Zivilrecht

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Entscheidungen von 2021

Widerrufsrecht bei Vertrag über Lieferung und Montage eines individuell angefertigten Kurventreppenlifts

Widerrufsrecht bei Vertrag über Lieferung und Montage eines individuell angefertigten Kurventreppenlifts

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Privatfrau S bestellt auf der Website des V einen Kurventreppenlift, dessen Schienen V an die exakten räumlichen Gegebenheiten bei S anpasst (9.500€) und vor Ort montiert (500€). Daraufhin erklärt S gegenüber V den Verbraucherwiderruf.

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Einordnung des Falls

Widerrufsrecht bei Vertrag über Lieferung und Montage eines individuell angefertigten Kurventreppenlifts

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Niedersachsen 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S könnte ein Verbraucherwiderrufsrecht zustehen (§ 312g Abs. 1 BGB). Die §§ 312a-312h BGB sind auf den Vertrag zwischen S und V anwendbar.

Ja!

Ein Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Anwendbarkeit der §§ 312a-312h BGB; (2) außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag oder Fernabsatzvertrag; (3) keine Bereichsausnahme (§ 312g Abs. 2, Abs. 3 BGB). Die Anwendbarkeit der §§ 312-312h BGB setzt einen Verbrauchervertrag voraus (§ 310 Abs. 3 BGB), der den Verbraucher zur Zahlung eines Preises verpflichtet (§ 312 Abs. 1 BGB) und keiner Bereichsausnahme unterfällt (§ 312 Abs. 2 BGB). Ein Verbrauchervertrag liegt vor, denn S ist Verbraucherin (§ 13 BGB) und V Unternehmer (§ 14 BGB). S ist zur Zahlung eines Preises verpflichtet. Anhaltspunkte für eine Bereichsausnahme liegen nicht vor (§ 312 Abs. 2 BGB).
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2. Der Vertrag zwischen S und V ist ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag (§ 312b Abs. 1 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag (sog. Außergeschäftsraumvertrag) setzt eine vorvertragliche Kommunikation bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit beider Vertragsparteien voraus (§ 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1-3 BGB). Von dieser Regel gilt nur in den seltenen Sonderfällen des § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BGB eine Ausnahme. Der Vertragsschluss fand online statt. S und V waren zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig persönlich anwesend. § 312b BGB soll den Verbraucher vor Überrumplung an untypischen Orten schützen. § 312b BGB (Außergeschäftsraumvertrag) und § 312c BGB (Fernabsatzvertrag) schließen sich bis auf eine minimale Schnittmenge gegenseitig aus (Wendehorst, in: MüKoBGB, 8.A. 2019, § 312b RdNr. 56).

3. Der Vertrag zwischen S und V ist ein Fernabsatzvertrag (§ 312c Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Die Voraussetzungen eines Fernabsatzvertrags sind (§ 312c Abs. 1 BGB): (1) Vertragsverhandlung und Vertragsschluss unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln im Sinne des § 312c Abs. 2 BGB und (2) Vertragsschluss im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems. S und V haben ausschließlich Fernkommunikationsmittel genutzt. Das Vorliegen eines sogenannten organisierten Fernabsatzsystems ist zu vermuten („es sei denn“, § 312c Abs. 1 Hs. 2 BGB). Zur Reichweite dieser Vermutung empfehlen wir Dir diesen Fall.

4. Das Verbraucherwiderrufsrecht der S ist aufgrund einer Bereichsausnahme ausgeschlossen, da der Treppenlift auf die persönlichen Bedürfnisse der S zugeschnitten ist (§ 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB - lesen!).

Nein!

Die Bereichsausnahme des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB setzt (1) einen Vertrag zur Lieferung von Waren voraus (Hs. 1). Diese Ware muss zudem besonderen (2) Kundenspezifikationen entsprechen (Hs. 2). Selbst wenn der Treppenlift auf die persönlichen Bedürfnisse der S zugeschnitten wäre, ergäbe sich hieraus allein noch keine Bereichsausnahme nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB. Die Gefahr liegt darin, das erste der zwei Tatbestandsmerkmale zu unterschlagen (vgl. RdNr. 15). Durch sorgfältige Gesetzeslektüre gelingt Dir aber die entscheidende Weichenstellung zu den zwei Kernproblemen des Falls, die wir im Folgenden besprechen.

5. Ein Vertrag zur Lieferung von Waren (§ 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB) können Kaufverträge, Werklieferungsverträge, Werkverträge und Dienstverträge sein.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Merkmal „Vertrag zur Lieferung von Waren“ ist anhand der Verbraucherrechterichtlinie (2011/83/EU, VR-RL) unionsrechtskonform auszulegen. Ihr zufolge soll die Bereichsausnahme des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB nur Kaufverträge im Sinne der Richtlinie erfassen (Art. 16 lit. c) VR-RL). Das sind Verträge, die ausschließlich auf eine Eigentumsübertragung oder auf eine Eigentumsübertragung und eine zusätzliche Dienstleistung gerichtet sind (Art. 2 Nr. 5 VR-RL). Diese Voraussetzungen erfüllen nach deutschem Recht nur Kaufverträge (mit Montageverpflichtung) und Werklieferungsverträge (RdNr. 18). Demgegenüber klassifiziert die Richtlinie Werkverträge (§ 631 BGB) und Dienstverträge (§ 611 BGB) nicht als „Kaufverträge“, sondern als „Dienstverträge“ (Art. 2 Nr. 6 VR-RL) (RdNr. 17).

