Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2024
Freiwilligkeit des Rücktritts bei Notruf aus Angst vor Strafe? (BGH, Urteil vom 10.01.2024 - 6 StR 324/23)
Freiwilligkeit des Rücktritts bei Notruf aus Angst vor Strafe? (BGH, Urteil vom 10.01.2024 - 6 StR 324/23)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T will O töten und schlägt mit einem Hammer auf ihn ein. Er erschrickt so vor Os Verletzungen, dass er ablässt. T glaubt, O wird ohne Hilfe sterben. Aus Angst vor den strafrechtlichen Folgen gerät T in Panik. Ohne klar denken zu können erzählt T der P, O sei von einem Dritten angegriffen worden. P ruft einen Krankenwagen, wodurch O überlebt.
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Einordnung des Falls
Freiwilligkeit des Rücktritts bei Notruf aus Angst vor Strafe? (BGH, Urteil vom 10.01.2024 - 6 StR 324/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T könnte sich eines versuchten Totschlags strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 22 StGB).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. T handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. Ist die Prüfung der Versuchsstrafbarkeit damit abgeschlossen?
Nein!
3. Der Rücktritt kommt nur in Betracht, wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen ist. Ist der Versuch aus Ts Sicht fehlgeschlagen?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Als T von O abließ, ging T davon aus, dass O sterben würde. Kommt daher nur der Rücktritt vom beendeten Versuch in Betracht (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB)?
Ja, in der Tat!
5. Liegt ein beendeter Versuch vor, reicht es für den Rücktritt aus, dass der Täter die weitere Tatausführung freiwillig aufgibt (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB).
Nein!
6. Dass T der P von Os Verletzungen erzählt, war zunächst kausal für die Rettung der O. Könnte es hier jedoch fraglich sein, ob T den Os Tod freiwillig verhindert hat?
Genau, so ist das!
7. T hat sich eines versuchten Totschlags strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 22 StGB).
Ja, in der Tat!
8. Zur Bestimmung der Freiwilligkeit des Rücktritts werden verschiedene Ansichten vertreten.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
K30Josh06
27.6.2024, 17:36:58
Zwar denke ich, das eine ausführliche Darstellung widerstreitender Meinungen den Rahmen der App sprengt, allerdings finde ich es bei äußerst umstrittenen Themen (wie beispielsweise hier die Freiwilligkeit) sinnvoll, zumindest kurz noch auf die andere Ansicht einzugehen. Vorliegend hätte man neben der psychologischen Betrachtungsweise der Rechtsprechung noch kurz und gebündelt auf die normativen Deutungen des Freiwilligkeitsbegriffs eingehen können.
Linne_Karlotta_
3.7.2024, 11:50:33
Hallo @[K30Josh06](149583), danke für den Hinweis. Die Problematik der Freiwilligkeit findest Du umfassend dargestellt in unserem AT-Kurs: https://applink.jurafuchs.de/HggISt3yVKb Ich habe die Aufgaben nun auch als Vertiefung in der Falllösung verlinkt. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
Amelie
29.8.2024, 16:43:01
Ich werde mir die Freiwilligkeit wohl nochmal angucken müssen, aber ich finde das Ergebnis etwas verwirrend. Vielleicht kann mir ja jemand helfen. Nehmen wir an, anders als im Beispiel T, gibt es einen T2, der schon etwas "abgehärteter ist". Wie wäre das Ergebnis, wenn T2 nicht so schockiert wäre von seiner Tat aber trotzdem P sagen würde, dass O von einem Dritten angegriffen wurde? Dann läge wieder Kausalität für die Rettung vor; wäre dies dann freiwillig und somit Rücktritt (+)? Das scheint mir irgendwie unbillig, dass T (der nicht mit der Situation klar kommt) aber objektiv die gleichen Schritte zur Rettung einleitet als T2 (der "abgehärteter" ist) nicht zurücktreten kann, T2 aber schon. Wo liegt da mein Verständnisknoten?
