenn er nachweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft (§ 18 Abs. 1 S. 2 StVG). Anders als bei der Halterhaftung handelt es sich also nicht um eine verschuldensunabhängige Gefährdungs-, sondern eine Verschuldenshaftung. Allerdings wird das Verschulden des Fahrers vermutet, sodass es an ihm liegt, sich zu entlasten.
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2. Ist A Fahrzeugführerin des SUV?

Ja, in der Tat!

Fahrzeugführer ist, wer das Kraftfahrzeug eigenverantwortlich lenkt und die tatsächliche Gewalt über das Steuer hat. Zum Unfallzeitpunkt hatte A die Gewalt über das Fahrzeug inne.

3. Hat K einen Personenschaden erlitten?

Ja!

Bei der eingetretenen Rechtsgutsverletzung muss es sich um eine Beeinträchtigung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder des Eigentums handeln. Erfasst werden also nur Personen- und Sachschäden, nicht aber reine Vermögensschäden. O hat sich das Bein gebrochen. Sein Körpers und seine Gesundheit sind beeinträchtigt. Damit liegt ein Personenschaden vor.

4. Ist die Verletzung des K bei Betrieb des Kfz entstanden?

Genau, so ist das!

Das Merkmal bei Betrieb eines Kfz setzt voraus, dass das Schadensgeschehen zurechenbar durch das Kfz (mit)geprägt worden ist, weil es in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kfz steht. Dieses Merkmal ist grundsätzlich weit auszulegen.Die Verletzung des K entstand bei As Fahrt mit dem SUV und wurde durch den Zusammenstoß kausal verursacht. Die Verletzung steht also in einem spezifischen Zusammenhang zu den Gefahren, die von dem Betrieb des SUV ausgehen.

5. Haftet A auch, wenn sie an dem Unfall kein Verschulden trifft (§ 18 Abs. 1 S. 2 StVG)?

Nein!

Anders als der Halter haftet der Fahrer nur, wenn ihn Verschulden trifft. Das Verschulden des Fahrers wird im Rahmen des § 18 StVG allerdings gesetzlich vermutet. Nur wenn es dem Fahrzeugführer gelingt, seine Schuldlosigkeit darzulegen und zu beweisen, so kann er sich von der Haftung befreien („exkulpieren“). Die Darlegungs- und Beweislast ist für den Geschädigten im Vergleich zu den deliktischen Ansprüchen (§ 823 Abs. 1 BGB; § 823 Abs. 2 BGB iVm §§ 223 Abs. 1 StGB) also deutlich vorteilhafter. Deshalb sind in der Klausur grundsätzlich immer erst die besonderen straßenverkehrsrechtlichen Haftungstatbestände zu prüfen.

6. Indem A eng am Bordstein vorbeifuhr, hat sie sowohl die allgemeine Sorgfaltspflicht (§ 1 Abs. 2 StVO) als auch die gegenüber Kindern zu beachtende besondere Rücksichtnahmepflicht im Verkehr (§ 3 Abs. 2a StVO) verletzt.

Genau, so ist das!

Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (§ 1 Abs. 2 StVO). Insbesondere muss er Gefährdungen gegenüber Kindern ausschließen (§ 3 Abs. 2a StVO). OLG: Aus dem Rücksichtsnahmegebot folge, dass ein Kraftfahrzeugführer grundsätzlich nicht berechtigt sei, die Fahrbahn bis an den rechten Bordstein heran zu befahren. In der Regel habe der Seitenabstand etwa einen Meter zu betragen, bei lebhaftem Fußgängerverkehr sogar mehr.

7. Kann sich A im Hinblick auf den Unfall exkulpieren (§ 18 Abs. 1 S. 2 StVG)?

Nein, das trifft nicht zu!

