Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Verbot des Schächtens europarechtlich zulässig
Verbot des Schächtens europarechtlich zulässig
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Das belgische Parlament erlässt ein Tierschutzgesetz, das die betäubungslose Schlachtung von Tieren verbietet. Jüdische und muslimische Glaubensgemeinschaften sehen ihre Religionsfreiheit verletzt. Das belgische Verfassungsgericht zweifelt an der Vereinbarkeit mit EU-Recht.
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Einordnung des Falls
Verbot des Schächtens europarechtlich zulässig
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Zweifelt ein Gericht eines Mitgliedstaats an der Vereinbarkeit eines nationalen Rechtsakts mit EU-Recht, so kann bzw. muss das Gericht die Frage der Vereinbarkeit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Das belgische Gesetz könnte in Konflikt mit der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 stehen, die Vorschriften über die Tötung von Tieren in der Fleischproduktion enthält.
Ja!
3. Das belgische Verbot der Schlachtung von unbetäubten Tieren ist mit den Vorgaben der Verordnung vereinbar.
Genau, so ist das!
4. Das belgische Verbot der Schlachtung unbetäubter Tiere müsste auch mit der unionsrechtlich garantierten Religionsfreiheit (Art. 10 GRCh) vereinbar sein, wenn der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist.
Ja, in der Tat!
5. Die Geltendmachung einer Verletzung von Rechten der GRCh gegenüber mitgliedstaatlichen Regelungen ist ausgeschlossen. Die GRCh bindet die Organe und Einrichtungen der EU, nicht aber die Mitgliedstaaten.
Nein!
6. Da das belgische Tierschutzgesetz sich im Regelungsbereich der genannten EU-Verordnung bewegt, stellt es sich als Durchführung des Unionsrechts dar. Der Anwendungsbereich der GRCh ist eröffnet.
Genau, so ist das!
7. Da die Verordnung es den Mitgliedsstaaten freistellt, auf Ausnahmen für religiöse Riten bei der Tierschlachtung zur Fleischproduktion zu verzichten, ist ein Verstoß gegen die GRCh ausgeschlossen.
Nein, das trifft nicht zu!
8. Die Auslegung der GRCh vollzieht sich in Übereinstimmung mit der EMRK, das Schutzniveau der GRCh kann jedoch über das der EMRK hinausgehen.
Ja!
9. Die Prüfung einer Verletzung von Grundrechten der GRCh vollzieht sich strukturell im Wesentlichen entsprechend der Grundrechtsprüfung nach dem GG.
Genau, so ist das!
10. Der Konsum und die Produktion von Fleisch aus rituellen Schlachtungen ist vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GRCh erfasst.
Ja, in der Tat!
11. Solange der Import von rituell geschlachtetem Fleisch aus anderen EU-Staaten möglich bleibt, ist ein Eingriff in die Religionsfreiheit ausgeschlossen.
Nein!
12. Die Religionsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 GRCh ist von so hohem Rang, dass sie schrankenlos gewährt wird. Eine Rechtfertigung des Eingriffs scheidet daher aus.
Nein, das ist nicht der Fall!
13. Die Unionszielbestimmung des Tierschutzes (Art. 13 AEUV) stellt einen tragfähigen Rechtfertigungsgrund (legitimer Zweck) zur Einschränkung der Religionsfreiheit dar.
Ja, in der Tat!
14. Durch das Verbot betäubungslosen Schlachtens wird der Wesensgehalt von Art. 10 GRCh angetastet. Das belgische Gesetz ist schon aus diesem Grund mit Art. 10 GRCh unvereinbar.
Nein!
15. Der Eingriff muss auch verhältnismäßig, d.h. geeignet und erforderlich sein, und die dadurch bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.
Genau, so ist das!
16. Das Verbot muss auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Nach Ansicht des EuGH wiegt der Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) dabei allenfalls mittelschwer.
Ja, in der Tat!
17. Das Tierwohl (Art. 13 AEUV) ist ein Rechtsgut von hohem Rang und vorliegend schwerwiegend betroffen. Es kann den mittelschweren Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) rechtfertigen.
Ja!
18. Die jagdliche Tötung von Tieren ist vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen. Dass Jäger keiner Betäubungspflicht unterliegen, verstößt gegen die Diskriminierungsverbote der Art. 20ff. GRCh.
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
🦊LEXDEROGANS
3.2.2021, 00:24:35
Ob man aus einer Definition eine wirtschaftl. Größe ableiten darf (Rz. 88)?
Fahrradfischlein
17.2.2021, 15:56:43
Das finde ich auch zweifelhaft. Außerdem spielt das Fleisch als Wirtschaftsgut bei der Jagd mit Sicherheit auch eine nicht unwesentliche Rolle.
J.K.
8.7.2021, 12:45:46
Ja die Ausführungen des EuGH zum Diskriminierungsverbot überzeugen mich auch nicht. Noch bemerkenswerter finde ich, dass der EuGH überhaupt nicht adressiert, dass durch das ausnahmslose Verbot des Schächtens die Berufsfreiheit massiv beschränkt wird. Schächtende Metzger werden dabei eines Teils ihrer beruflichen Grundlage entzogen. Gerade diesen Aspekt hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Schächten (Urteil vom 15.01.2002 - 1 BvR 1783/99, BVerfGE 104, 377) in den Vordergrund gestellt.
Philipp Paasch
5.9.2022, 00:05:54
Dem EuGH fehlt wohl eine gewisse jüdische und islamische Sensibilisierung.
