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Entscheidungen von 2019

Verfassungsrechtliche Vorgaben für richterlichen Bereitschaftsdienst

Verfassungsrechtliche Vorgaben für richterlichen Bereitschaftsdienst

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Am frühen Morgen wird die Polizei wegen eines Notfalls zu B gerufen. Wegen eines Verdachts will sie Bs Wohnung nach Drogen durchsuchen. Die um 04:44 verständigte Bereitschaftsstaatsanwältin S ordnet sofort die Durchsuchung an. Am zuständigen AG Rostock hat zu dieser Zeit kein Ermittlungsrichter Bereitschaftsdienst.

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Einordnung des Falls

Verfassungsrechtliche Vorgaben für richterlichen Bereitschaftsdienst

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nachdem Bs Beschwerde gegen die Durchsuchung ohne richterlichen Beschluss zum Landgericht erfolglos bleibt, erhebt B zulässige Verfassungsbeschwerde. Ist vorliegend der Schutzbereich von Bs Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) eröffnet?

Genau, so ist das!

Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Bs Wohnung dient ihm als privater Lebensmittelpunkt und ist sein Rückzugsort. Der Schutzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) ist eröffnet.
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2. Die Durchsuchung stellt einen Eingriff dar.

Ja, in der Tat!

Die Durchsuchung ist ein qualifizierter Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG. Eine Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhaltes, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen oder hergeben will. Durch das Inspizieren der Wohnung und der Suche nach Drogen ist die Polizei in den privaten Rückzugsraum des B eingedrungen und hat seine persönliche Entfaltung in seinen durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützten Privaträumen gestört. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG liegt vor. Die Durchsuchung ist als der prominenteste Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 13 Abs. 2 GG explizit aufgeführt. Art. 13 Abs. 2 GG enthält für Durchsuchungen spezifische verfassungsrechtliche Vorgaben.

3. Bedarf es zur Rechtfertigung des Eingriffs grundsätzlich der richterlichen Anordnung der Durchsuchung?

Ja!

Für die Rechtfertigung des Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1) bedarf es grundsätzlich der besonderen formellen Voraussetzung der richterlichen Anordnung (Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG, sog. Richtervorbehalt). Telos dieser Vorschrift ist die vorbeugende Kontrolle durch die unabhängige Justiz. Der Richter soll sicherstellen, dass der intensive Eingriff verhältnismäßig ist.

4. Bedarf es immer der richterlichen Anordnung der Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG dürfen Durchsuchungen als Regel nur durch den Richter durchgeführt werden. Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG sieht davon aber eine Ausnahme vor, nämlich für den Fall, dass Gefahr im Verzug vorliegt. In diesem Fall kann die Durchsuchung auch durch die Staatsanwaltschaft werden (§ 105 Abs. 1 S. 1 StPO). Gefahr im Verzug liegt vor, wenn der Erfolg der Beschlagnahme von Beweisen oder das Ergreifen der Person durch die Verzögerung, welche die Erwirkung der richterlichen Entscheidung mit sich bringen würde, gefährdet wäre. Bei Gefahr im Verzug können im Einzelfall auch anstelle der Staatsanwaltschaft auch deren „Ermittlungspersonen“ die Durchsuchung beim Beschuldigten (§ 102 StPO) anordnen, also die Polizei (vgl. § 152 GVG i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 StPO). Für die Durchsuchung bei anderen Personen ist eine Anordnungsbefugnis der Polizei ausgeschlossen.

5. Sieht aus Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG als weitere Ausnahme vom Richtervorbehalt vor, dass die Staatsanwaltschaft nachts anstelle des Richters generell Durchsuchungen anordnen darf?

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar erlaubt Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG Durchsuchungen bei Gefahr im Verzug ohne präventive richterliche Kontrolle auf Anordnung der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen. Die Vorschrift beschränkt die ausnahmsweise Anordnungsbefugnis der Staatsanwalt und ihrer Ermittlungspersonen jedoch auf Fälle der Gefahr im Verzug. Mit Blick auf die enge Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG und den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift besteht der Richtervorbehalt auch bei nächtlichen Durchsuchungen. Bei der Auslegung von Grundrechten gilt der Grundsatz, dass diejenige Auslegung vorzugswürdig ist, welche die Wirkungskraft des Grundrechts am stärksten entfaltet (RdNr. 55).