Das Verschulden des Fahrers wird im Rahmen des § 18 StVG gesetzlich vermutet. Gelingt es dem Fahrzeugführer aber seine Schuldlosigkeit darzulegen und zu beweisen, so kann er sich von der Haftung befreien („exkulpieren“). Es fehlt vorliegend nicht nur an Anhaltspunkten dafür, dass A schuldlos gehandelt hat. Vielmehr steht aufgrund der Verstöße gegen die Rücksichtnahmepflichten sogar positiv fest, dass A ihre im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt und damit fahrlässig gehandelt hat (§ 276 Abs. 1 BGB). Sie hat den Unfall somit verschuldet.

8. Steht K dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz zu?

Ja!

Der (1) Fahrzeugführer eines Kfz haftet für (2) Personen- oder Sachschäden, die (3) bei dem Betrieb des Kfz verursacht werden, (4) wenn die Haftung nicht ausgeschlossen ist und (5) er den Schaden verschuldet hat.Die Anspruchsvoraussetzungen liegen - wie dargelegt - alle vor.

9. Da die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach vorliegen, kann K Schmerzensgeld verlangen (§ 11 S. 2 StVG).

Genau, so ist das!

Die Rechtsfolgen der Straßenverkehrshaftung richten sich nach §§ 10ff. StVG, bei Vermögensschäden nach §§ 249ff. BGB. Im Falle einer Körperverletzung wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (§ 11 S. 2 StVG).K hat sich das Bein gebrochen, mithin einen Körperschaden erlitten. Im Hinblick auf die dadurch erlittenen Schmerzen und etwaige längerfristige Beeinträchtigungen steht ihm ein Schmerzensgeldanspruch zu.

10. Für die Bemessung der Schmerzensgeldhöhe ist das Mitverschulden des Geschädigten egal.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Höhe des Schmerzensgeldes muss aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der prägenden Umstände festgesetzt werden. Dabei ist die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Mindernd wirkt sich ein Mitverschulden des Geschädigten aus. Achtung: Üblicherweise führt Mitverschulden (§ 9 StVG iVm § 254 BGB) zu einer nachträglichen Verringerung des einmal ermittelten Schadens in Höhe der Verschuldensquote (z.B. 20% Abzug). Beim Schmerzensgeld wird das Mitverschulden dagegen als Bemessungsfaktoren direkt bei der Berechnung einbezogen. Es wird insoweit nicht nachträglich gekürzt, sondern von vorneherein ein ganzheitlich ermitteltes Schmerzensgeld bestimmt.

11. Hat K den Unfall mitverursacht, Indem er sich sehr nah am Bordsteinrand aufgestellt hat?

Ja!

Zwar darf sich ein Fußgänger auf dem Gehweg vor vorbeifahrenden Kraftfahrzeugen sicher fühlen. Dies gilt aber nur eingeschränkt, wenn der Fußgänger so nahe an die äußerste Bordsteinkante herantritt, dass er selbst von nur geringfügig überhängenden Fahrzeugteilen oder dem Luftsog erfasst werden kann bzw. wenn er selbst in die Fahrbahn hineinragt. In diesem Fall muss er nach vorbeifahrenden Fahrzeugen Ausschau halten oder weiter vom Fahrbahnrand wegbleiben. Da K am äußersten Bordsteinrand stand und sich nicht nach Fahrzeugen umsah, hat er den Unfall mitverursacht.

12. Ist ein Mitverschulden des K ausgeschlossen, da er erst 11 Jahre alt ist?

Nein, das ist nicht der Fall!

Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, sofern ihm die Einsichtsfähigkeit fehlt (§ 828 Abs. 3 BGB). Der gleiche Maßstab gilt bei der Beurteilung des Mitverschuldens. OLG: Einem Elfjährigen müsse bewusst sein, dass die Positionierung am äußersten Rand des Gehweges einer stark befahrenen Straße gefährlich ist und erhebliche Schäden auslösen kann. Die Einsichtsfähigkeit werde gesetzlich vermutet. Auch wenn das Mitverschulden nicht gänzlich ausgeschlossen ist, so wiegt das Mitverschulden eines Minderjährigen weniger schwer, als das eines Erwachsenen. Für den vorliegenden Fall ging das OLG davon aus, dass die Mitverschuldensquote jedenfalls 20% nicht übersteigt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

