Toilettenpapier-Fall (LG Hanau NJW 1979, 721): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Toilettenpapier-Fall (LG Hanau NJW 1979, 721): Lehrerin bestellt versehentlich zu viele Toilettenpapierrollen.
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Schulleiterin K bestellt bei V „25 Gros Rollen“ Toilettenpapier für den Schulbedarf. Auf dem ausgefüllten Bestellschein steht „Gros = 12 x 12“. Bei Anlieferung verweigert K Annahme und Bezahlung der 3.600 gelieferten Rollen. Tatsächlich wollte sie 25 „große“ Rollen bestellen.

Einordnung des Falls

Der reichlich kuriose Toilettenpapier-Fall wurde vom LG Hanau im Jahr 1979 entschieden. Inhaltlich ging es dabei um die Abgrenzung zwischen Inhalts- und Erklärungsirrtum (§ 119 Abs. 1 BGB) im Rahmen der Anfechtung sowie das Verhältnis der Anfechtung zum Kaufmängelgewährleistungsrecht. Der Fall handelt von einer Schulleiterin, die statt 25 „großen“ Toilettenpapierrollen, 25 „Gros“ Rollen und damit 3.600 Rollen (Gros = 12x12) bestellte. Das Gericht entschied, dass sie insoweit einem Inhaltsirrtum unterlegen war, der ungeachtet der Vermeidbarkeit zur Anfechtung berechtigte.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist eine Anfechtung durch K ausgeschlossen? Gilt der Vorrang der Sachmängelgewährleistung (§§ 434ff. BGB)?

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Nein, das trifft nicht zu!

Das Eingreifen der Vorschriften über die Mängelhaftung setzt eine Übergabe voraus. Greifen die Mängelrechte schließen diese nur die Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums (§ 119 Abs. 2 BGB) aus, nicht die Anfechtung wegen Inhalts-/Erklärungsirrtums (§ 119 Abs. 1 BGB) und Täuschung/Drohung (§ 123 BGB), da insoweit unterschiedliche Schutzzwecke verfolgt werden (Weidenkaff, in: Palandt, 77.A. 2018, § 437 RdNr. 53).Es ist nicht zu einer Übergabe gekommen. Daher greifen die Mängelgewährleistungsvorschriften nicht. Es ist kein Anfechtungsgrund ausgeschlossen.

2. Erklärte K, was sie erklären wollte, war jedoch über die Bedeutung ihrer Erklärung im Irrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB (Inhaltsirrtum))?

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Ja!

Beim Inhaltsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB) entspricht zwar der äußere Erklärungstatbestand dem Willen des Erklärenden, er irrt aber über die Bedeutung der Erklärung. K irrte über die Bedeutung des Begriffes „Gros“ und damit über den Umfang des Geschäftsgegenstandes. Sie unterlag einem Inhaltsirrtum. Inhaltsirrtum: „Der Erklärende weiß, was er sagt, aber nicht, was er damit sagt.“

3. Wollte K eine Erklärung des Inhalts „25 Gros“ nicht abgeben (§ 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB (Erklärungsirrtum))?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Beim Erklärungsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB) will die Person eine Erklärung dieses Inhalts gar nicht abgeben. Dies ist typischerweise der Fall beim Versprechen, Verschreiben, Vertippen. K hat sich nicht verschrieben. Sie wollte die Erklärung 25 Gros abgeben.

4. Hätte K insbesondere wegen des Hinweises auf dem Bestellschein „Gros = 12 x 12“ die wahre Bedeutung von „Gros“ kennen können`Schließt diese Fahrlässigkeit ihr Anfechtungsrecht aus?

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Nein, das trifft nicht zu!

Die Frage, ob der Erklärende den Irrtum verschuldet hat, ist für die Anfechtung irrelevant. Wird die Anfechtung innerhalb der Frist (§ 121 Abs. 1 BGB) gegenüber dem richtigen Gegner erklärt (§ 143 BGB), ist die Willenserklärung und damit auch der Vertrag mit Wirkung ex tunc, also rückwirkend, nichtig (§ 142 Abs. 1 BGB). K kann den Kaufvertrag wegen Inhaltsirrtums anfechten. Der Anfechtende haftet gegenüber dem Geschäftsgegner jedoch verschuldensunabhängig auf Ersatz des Vertrauensschadens (§ 122 Abs. 1 BGB). Trifft ihn ein Verschulden, ist auch die Haftung aus c.i.c. (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) möglich.

5. Ist zwischen K und V, ausgelöst durch die Bestellung der K, ein Kaufvertrag über (25 x 12 x 12 =) 3.600 Rollen Toilettenpapier (§ 433 BGB) zustande gekommen?

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Ja!

Der Anspruch des Verkäufers auf Kaufpreiszahlung (§ 433 Abs. 2 BGB) setzt einen wirksam geschlossenen Kaufvertrag. Das erfordert eine Einigung in Form zweier übereinstimmender Willenserklärungen. Die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) ergibt hier, dass K durch Ausfüllen des Bestellscheins ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrags über 3.600 Rollen abgegeben hat. Ihr wirklicher Wille, nur 25 Rollen bestellen zu wollen, ist im Rahmen der Auslegung unbeachtlich. Mit der Annahme durch V ist ein Kaufvertrag über 3.600 Rollen wirksam entstanden.

6. Hätte K ihre Willenserklärung auch bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles abgegeben (§ 119 Abs. 1 BGB)?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Anfechtbar ist die Erklärung nur, wenn der Irrtum für sie ursächlich war. Dies setzt voraus, dass der Erklärende die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung so nicht abgegeben hätte. LG Hanau: Hätte K gewusst, dass unter einem „Gros“ 12 Dutzend zu verstehen sind, hätte sie kein Angebot über „25 Gros“ erklärt. Dies ergebe sich schon daraus, dass die Menge den Schulbedarf über Jahre gedeckt hätte und im Hinblick auf fehlende Lagerkapazität und die jährliche Haushaltsabrechnung völlig unüblich sei.

Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Anfechtung (§§ 119ff. BGB)?

  1. Zulässigkeit der Anfechtung
  2. Anfechtungsgrund (§§ 119, 120, 123 BGB)
  3. Anfechtungserklärung (§ 143 BGB)
  4. Anfechtungsfrist (§§ 121, 124 BGB)
  5. Kein Ausschluss der Anfechtung (§ 144 BGB)

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