Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2022

Niedriger Beweggrund bei Tötung des Beziehungspartners (BGH, Beschl. v. 6.12.2022 − 5 StR 479/22)

Niedriger Beweggrund bei Tötung des Beziehungspartners (BGH, Beschl. v. 6.12.2022 − 5 StR 479/22)

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

F trennt sich von ihrem Partner P. Sie sagt ihm deutlich: „Es ist aus und vorbei!“ Zwei Tage später lauert P ihr auf und sticht ihr ein Messer in den Rücken, um sie zu töten. F überlebt schwer verletzt.

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Einordnung des Falls

Niedriger Beweggrund bei Tötung des Beziehungspartners (BGH, Beschl. v. 6.12.2022 − 5 StR 479/22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. P könnte sich wegen versuchten Mordes strafbar gemacht haben, indem er F von hinten in den Rücken stach (§§ 211 Abs. 2, 22, 23 StGB).

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach §§ 211 Abs. 2, 22, 23 StGB sind: (1) Vorprüfung: Nichtvollendung und Strafbarkeit des Versuchs (2) Tatentschluss (3) Unmittelbares Ansetzen (4) Rechtswidrigkeit (5) Schuld (6) Kein Rücktritt
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2. Die Vorprüfung ergibt, dass eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht kommt.

Ja, in der Tat!

Eine Tat kann nur dann als Versuch strafbar sein, wenn sie nicht vollendet und der Versuch des Delikts strafbar ist. Beides ist in der Vorprüfung festzustellen. F hat überlebt, die Tat ist nicht vollendet. Ein Mord ist ein Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB), der Versuch demnach gemäß § 23 Abs. 1 StGB strafbar.In einem so offensichtlichen Fall wie hier, solltest Du die Vorprüfung in der Klausur ganz knapp fassen.

3. P müsste mit Tatentschluss gehandelt haben.

Ja!

Der Täter handelt mit Tatentschluss, wenn er Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale hat und eventuell bestehende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale erfüllt.

4. Es fehlt bereits an Ps Tatentschluss bezüglich der Tötung der F.

Nein, das ist nicht der Fall!

Zunächst müsste der Täter mit Tatentschluss bezüglich der Tötung eines Menschen gehandelt haben. P stach F ein Messer in den Rücken mit der Absicht, F auf diese Weise zu töten. P handelte mit Tatentschluss bezüglich der Tötung.

5. P müsste weiterhin mit Tatentschluss bezüglich mindestens eines Mordmerkmals gehandelt haben. Handelte P mit Tatentschluss bzgl. einer heimtückischen Vorgehensweise (§ 211 Abs. 2, Gr. 2, Var. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Heimtückisch handelt, wer die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung ausnutzt.P hat F aufgelauert und sie von hinten angegriffen. F hat sich nicht eines Angriffs versehen und war infolgedessen wehrlos. Genau das wollte P durch sein Handeln in feindlicher Willensrichtung ausnutzen und wollte so heimtückisch handeln.

6. Kann das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe” (§ 211 Abs. 2 Gr. 3 Var. 4 StGB) grundsätzlich auch neben andere Mordmerkmale treten?

Ja!

Niedrige Beweggründe sind solche Motive, die nach sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen. Ob sie vorliegen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu bewerten.Ein Täter kann bei derselben Tat grundsätzlich mehrere Mordmerkmale gleichzeitig verwirklichen – so kann dieselbe Tat zum Beispiel grausam und aus Habgier geschehen. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe kann dabei neben die anderen spezielleren Mordmerkmal treten. Grundsätzlich ist das Merkmal der niedrigen Beweggründe aber restriktiv auszulegen.

7. Bei Tötungsversuchen, die aufgrund einer vorangegangenen Trennung geschehen, scheidet das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe von vornherein aus.

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch bei Tötungsversuchen nach Trennungen muss auf das genaue Motiv geschaut werden. Für die Annahme niedriger Beweggründe kann laut BGH vor allem sprechen, dass der Täter (1) dem anderen Teil aus übersteigertem Besitzdenken das Lebensrecht abspricht, (2) den berechtigten Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben bestrafen will oder (3) handelt, weil er die Trennung nicht akzeptiert und eifersüchtig ist (RdNr. 6). Gegen das Vorliegen eines niedrigen Beweggrundes kann sprechen, dass die Trennung zu tatbestimmenden und tatauslösenden Gefühlen der Verzweiflung und inneren Ausweglosigkeit geführt hat (RdNr. 6).

8. In der Vergangenheit hatte der BGH regelmäßig geurteilt, dass es gegen niedrige Beweggründe spreche, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“ (BGH 2 StR 349/08). War dies unumstritten?

Nein, das trifft nicht zu!

Teile der Literatur hatten dies heftig kritisiert. Der Deutsche Juristinnenbund etwa betonte, das Motiv, der Täter verlöre das Objekt seiner Beherrschungswünsche, dürfe nicht als nachvollziehbarer Tötungsgrund gewertet werden. Dies widerspräche auch der Istanbulkonvention.Die Zahl von Frauen, die durch einen Partner oder Ex-Partner insbesondere in Trennungssituationen getötet werden, ist hoch: nach Angaben des Bundesministerium des Innern starben in Deutschland 155 Frauen allein im Jahr 2023 auf diese Weise (Stichwort: Femizid). Auch unter dem Gesichtspunkt, dass diese Gewalt bekämpft werden muss, wurde in der Literatur kritisiert, dass die Taten mangels niedrigem Beweggrund oft nicht als Mord eingeordnet würden.

9. Die Trennung ging von F aus. Spricht das nach dem BGH dafür, dass das Vorliegen niedriger Beweggründe abzulehnen ist?

Nein!