6. Lag Gefahr im Verzug bereits deshalb vor, weil die Polizei den Verdacht hatte, in Bs Wohnung Drogen zu finden, sodass deshalb die Durchsuchung durch die Staatsanwältin S ohne richterlichen Beschluss gerechtfertigt war?

Nein!

Gefahr im Verzug liegt vor, wenn der Erfolg der Beschlagnahme von Beweisen oder das Ergreifen der Person durch die Verzögerung, welche die Erwirkung der richterlichen Entscheidung mit sich bringen würde, gefährdet wäre. In ständiger Rechtsprechung legt das BVerfG den Begriff der Gefahr im Verzug eng aus. Für Gefahr im Verzug müssen konkrete Umstände für den drohenden Beweisverlust im Einzelfall vorliegen. Insbesondere dürfen die Ermittlungsbehörden nicht so lange warten, bis die Gefahr eines Beweismittelverlustes eingetreten ist. Allein die Tatsache, dass bei B Drogen vermutet wurden, begründet noch keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Ermittlungserfolgs und für Gefahr im Verzug. Bei Auslegung von Wortlaut und Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG ergibt sich, dass die richterliche Durchsuchungsanordnung den Regelfall darstellt und die Durchsuchungsanordnung ohne Richter eine Ausnahme ist. Auf diesem Wege wird der Grundrechtsschutz auch bestmöglich gewährleistet, denn eine ex post-Kontrolle durch einen Richter kann den Eingriff nicht mehr rückgängig machen.

7. Kann Gefahr im Verzug dadurch eintreten, dass nachts kein Ermittlungsrichter verfügbar ist und deshalb bis zur Verfügbarkeit eines Richters der Ermittlungserfolg gefährdet wäre?

Genau, so ist das!

Gefahr im Verzug liegt vor, wenn der Erfolg der Beschlagnahme von Beweisen oder das Ergreifen der Person durch die Verzögerung, welche die Erwirkung der richterlichen Entscheidung mit sich bringen würde, gefährdet wäre. Würde die Polizei warten, bis sie morgens einen Richter erreichen kann, so würde wertvolle Zeit verloren gehen. Es besteht die Gefahr, dass in dieser Zeit Beweismittel vernichtet werden und der Sinn der Maßnahme entfällt. Oft ist es bei Durchsuchungen wichtig, im Zeitpunkt des Verdachts möglichst schnell zu agieren. Im Klausursachverhalt wirst Du hinreichend konkrete Anhaltspunkte finden, um für die hier maßgeblichen unterschiedlichen Zeitpunkte - einmal Eintreffen der Polizei, einmal Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters - eine Gefahr im Verzug ablehnen bzw. annehmen zu können.

8. Ist es verfassungsrechtlich zulässig, dass nachts nie ein richterlicher Bereitschaftsdienst besteht und daher immer Gefahr im Verzug eintritt, mit der Folge, dass nachts die Durchsuchung immer durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden darf.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 13 Abs. 2 GG legt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis fest. Würde ein richterlicher Bereitschaftsdienst nicht bestehen, so würde die Anordnung einer Durchsuchung zur Nachtzeit durch die Staatsanwaltschaft zum Regelfall werden. Die Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG gebietet jedoch, dass die Anordnung durch die Staatsanwaltschaft die Ausnahme bleibt. BVerfG: Aus Art. 13 GG ergebe sich die Verpflichtung der staatlichen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts gewährleistet ist. Damit korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, zu sichern (Leitsatz 1, RdNr. 57). Hiermit schafft das BVerfG erstmals grundlegende verfassungsrechtliche Vorgaben hinsichtlich des Erfordernisses eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes.

