+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Künstlerin K porträtiert die minderjährige M, deren Eltern mit der Anfertigung einverstanden waren. Das Bild wird Jahre später im Zusammenhang mit dem Thema Kindesmissbrauch ausgestellt. Auf die Klage von M’s Eltern wird K jegliche Ausstellung des Porträts gerichtlich verboten.
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Einordnung des Falls
Kunstfreiheit bei Bildern zu Kindesmissbrauch – quasi-negatorischer Unterlassungsanspruch
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Das fachgerichtliche Ausstellungsverbot beruht auf einem sog. quasi-negatorischen Unterlassungsanspruch der M (§ 823 BGB i.V.m. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, §§ 22f. KUG).
Ja!
Der Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB ist über das Eigentum hinaus auch auf die anderen durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten absoluten Rechte analog anwendbar (Bassenge, in: Palandt, BGB, 78.A. 2019, § 1004 RdNr. 4). Dazu gehört auch das Recht am eigenen Bild, das eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist und in §§ 22f. KUG einfachgesetzlich konkretisiert wird. Dieser sog. quasi-negatorische Unterlassungsanspruch gewährt vorbeugenden Rechtsschutz gegen künftige Beeinträchtigungen von deliktisch geschützten Rechtsgütern. Somit beruht das Ausstellungsverbot des Porträts auf einem solchen Unterlassungsanspruch der M.
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2. Die öffentliche Ausstellung des Gemäldes der K ist vom Schutzbereich der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) umfasst.
Genau, so ist das!
Ein Kunstwerk ist das Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur Anschauung gebracht werden (sog. materieller Kunstbegriff) (RdNr. 15). Das BVerfG betont, dass der sog. Werk- und Wirkbereich künstlerischen Schaffens vom Schutzbereich der Kunstfreiheit erfasst sei. Das bedeutet, dass nicht nur die Fertigung eines Kunstwerks, sondern auch dessen Darbietung und Verbreitung in der Öffentlichkeit geschützt wird (RdNr. 16). Somit fällt auch die öffentliche Ausstellung des Gemäldes in den Schutzbereich der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG).
3. Durch das fachgerichtliche Ausstellungsverbot wird in den Schutzbereich der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) eingegriffen.
Ja, in der Tat!
BVerfG: Durch die Verurteilung der K, es zu unterlassen, das Porträt der M jeglichen Dritten gegenüber öffentlich zu machen oder zu verbreiten, ist sie in ihrer Kunstfreiheit betroffen (RdNr. 14). Dabei ist laut BVerfG zu beachten, dass das umfassende Ausstellungsverbot eine besonders starke Beeinträchtigung der Kunstfreiheit darstelle (RdNr. 18).
4. Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) ist schrankenlos gewährleistet.
Nein!
BVerfG: „Die Kunstfreiheit ist in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährleistet.“ (RdNr. 18). Sie unterliegt den verfassungsimmanenten Schranken kollidierenden Verfassungsrechts, also vor allem den Grundrechten anderer Rechtsträger. Für künstlerische Darstellungen kommt insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als verfassungsimmanente Schranke in Betracht. Dieses beinhaltet auch das Recht am eigenen Bild, das dem Einzelnen „Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten gewährleistet, soweit es um die Anfertigung und Verwendung von Bildaufzeichnungen seiner Person durch andere geht“ (RdNr. 21).
5. Vorliegend stehen sich die Kunstfreiheit der K und das allgemeine Persönlichkeitsrecht der M gegenüber. Diese Grundrechtskollision ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen.
Genau, so ist das!
Eine Kollision zweier Verfassungsgüter ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz zu lösen. Danach müssen die Rechtsgüter so erfasst und einander zugeordnet werden, dass möglichst beide zur optimalen Wirksamkeit gelangen. Insbesondere darf dem einen Verfassungsgut nicht ohne Weiteres Vorrang gegenüber dem anderen eingeräumt werden. Laut BVerfG kommt es darauf an, ob die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der M „derart schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat“ - eine geringfügige Beeinträchtigung reiche angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus (RdNr. 22).
6. Die Ausstellung des Gemäldes im Zusammenhang mit den Themen Missbrauch und Gewalt beeinträchtigt das Persönlichkeitsrecht der M so schwerwiegend, dass die Kunstfreiheit der K zurücktreten muss.
Ja, in der Tat!
BVerfG: Die Art der Ausstellung sowie der Verband um den Arm der M seien geeignet, bei Besuchern den Eindruck zu erwecken, M sei selbst Opfer von Kindesmissbrauch geworden (RdNr. 24). Die Verknüpfung des Porträts mit dem Themenkomplex Gewalt und Kindesmissbrauch könne die Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Geltung der M schwerwiegend stören und zu einem „hilflosen Gefühl des Ausgeliefertseins“ führen (RdNr. 25). Deshalb wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der M so schwer, dass die Kunstfreiheit der K dahinter zurückzutreten hat. M muss also nicht dulden, dass ihr Porträt in einem derartigen Zusammenhang gezeigt wird.
7. Auch hinsichtlich des Umfangs des Unterlassungsanspruchs sind die Grundrechte der Beteiligten gegeneinander abzuwägen.
Ja!
Laut BVerfG müsse nicht nur im Hinblick auf das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs zwischen der Kunstfreiheit der K einerseits und den Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht der M andererseits abgewogen werden, sondern auch hinsichtlich des Umfangs dieses Unterlassungsanspruchs (RdNr. 26). Soweit der Anspruchsumfang also ein betroffenes Grundrecht in unzulässiger Weise beschränkt, wird dadurch ebenfalls der Grundsatz der praktischen Konkordanz verletzt.
8. Zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der M ist das umfassende Ausstellungsverbot eine verhältnismäßige und somit zulässige Sanktion.
Nein, das ist nicht der Fall!
BVerfG: Durch das Verbot werde der Wirkbereich der Kunstfreiheit „massiv verkürzt“ und der K eine wirtschaftliche Verwertung des Gemäldes weitgehend verwehrt (RdNr. 28). Das Gemälde selbst sei in keiner Weise anstößig oder sonst negativ behaftet. Solange eine Ausstellung also nicht im Kontext von Gewalt und Missbrauch erfolgt, werde das Persönlichkeitsrecht der M nur geringfügig beeinträchtigt (RdNr. 29). Eine Beschränkung des Unterlassungsanspruchs auf Ausstellungen im Kontext von Gewalt und Missbrauch wäre ausreichend gewesen, sodass das umfassende Verbot eine unverhältnismäßige Beschränkung der Kunstfreiheit der K darstellt (RdNr. 30).
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