6. Der Vertrag zwischen S und V ist kein Werklieferungsvertrag (§ 650 BGB), sondern ein Werkvertrag (§ 631 BGB) und kann daher kein "Vertrag zur Lieferung von Waren" sein (§ 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen Werklieferungsvertrag und Werkvertrag ist der Leistungsschwerpunkt, der bei einem Werkvertrag auf Herstellung, Einbau oder Einpassung eines individuellen Anforderungen entsprechenden Werks liegt und bei einem Werklieferungsvertrag auf der Eigentums- und Besitzübertragung. Die Zuordnung des Leistungsschwerpunkts erfolgt im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung anhand folgender Kriterien: (1) Art des Gegenstands; (2) Preisverhältnis zwischen Lieferung und Montage; (3) Aufwand für Entwurf und Planung; (4) Besonderheiten des geschuldeten Ergebnisses (RdNr. 22f.). BGH: Im konkreten Fall überwiege ein hoher Planungsaufwand den geringen Montagekostenanteil (5%). Die Eigentumsübertragung an den Komponenten sei ein untergeordneter Zwischenschritt für den Einbau eines funktionsfähigen Werks (RdNr. 26, 32). Obigen Maßstab solltest Du Dir einprägen, denn die Entscheidung zwischen Kauf- und Werkvertragsrecht hat (für die Klausur) weitreichende Folgen. Prominentes Fallbeispiel sind Einbauküchen.

7. Die Bereichsausnahme des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB gilt nicht für Werkverträge. S steht ein Verbraucherwiderrufsrecht zu (§ 312g Abs. 1 BGB).

Ja!

Das Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Anwendbarkeit der §§ 312a-312h BGB, (2) außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag oder Fernabsatzvertrag, (3) kein Ausschluss nach § 312g Abs. 2, Abs. 3 BGB. Werkverträge werden ebenso wie reine Dienstverträge von der Bereichsausnahme des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht erfasst. Der Anwendungsbereich der §§ 312a-312h BGB ist eröffnet. S und V haben einen Fernabsatzvertrag geschlossen. Da es sich um einen reinen Werkvertrag handelt, ist auch keine Bereichsausnahme einschlägig. Die Prüfung von Gestaltungsrechten wie einem Widerruf folgt stets demselben Schema: 1) Grund; 2) Erklärung; 3) Frist; 4) Form; 5) Ausschlussgründe. Der Widerruf ist vorliegend binnen einer Frist von 14 Tagen (§ 355 Abs. 2 S. 1 BGB) zu erklären und an keine Form gebunden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Mariam H.

Mariam H.

5.7.2022, 20:18:09

Die Antwort auf die zweite Frage ist leider falsch.

GI

GingerCharme

7.7.2022, 02:03:57

Die zweite Frage, ist jene nach dem Merkmal: "außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag". Dieser setzt voraus, dass Unternehmer und Verbraucher gleichzeitig physisch außerhalb von Geschäftsräumen anwesend sind, vorliegend bestellt S jedoch auf eigene Faust online - weshalb ein Fernabsatzvertrag vorliegt. Gleichzeitig und physisch anwesend und mittels Fernkommunikation schließen sich denklogisch regelmäßig bis immer aus. Ich sehe deshalb keinen Fehler in der Antwort, lasse mich aber gerne aufklären 😊

frausummer

frausummer

7.7.2022, 08:02:47

In der Klausur kann man mit dem Abdrucken der entsprechenden Richtlinie rechnen, oder?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

7.7.2022, 10:17:40

Hallo frausummer, ganz genau. Sollte der Wortlaut einer Richtlinie oder generell ein Gesetzestext, der nicht in dem zugelassenen Gesetzessammlung abgedruckt ist, für eine Klausur relevant sein, wird der abgedruckt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LI

Lisa

11.8.2022, 23:22:45

Wenn die Bereichsausnahme nach 312g II BGB gegeben wäre und der Unternehmer seine Informationspflicht nach 312d BGB nicht eingehalten hätte, wäre dem Verbraucher dann ein Widerrufsrecht einzuräumen, obwohl dieses von Anfang ausgeschlossen ist? Wenn es z.B. in diesem Fall ein WerklieferungsV wäre.

Jana-Kristin

Jana-Kristin

31.8.2022, 10:03:56

"Die fehlende Information über ein nicht bestehendes Widerrufsrecht führt nicht zum Entstehen eines Widerrufsrechts." Das hat der BGH schon öfter klargestellt, zuletzt BGH, Urt. v. 13. Juli 2022 - VIII ZR 317/21, Rn. 47 b). Auch bei Lorenz von der LMU auf seiner Homepage, Aktuell/Neuestes gut dargestellt.

BerndStromberg

BerndStromberg

16.1.2023, 11:28:23

Die Entscheidung lief im Juli 22 in Niedersachsen. Die RL wurde allerdings nicht abgedruckt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

18.1.2023, 15:19:10

Vielen Dank für den Hinweis, BerndStromberg! Das haben wir entsprechend getagt :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DIAA

Diaa

3.10.2023, 11:06:51

Vielen Dank!! Wäre super, wenn ihr die Abgrenzung bzgl. dieser Bereichsausnahme auch dem Kapitel Widerrufsrecht zufügt.


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