🦊²

🦊²

13.6.2022, 20:07:42

Hey, Kann mir vllt. jemand den Wortlaut des § 9 StVG erläutern? Irgendwie werde ich mit dieser Norm nicht warm. Welchen tatsächlich einfachen Fall deckt die Norm denn ab? Allerbeste Grüße - 🦊²

CECI

Cecilie

15.6.2022, 11:33:00

Die Norm verweist für den Fall des mitverschuldens eines nicht motorisierten Dritten auf die §§ 254 Bgb. Also wenn der Geschädigte weder kfz-Halter noch fahrer ist, also Fußgänger, Fahrradfahrer Beifahrer. Und § 9 StVG am Ende regelt einen Sonderfall: wenn der Geschädigte eines Sachschaden (sagen wir A’s Fahrrad ist bei einem Unfall mit einem Auto kaputt gegangen) gar nicht die Sachherrschaft über die Sache hatte (weil sein Freund D mit dem Fahrrad unterwegs war), dann kommt es auf das Verschulden desjenigen an, der die tatsächliche Gwalt über die Sache hatte. Also kommt es dann im Rahmen des Mitverschuldens gem § 9 iVm § 254 BGB logischerweise auf das Verschulden des D, also des Freundes an. Folge ist dann dass der Anspruch des Eigentümers der Sache aus § 7 / § 18 stvg durch § 9 stvg ivm § 254 BGB gemindert wird. Ein Anspruch aus § 823 BGB hingegen nicht, es sei denn

§ 278 BGB

greift ein.

CECI

Cecilie

15.6.2022, 11:37:37

Also Sachverhalt wäre hier quasi: D ist mit dem Fahrrad von A unterwegs und baut dann einen Unfall mit Halter/ Fahrer X. Dabei wird das Fahrrad des A beschädigt. X zu 80% schuld, D zu 20%. Ansprüche des A gg. X wegen des Schadens am Fahrrad?

🦊²

🦊²

19.7.2022, 10:13:18

@[Cecilie](131105) tut mir leid, deine Antwort ist mir jetzt erst aufgefallen - vielen lieben Dank für deine Mühe und die aufschlussreiche Erklärung!🥳🙌 Liebe Grüße 🦊 ²

ELEE

Elee

6.7.2024, 23:02:40

Ließe sich mit Hinweis darauf, dass K an einer Fußgängerampel wartete, auch vertreten, dass Kˋs Verhalten noch nicht die Schwelle des (Mit)Verschuldens erreicht? Oder liegt der Schwerpunkt des Vorwurfs darin, dass K nicht auf das Fahrzeug geachtet hat, während ein umsichtiger Fußgänger gebührenden Abstand zum Fahrbahnrand (auch an Ampeln) gehalten hätte, sobald sich ein Fahrzeug nähert, insbesondere wenn dieses erkennbar zu dicht am Fahrbahnrand fährt?

DAV

david1234

11.7.2024, 11:11:09

Hi! Vertretbar wird hier alles sein, dass OLG nimmt ja selbst „nur“ 20% an, dementsprechend musst du es gut argumentieren, die besseren Gründe sprechen in meinen Augen aber für ein mitverschulden, da das Kind 11 Jahre alt ist und wie gesagt sehr Nahe dort stand. VG

ACDC

acdc

22.8.2024, 08:27:59

Von § 254 BGB kenne ich den Streitstand, ob das Mitverschulden iRv § 254 BGB bei Minderjährigen analog § 828 (h.M) oder analog § 278 (t.d.Lit) zu bestimmen ist. Wäre der Streitstand hier auch relevant?

AME

Amelie7

31.10.2024, 15:01:06

Eine kurze Notiz zu § 828 II fände ich hier super, auch wenn K über der Altersgrenze ist


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