🦊LEXDEROGANS
3.2.2021, 00:26:07
Ein Vergleich mit der Jagd ist m. E. nicht ganz abwegig, zumal auch die Jagd unterschiedlich stark kulturell-religiös akzeptiert sein dürfte. (Schächtungsvorschriften verbieten ja gerade das gewaltsame Töten des Tieres auf der Verfolgungsjagd)
Eigentum verpflichtet 🏔️
4.2.2021, 00:27:56
Hey Lexderogans, da der Vergleich nicht abwegig ist, prüft ihn hier ja auch der EuGH. Er kommt allerdings mit der zitierten Begründung zu einem anderen Ergebnis. Es ist aus tierschutzrechtlicher Sicht wohl auch zu unterscheiden, dass beim Schächten das lebende Tier mittels Ausbluten zu Tode kommt. Damit ist üblicherweise ein deutlich höheres Maß an Qual verbunden, als mit einem (nach den Jagdregeln vorgeschriebenen) präzisen Schuss. Eine a.A. ist aber sicher vertretbar.
QuiGonTim
7.5.2021, 13:29:15
Im Ergebnis halte ich die Entscheidung des EuGH für richtig. Die Begründung hinsichtlich des Vergleichs zur Jagd ist aber doch etwas schwach. Man hätte auch auf die Gesamtumstände der Tötung abstellen können. Während das Tier im Rahmen der Jagd regelmäßig für dieses überraschend gerötet wird, sieht das Tier im Rahmen der betäubungslosen Schlachtung den Tod kommen, was zu einer enormen Erhöhung von Stress und Qual führt. Zudem handelt es sich im Falle der Jagd um Wildtiere, welche kaum stressarm und mit den Interessen der Fleischproduktion vereinbar betäubt werden können.
J.K.
8.7.2021, 12:47:27
Also die Entscheidung des BVerfG hierzu fällt ja interessanter Weise gerade anders aus… Gibt es unterschiedliche Schutzniveaus bei Art. 10 GRCh und Art. 4 GG?
Wendelin Neubert
9.7.2021, 18:17:15
Nach der Entscheidung wird man davon ausgehen müssen, dass zumindest eine unterschiedliche Gewichtung der Religionsfreiheit unter Art. 10 Abs. 1 GRCh einerseits und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG andererseits erfolgt. Konkret wirkt sich das so aus, dass unter der GRCh Eingriffe in die Religionsfreiheit leichter gerechtfertigt werden können. Die Entscheidung ist jedoch schwer verallgemeinerbar. Der EuGH befindet sich im Hinblick auf die EU-Grundrechte der GRCh offenkundig in einer Findungsphase… Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
René1337!
15.2.2021, 11:16:55
Das BVerfGG entscheidet auch über EU Recht / legt aus. Siehe Recht auf Vergessen ll Entscheidung: Eugh und bfverg teilen sich die kompetenz
Wendelin Neubert
20.1.2022, 18:33:07
Hallo René1337, danke für deinen Kommentar. Zur Präzision: Das Bundesverfassungsgericht ist auch dazu berufen, die Einhaltung von Unionsrecht durch deutsche Stellen zu überprüfen (vollkommen richtig weist du hier auf die Entscheidung „
Recht auf Vergessen II“ hin). Dass das Bundesverfassungsgericht auch Unionsrecht auslegt, ist mit Vorbehalt zu genießen: Allein der EuGH ist unionsrechtlich dazu befugt, mit Letztentscheidungskompetenz über die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu wachen (Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV). Andernfalls herrschte innerhalb der Union keine Rechtseinheit. Beste Grüße – Wendelin für das Jurafuchs-Team
cl@ra
18.6.2022, 22:29:29
Würde das BVerfG bei einer Verfassungsbeschwerde nicht anhand der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen, weil der Gesetzgeber in dem Bereich einen Gestaltungsspielraum hatte?
Nora Mommsen
6.7.2022, 12:58:54
Hallo cl@ra, vielen Dank für die Frage. Tatsächlich ist die Frage der Anwendbarkeit der GrCH zwischen BVerfG und EuGH umstritten. Eine Prüfung anhand der GRCH muss gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GRCh erfolgen, wenn es sich bei der fraglichen Maßnahme um Durchführung von Unionsrecht handelt. Der EuGH nimmt die Durchführung von Unionsrecht an, wenn die Maßnahme im Geltungsbereich des Unionsrecht liegt. Der dafür erforderliche hinreichende Zusammenhang ist gegeben, wenn sich aus den unionsrechtlichen Voschriften eine bestimmte Verpflichtung für die Mitgliedsstaaten ergibt. Das Bundesverfassungsrecht fordert eine unionsrechtliche Determinierung der Rechtslage, diese ist im Prinzip bei vollhamonisierenden Maßnahmen anzunehmen. Da es sich vorliegend um Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt, ist die Anwendbarkeit der GRCh gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 bejaht worden. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
cl@ra
6.7.2022, 13:35:31
Alles klar. Vielen Dank!
David.
28.8.2023, 17:39:19
Eine bzw. zwei Fragen dazu, grundsätzlich ist es ja so, dass bei nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Sachverhalten die Grundrechte der Mitgliedstaaten und diejenigen der Grch kumulativ anwendbar sind. Hätte der EuGH auch die belgischen Grundrechte prüfen können oder fehlt diesem dafür die Kompetenz? Und hätte das belgische Verfassungsgericht, wie bei der Recht auf Vergessen Entscheidung, die belgischen Grundrechte geprüft?