Doppelfunktionale Maßnahme

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Polizei erhält Hinweise über einen geplanten Anschlag. Diese deuten darauf hin, dass Neonazi N hierzu große Mengen an Sprengstoff in seiner Privatwohnung lagert. Die zuständigen Stellen veranlassen daher eine Durchsuchung der Wohnung und stellen den Sprengstoff sicher.

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Einordnung des Falls

Doppelfunktionale Maßnahme

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Maßnahme der Polizei kann sowohl der Gefahrenabwehr, als auch der Strafverfolgung dienen.

Genau, so ist das!

Eine Maßnahme kann sowohl die präventive Gefahrenabwehr, als auch die repressive Strafverfolgung bezwecken. Man spricht dann von einer doppelfunktionalen Maßnahme. Hiervon sind Fälle abzugrenzen, bei denen in einem engen zeitlichen Zusammenhang verschiedene Maßnahmen mit verschiedener Zielrichtung getroffen werden. Hierbei handelt es sich nicht um doppelfunktionale Maßnahmen. Eine doppelfunktionale Maßnahme liegt nach der Rechtsprechung ebenfalls nicht vor, soweit eine Maßnahme nur deswegen auch präventiven Charakter besitzt, weil durch die Strafverfolgung auch ein präventiver Nebenzweck erreicht wird, also etwa die fortgesetzte Begehung von Straftaten faktisch durch die Strafverfolgungsmaßnahme verhindert wird. Solche Maßnahmen sind rein strafprozessualer Natur.
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2. Die Zuordnung einer Maßnahme zur Gefahrenabwehr oder zur Strafverfolgung ist irrelevant, denn in beiden Fällen ist der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Eine solche abdrängende Sonderzuweisung enthält § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG für Maßnahmen von Justizbehörden auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zu den ordentlichen Gerichten. Zu Maßnahmen der Strafrechtspflege zählen auch Maßnahmen, die zur Strafverfolgung getroffen werden. Unter Justizbehörden versteht man nach einem weiten, funktionellen Verständnis alle Behörden, die Justizaufgaben übernehmen und damit auch die Polizei.

3. Doppelfunktionale Maßnahmen sind immer der Gefahrenabwehr zuzuordnen.

Nein!

Die Kriterien zur Zuordnung einer doppelfunktionalen Maßnahme sind umstritten. Nach einer Ansicht sind doppelfunktionale Maßnahmen sowohl der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung zuzuordnen, sodass ein Betroffener beide Rechtswege bestreiten muss. Überwiegend wird jedoch angenommen, dass eine Abgrenzung anhand des objektiven Schwerpunkts der Maßnahme vorzunehmen ist (Schwerpunkttheorie). Die hierfür maßgebliche Betrachtung erfolgt ex ante anhand der Person eines verständigen Bürgers in der Position des Betroffenen. Der Gefahrenabwehr ist eine Maßnahme insbesondere dann zuzuordnen, wenn sie dem Schutz eines zum Vergleich mit der Strafverfolgung höherrangigen Rechtsgut dient. Eine weitere Ansicht hingegen meint, die Zuordnung habe nach dem subjektiven Willen der Polizei zu erfolgen. Hiergegen spricht, dass Folge hiervon wäre, dass eine oftmals nachträgliche Befragung der Polizisten über den Rechtsweg entscheiden würde. Der Wille der Polizei kann jedoch auch mit der objektiven Theorie ein Indiz für den Schwerpunkt der Maßnahme darstellen.

4. Die Durchsuchung der Wohnung sowie die Sicherstellung des Sprengstoffes sind der präventiven Gefahrenabwehr zuzuordnen.

Genau, so ist das!

Von Maßnahmen zur präventiven Gefahrenabwehr sind Maßnahmen zur repressiven Strafverfolgung abzugrenzen. Die Abgrenzung erfolgt anhand des objektiven Schwerpunkts der Maßnahme aus Sicht eines verständigen Bürgers in der Position des Betroffenen ex ante (Schwerpunkttheorie). Die Vorbereitung eines Verbrechens durch eine Sprengstoffexplosion und der Umgang mit Sprengstoff stellen Straftaten dar (vgl. § 310 Abs. 1 Nr. 2 StGB und § 40 Abs. 2 Nr. 1 SprenG). Für diese lag auch ein zur Strafverfolgung nötiger Anfangsverdacht gemäß § 152 Abs. 2 StPO vor. Die Durchsuchung der Wohnung und die Sicherstellung dient somit auch repressiven Zwecken. Ein verständiger Bürger in der Position des N musste jedoch erkennen, dass die Maßnahmen vor allem den Schutz der besonders hochrangigen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der potentiellen Opfer des Anschlags bezweckten. Der objektive Schwerpunkt lag somit in der präventiven Abwehr der von dem Anschlag ausgehenden Gefahren.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

18.7.2023, 21:49:22

Abs.II bei Art. 2 fehlt :)

LI

Lilyphant

21.7.2024, 16:41:14

Hallo, wenn ich bei einer Klausur über eine

doppelfunktionale Maßnahme

die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges prüfe, reicht dann die Bestimmung des Schwerpunktes der Maßnahme bei der abdrängenden Sonderzuweisung oder muss ich das schon bei der öffentlich-rechtlichen Streitigkeit aufgreifen? Ich bin immer etwas unsicher, an welchen Stellen die genaue Einordnung Auswirkungen haben kann.

Ina

Ina

27.8.2024, 09:15:31

Auch bei einer repressiven Maßnahme handelt es sich um eine öffentlich rechtliche Streitigkeit, da die öffentlich-rechtliche Norm z.B. § 163 I 2 StPO einen Hoheitsträger als solchen berechtigt oder verpflichtet. Die Überprüfung einer repressiven Maßnahme geht nur an die ordentlichen Gerichte, weil es eine abdrängende Sonderzuweisung nach

§ 23 EGGVG

gibt. D.h. man prüft es erst bei der abdrängenden Sonderzuweisung.

LI

Lilyphant

28.8.2024, 13:13:26

Vielen lieben Dank, das ergibt Sinn. :)


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