Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2021
Beschränkung des räumlichen Umfangs einer angemeldeten Versammlung wegen erwarteter Gewalt bei Gebäuderäumung
Beschränkung des räumlichen Umfangs einer angemeldeten Versammlung wegen erwarteter Gewalt bei Gebäuderäumung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Um die titulierte Räumung des Szenelokals M zu sichern, untersagt die Polizei die Nutzung des angrenzenden Straßenzugs für Versammlungen für 2 Tage mittels für sofort vollziehbar erklärter Allgemeinverfügung. A will gegen die Räumung und die Einschränkung an sich demonstrieren.
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Einordnung des Falls
Beschränkung des räumlichen Umfangs einer angemeldeten Versammlung wegen erwarteter Gewalt bei Gebäuderäumung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A hat Widerspruch gegen die Allgemeinverfügung erhoben. Im Eilrechtsschutz ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO) statthaft.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Antrag ist teilweise begründet, wenn die Sofortvollzugsanordnung formell rechtswidrig ist.
Ja!
3. Das Interesse an der sofortigen Vollziehung muss schriftlich begründet werden (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO). Die pauschale Wiedergabe der Begründung des Verwaltungsakts genügt dafür regelmäßig nicht.
Genau, so ist das!
4. Rechtsgrundlage für die Allgemeinverfügung ist § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz des Bundes (VersG).
Nein, das trifft nicht zu!
5. Die Allgemeinverfügung ist bereits rechtswidrig, da sie der Erlaubnisfreiheit von Versammlungen (hier im Fall § 13 VersFG Bln ) widerspricht.
Nein!
6. Der Tatbestand des § 14 Abs. 1 VersFG Bln ist erfüllt, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegt.
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Wegen einer möglichen Behinderung der Räumung und Verletzung des Gerichtsvollziehers und seiner Hilfspersonen sind die Unversehrtheit der Rechtsordnung und Individualrechtsgüter betroffen.
Ja, in der Tat!
8. Bei vorangegangenen Räumungen von Szeneobjekten war es regemäßig zu Störungen sowie Ausschreitungen gegen Beamte gekommen. Rechtfertigt dies die Prognose, dass eine unmittelbare Gefahr für die Unversehrtheit der Rechtsordnung und Individualrechtsgüter besteht?
Ja!
9. Die Versammlung gegen die Einschränkung der Versammlungsmöglichkeiten soll am Vortag der Räumung stattfinden. Daher besteht bei dieser Versammlung keine unmittelbare Gefahr für die Rechtsgüter.
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Zwar haben die Betreiber des Lokals zum Widerstand aufgerufen, dem sich auch überregionale Gruppen angeschlossen haben. Frühere von A veranstaltete Versammlungen liefen aber immer friedlich ab. Die Gefahrprognose ist daher fehlerhaft.
Nein, das trifft nicht zu!
11. Der Tatbestand von § 14 Abs. 1 VersFG Bln ist erfüllt. Auf Rechtsfolgenseite muss die Beschränkung insbesondere verhältnismäßig sein.
Ja!
12. Unmittelbar an die Sperrzone angrenzend und im Abstand von 40 Meter, kann die Versammlung stattfinden. Ist die Beschränkung der Versammlungsmöglichkeiten insoweit zur Sicherung einer ungehinderten Zwangsräumung angemessen?
Genau, so ist das!
13. Die Allgemeinverfügung ist nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtmäßig. Damit das öffentliche Aussetzungsinteresse überwiegt, ist aber ein besonderes Vollzugsinteresse erforderlich.
Ja, in der Tat!
14. Der Antrag ist begründet.
Nein!
15. Ein Hilfsantrag, die aufschiebende Wirkung nur für den Straßenabschnitt direkt gegenüber dem Lokal wiederherzustellen, hätte aufgrund der oben aufgeführten Erwägungen ebenfalls keinen Erfolg.
Genau, so ist das!
16. Der Antrag ist materiell begründet, soweit nach freier richterlicher Abwägung das Aussetzungsinteresse des A das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Genau, so ist das!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Vallowitz
9.8.2021, 10:34:30
Hallo! Warum stellen wir hier auf 80 II Nr.4 VwGO und nicht auf 80 II Nr.2 VwGO ab? Vielen lieben Dank ☺️
Ferdinand
9.8.2021, 11:19:01
§ 80 II 1 Nr. 2 VwGO erfasst nur unaufschiebbare Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten (Puttler in Sodan/Ziekow, Nomos Kommentar zur VwGO). Das bedeutet einerseits, dass Maßnahmen, die „am Schreibtisch“ getroffen werden, nicht erfasst sind (da keine VOLLZUGSbeamten). Andererseits ist bei schriftlich erlassenen Maßnahmen davon auszugehen, dass die Zeit reicht, um eine Anordnung nach § 80 II 1 Nr. 4 VwGO zu erlassen (widerlegbare Vermutung). Das schließt im Regelfall aus, dass es sich um eine „unaufschiebbare“ Maßnahme handelt.
Vallowitz
9.8.2021, 11:25:47
Vielen herzlichen Dank für die schnelle Hilfe 🤩
Yüksel Toprak
15.8.2021, 15:47:05
Danke für die schnelle Hilfe.