Dominik
29.8.2024, 19:48:31
Kurz gesagt: Ja. Denn der T2 aus deinem Beispiel würde die Vollendung der Tat durch seine willensgesteuerte Entscheidung verhindern. Der BGH geht in der Entscheidung davon aus, dass der Freiwilligkeitsmaßstab des unbeendeten Versuchs auch auf den beendeten Versuch anzulegen ist. Danach muss die Aufgabe oder Verhinderung vom Willen des Täters getragen werden. Im übrigen sollte es auch gerade dem abgehärteten Täter (T2) zugute kommen, wenn dieser die Vollendung verhindert. Im Ausgangsfall war es letztlich Zufall, dass es nicht zu einer Vollendung gekommen ist. Mithin wäre es unbillig, wenn dem T zugute kommen würde, dass dieser mit der (durch ihn herbeigeführten) Situation nicht mehr klarkommt.
Amelie
29.8.2024, 22:56:48
Danke Dominik!
Leo Lee
1.9.2024, 17:56:19
Hallo Amelie, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Vorab: Ich finde nicht, dass ein "Verständnisknoten" vorhanden ist. Wie Dominik bereits ausgeführt hat, ist einer der Zwecke des Rücktritts, denjenigen Täter zu belohnen, der seine kriminelle Energie zurücknimmt und das Opfer schützt, obwohl er dies theoretisch nicht müsste. Und je "kälter" ein Täter ist, desto höher ist auch seine kriminelle Energie. Deshalb wird er auch belohnt, wenn er trotz dieser Energie aus freien Stücken die Tat verhindert. Das klingt natürlich etwas ungerecht, aber wenn der "eiskalte" Täter sich trotzdem dafür entscheidet, die Tat zu verhindert, ist diese Entscheidung gewissermaßen "umso hehrer", als wenn der Täter dies tut, ohne wirklich den freien Willen hierzu zu haben. Dies ist auch teilweise der Anknüpfungspunkt für Roxins "
Verbrechervernunft" (Mindermeinung). Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 4. Auflage, Hoffmann-Holland § 24 Rn. 103 ff. sehr empehlfen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Ray
22.11.2024, 10:56:58
Sollte man nicht direkt den beendeten vom unbeendeten Versuch abgrenzen? Dann kann ich darstellen, ob der Schlag mit dem Hammer einen versuchten Totschlag nach §§ 212 I, 22, 23 I StGB darstellen könnte und durch das Weggehen eventuell ein
versuchter Totschlag durch Unterlassennach §§ 212 I, 22, 23 I, 13 I StGB gegeben ist. Danke sehr für die Mühen im Voraus :D!
Lorenz
22.11.2024, 11:10:57
Ob der Versuch beendet oder unbeendet ist, ist eine Frage des Rücktritts. Das bereits beim Versuch zu prüfen, ist systematisch nicht passend. Einerseits ist die Tatentschlussprüfung bereits recht umfangreich, u.a. wenn auch noch die
Garantenstellunggeprüft werden muss. Zudem hätte man dann schon etwas geprüft, was bei einem Fehlschlag gar nicht zu prüfen wäre. Harte Prüfer schreiben dann „fehlendes Systemverständnis“ an den Rand, was u.U. 3 Punkte bedeutet.
Ray
22.11.2024, 11:14:02
Vielen Dank für die schnelle Bantwortung der Frage, Lorenz! Habe ich dich richtig verstanden, dass du in der Prüfung gar nicht darauf eingehen würdest, ob hier zwei
Tathandlungen vorliegen?
Lorenz
22.11.2024, 11:23:53
Das prüfe ich im Tatbestand bzw. Tatentschluss des T. Aber tatsächlich bezieht sich sowohl der Tatentschluss als auch der (un-)beendete Versuch auf die Vorstellung des T, sodass man zu einer widerspruchsfreien Lösung kommen sollte.
Ray
22.11.2024, 11:29:44
Klasse ! Ich hatte es mit dem fehlgeschlagenen Versuch bei mehraktigen Geschehen verwechselt - hier läge aber auch ein verbundenes, örtliches und zeitlich einheitliches Geschehen vor, sodass es gar kein Unterschied macht. Danke dir, Lorenz :D.