9. § 104 Abs. 1 StPO beschränkt einfachgesetzlich die Durchsuchung bei Nacht auf einen engen Katalog bestimmter Fallkonstellationen. Entfällt dadurch im Regelfall das verfassungsrechtliche Bedürfnis nach einem nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienst?

Ja!

§ 104 Abs. 1 StPO beinhaltet eine einfachgesetzliche Ausgestaltung des verfassungsrechtlich notwendigen Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung in der Nacht (21 bis 6 Uhr). Mit den darin enthaltenen Beschränkungen hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass eine Durchsuchung in der Nacht einen besonders intensiven Eingriff darstellt und nur in eng definierten Ausnahmefällen zulässig ist. Durch diese Einschränkung wird gewährleistet, dass das in Art. 13 Abs. 2 GG enthaltene Regel-Ausnahme-Verhältnis typischerweise auch ohne Einrichtung eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes gewahrt bleibt. Achtung: § 104 Abs. 1 StPO schränkt lediglich den Vollzug einer Durchsuchung während der Nachtzeit ein, nicht aber die Anordnung.

10. Unterstellt, dass sich nächtliche Durchsuchungen an einem Ort häufen, die nächtliche Durchsuchung also nicht der bloße Ausnahmefall ist: Braucht es in diesem Fall einen nächtlichen Bereitschaftsdienst?

Genau, so ist das!

BVerfG: Ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst während der Nachtzeit (21 bis 6 Uhr) ist einzurichten bei einem Bedarf, der über den Ausnahmefall (Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG) hinausgeht. Den Staat trifft die Pflicht zur effektiven Durchsetzung der Grundrechte und er muss daher gewährleisten, dass das von Art. 13 Abs. 2 GG vorgeschriebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis gewahrt wird. Also muss dort, wo regelmäßig nächtliche Durchsuchungen stattfinden und deshalb ein Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen fortbesteht, auch in den Stunden von 21 bis 6 Uhr ein richterlicher Bereitschaftsdienst eingerichtet werden. Dies kann zum Beispiel der Fall sein an Kriminalitätsschwerpunkten im Grenzgebiet oder in Großstädten. Aus Art. 13 Abs. 2 GG resultiert damit keine verfassungsrechtliche Vorgabe, dass jederzeit ein Amtsrichter Bereitschaft haben muss. (RdNr. 59)

11. Für die Frage, ob ein tatsächlicher Bedarf für einen nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienst besteht, weil nächtliche Durchsuchungen nicht bloß der Ausnahmefall sind, ist das Landesjustizministerium zuständig.

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Besetzung der Spruchkörper, die Bestellung der Ermittlungsrichter und die Geschäftsverteilung der Gerichte ist das jeweilige Präsidium - also regelmäßig der jeweilige Gerichtspräsident - eines Gerichts zuständig (§ 21e Abs. 1 S. 1 GVG). Dies umfasst auch die Zuteilung von Richtern des Gerichts zu einem nächtlichen Bereitschaftsdienst. Der Gerichtspräsident muss seiner Entscheidung zur Einrichtung eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes dabei keine statistischen Erhebungen zugrunde legen. Es ist ausreichend, wenn er seine Bedarfsprognose auf Erfahrungssätze stützt (RdNr. 71).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Paul

Paul

23.3.2023, 11:41:24

Um die Frage "Bedarf es zur Rechtfertigung des Eingriffs der richterlichen Anordnung der Durchsuchung?" richtig beantworten zu können, müsste ein "grundsätzlich" eingefügt werden. Andernfalls wird der zweiten Variante des Art. 13 II GG nicht Rechnung getragen. Ansonsten - wie immer - danke für die verständliche Aufbereitung :)

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.3.2023, 12:12:14

Hallo Paul, danke dir. Das haben wir in der Frage ergänzt :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Pilea

Pilea

26.11.2023, 14:37:34

Ist der Richtervorbehalt als qualifizierter Gesetzesvorbehalt/Schranke zu lesen oder im Rahmen der Verhältnismäßigkeit/Schranken-Schranke zu prüfen; und warum?


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