TeamRahad 🧞
17.10.2021, 10:22:57
Nach allem, was ich gelernt habe, ist der Obersatz zur
Begründetheitnicht ganz präzise/vollständig. Er müsste m.E. lauten: Der Antrag ist begründet, wenn die
Sofortvollzugsanordnung formell rechtswidrig ist und soweit (...). In der darauffolgenden Frage wird ja auch mit 80 III zunächst die formelle
Rechtmäßigkeitder SVA geprüft. Kann natürlich gut sein, dass das anderswo, insbesondere in anderen Bundesländern, anders gehandhabt wird :)
Lukas_Mengestu
17.10.2021, 18:34:52
Vielen Dank, TeamRahad. Wirklich klasse Hinweis, denn in der Tat war der Obersatz so nur auf die materielle
Begründetheitgemünzt. Das ist glücklicherweise auch mal in allen Bundesländern gleich :D. Wir haben die Aufgabentexte deswegen noch einmal bearbeitet. Ein wenig Vorsicht würde ich allerdings bei der Verwendung der Konjunktion "und" walten lassen. Denn die Fehler müssen nicht zwingend kumulativ vorliegen. Allerdings ist auch etwas umstritten, welche Folge es hat, wenn die Anordnung lediglich formell fehlerhaft ist (s. neuer Vertiefungstext). Einer meiner Ausbilder war damals übrigens Fan von der folgenden Wendung für die Gerichtsklausur: "Nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragsstellers ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn diese aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO entfällt. Bei bloß formellen Verstößen der Vollzugsanordnung kann dasa Gericht die Anordnung des
Sofortvollzugs auch aufheben. Letzteres war vorliegend nicht geboten, da .... [Prüfung der formellen
Rechtmäßigkeit, insb. Begründungspflicht] Inhaltlich (bzw. materiell) erfolgt die Entscheidung des Gerichts unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Abwägung der widerstreitenden Interessen des Antragsgegners, den erlassenen Verwaltungsakt möglichst umgehend vollziehen zu können, und des Antragsstellers, von diesem Vollzug zunächst verschont zu bleiben (im Anschluss daran noch die Varianten+Rechtsfolge: nach summarischer Prüfung a) offensichtlich rechtswidriger VA, b)offensichtlich rechtmäßiger VA + Vollziehungsinteresse, c) weder rechtmäßig, noch rechtswidrig) Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt hier das öffentliche Vollzugsinteresse (bzw. das private Aussetzungsinteresse) [+Begründung]" Damit hat man (sehr ausführlich) den Prüfungsmaßstab dargelegt, worauf gerade im Eilrechtsschutz besonders geachtet wird. Vielleicht hilft es Dir ja auch :) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
13.7.2022, 23:51:01
Klingt mal nach einem richtig durchdachten Obersatz, klasse. 👍
jomolino
12.4.2022, 14:17:59
Wie kann man denn die Gefahrenprognose hier bei den Corona Demos bzgl. Der Missachtung der Maskenpflicht, mit der hier in Vergleich setzen. Bei den Corona Demos war es ja so, dass argumentiert wurde dass allein der Verstoß bei Demos des gleichen Veranstalters keinen hinreichende Grundlage für eine entsprechende gefshrneprognose bietet, die zu einem verbot führen könnte. Hier reicht es dass sie ohne solche gewalttätigen Vorkommnisse glauben es könnte zu einer Verfestigung der Versammlung bis zum folgetag führen… Ist das nicht ein Fall von auf dem rechten Auge blind? Anders lässt sich mir das nicht erklären.
Lukas_Mengestu
13.4.2022, 19:11:38
Hallo nomamo, das ist auf jeden Fall eine spannende These. In dieser Pauschalität würde ich mich dem aber nur schwer anschließen können. Die Gefahrenprognose ist ja extrem von den jeweiligen Umstände des Einzelfalls abhängig. Im Hinblick auf Corona-Proteste sind eine Vielzahl von Entscheidungen ergangen, bei denen durchaus das Verhalten bei früheren Veranstaltungen in den Blick genommen wurde (vgl. VGH München, BeckRSS 2020, 14520; VGH Mannheim, BeckRS 2020, 8755). Aber sicher ist bei jeder Entscheidung kritisch zu prüfen, ob hier in der Gesamtabwägung eine zutreffende Prognose gestellt wurde - oder eben nicht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
GemäßigtSozialdemokratischerKoalabär
16.5.2022, 21:18:32
Bei teilweiser
Begründetheitdes Antrags: Wenn das Gericht statt die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen nur die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufhebt - wie würde man die Kosten aufteilen bzw. tenorieren?
Lukas_Mengestu
14.6.2022, 19:19:01
Hallo GemäßigtSozialdemokratischerKoalabär, auch im Hinblick auf die Kostenverteilung ist die Rechtsprechung nicht unbedingt stringent, sondern geht davon aus, dass obwohl der Antrag insoweit nur teilweise begründet ist, der Antragsgegner die vollen Kosten tragen muss (vgl. VGH München (20. Senat), Beschl. v. 06.09.2021 – 20 CS 20.2344, BeckRS 2021, 27770 = https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2021-N-27770?hl=true). Vertritt man dagegen, dass bereits formelle Fehler zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung führen, so ergibt sich dies ohne weiteres aus § 154 Abs. 1 VwGO. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team