So hatte noch das LG Kiel geurteilt: die Tatsache, dass die Trennung von der Geschädigten ausging und diese dem Täter unmissverständlich klar gemacht habe, dass die Beziehung vorbei sei, spreche als Indiz gegen niedrige Beweggründe. Der BGH ist dem entgegengetreten: dass die Trennung von F ausging, spräche allein nicht gegen die Annahme niedriger Beweggründe. Es sei „mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und den Werten des durchweg auf Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und gegenseitige personelle Achtung angelegten deutschen Rechts […] unvereinbar, der legitimen Inanspruchnahme des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben eine derartige Relevanz für die sozialethische Bewertung des Tötungsmotivs zuzusprechen” (RdNr. 7).

10. Weil P mit Tatentschluss bezüglich einer heimtückischen Begehung handelte, hat er sich im Ergebnis wegen versuchten Mordes strafbar gemacht (§ 211 Abs. 2 StGB), unabhängig davon, ob das Vorliegen niederer Beweggründe bejaht wird oder nicht.

Genau, so ist das!

P hat unmittelbar zur Tat angesetzt, indem er F das Messer in den Rücken stach. Er handelte dabei rechtswidrig und schuldhaft und ist nicht mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurück getreten.Der BGH hat in seinem Beschluss moniert, dass das LG die niedrigen Beweggründe mit einer rechtsfehlerhaften Begründung abgelehnt hatte. Da allerdings nur der Angeklagte in Revision gegangen war und ihn dieser Fehler nicht beschwerte, wurde die Sache wegen des sog. Verschlechlechterungsverbots nicht zum LG zurück verwiesen.In einer Klausur müsstest Du die niedrigen Beweggründe auf jeden Fall positiv feststellen. Dafür solltest Du im Sachverhalt dann aber mehr Angaben über das spezifische Tötungsmotiv finden.

11. P hat sich wegen versuchten Mordes strafbar gemacht (§ 211 Abs. 2 StGB). Scheidet eine weitere Strafbarkeit des P aus?

Nein, das trifft nicht zu!

In Betracht kommt eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 3, Nr. 5 StGB).P hat F durch den Messerstich körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Er stach ihr mit einem Messer in den Rücken und beging die Tat damit mit einem gefährlichen Werkzeug. Zudem lauerte er der arglosen F für die Tat auf und verletzte F so mittels eines hinterlistigen Überfalls. F überlebte nur schwer verletzt. P beging die Tat auch mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung. P hat sich wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 3, Nr. 5 StGB) strafbar gemacht. Vergiss die Konkurrenzen nicht! Die gefährliche Körperverletzung steht in Tateinheit (§ 52 StGB) zum versuchten Mord. Die einfache Körperverletzung tritt im Wege der Spezialität zurück.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

EV

eviiimaria

19.10.2024, 15:59:51

Vielen Dank für den Fall! Ich finde die Argumentation des BGH gegen niedrige Beweggründe unfassbar ignorant.. Anmerkung: Vielleicht könntet ihr noch den Begriff Femizid in die Vertiefung mit aufnehmen.

KI

kithorx

19.10.2024, 19:49:30

Der Begriff findet in der Aufgabe Erwähnung! Ich habe jedoch ein Fragezeichen bezüglich einer etwaigen rechtlichen Qualität dieses Begriffs. Ein Mord kann ja nicht strafrechtlich schwerer wiegen aus dem Grund, dass er gegen eine Frau gerichtet ist.

EV

eviiimaria

20.10.2024, 04:41:16

My Fault! Habs wohl überlesen:/ Was den Begriff angeht, verstehe ich nicht wieso du von einem "schwerwiegenderen" Mord ausgehst? Der Begriff beschreibt nur eine "Fallgruppe", damit geschlechtsspezifische Gewalt, hier Tötung, nicht als Totschlag gewertet wird, und es sich eben nicht um "Beziehungstaten/Familiendramen" etc. handelt, wie es die Medien immer so schön schreiben..

LELEE

Leo Lee

20.10.2024, 14:40:00

Hallo eviiimaria, vielen Dank für den sehr wichtigen Hinweis und die sehr gute und wichtige Frage! Femizid haben wir nunmehr als Stichwort mit aufgenommen. Bzgl. deiner Anmerkung: Obwohl die Entscheidung aus dem Jahre 2008 stammt, können BGH-Entscheidungen manchmal etwas sauer aufstoßen, zumal die Richter auch immer zu einem gewissen Grad kriminalpolitisch entscheiden müssen. Beim Mord ist es natürlich umso wichtiger, auch den Täter entlastende Umstände zu erwähnen, weil allgemein bei diesem Tatbestand aufgrund Lebenslänglichkeit eine restriktive Auslegung geboten ist. In dieser Entscheidung konzentrierte sich der Senat zudem auf den Umstand, dass die Verzweifelung u.U vergleichbar sein kann wie etwa Wut und Ärger, die auch nicht zwingend als niedere Gründe eingestuft werden müssen. Allerdings würde man - zumindest nach heutiger Auffassung dieses MMs - bei Wut und Ärger ebenfalls subsumieren, dass der Besitzgedanke, worauf diese beiden Emotionen basieren können, ebenfalls nicht nachvollziehbar ist. Insofern ist der "fade Beigeschmack", den du nennst, völlig berechtigt. Allerdings bleibt natürlich abzuwarten, ob der BGH bei seiner nächsten Leitentscheidung zu diesem Thema eine Änderung bzw. Modifikation vornehmen wird, zumal die Zeiten sich auch geändert haben. Jurafuchs wird selbstverständlich diese Änderung verfolgen und ggf. hier auch updaten :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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