„Stadionverbot-Fall“
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
F ist Mitglied der gewaltbereiten Ultra-Szene. Nach Ausschreitungen im Stadion wird gegen F wegen Landfriedensbruchs ermittelt. Verein V erteilt ihm daraufhin ein bundesweites Stadionverbot für 2 Jahre. Wenig später sieht die StA wegen Geringfügigkeit von der Verfolgung ab (§ 153 StPO). F wehrt sich gegen das Stadionverbot.
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Einordnung des Falls
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 zu Stadionverboten befasst sich mit der Frage, ob die Grundrechte des Grundgesetzes auch zwischen Privaten eine gewisse Wirkung entfalten können – man spricht von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Zivilrecht bzw. der mittelbaren Drittwirkung zwischen Privaten. Im Fall hatte der Betreiber eines Fußballstadions gegen ein Mitglied der gewaltbereiten Ultra-Szene ein bundesweites Stadionverbot verhängt. Dagegen wehrt sich der Ultra erfolglos vor den Zivilgerichten und erhebt anschließend Verfassungsbeschwerde. Kern des Falles ist die Frage, ob der Ultra gegen den privaten Stadionbetreiber aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) einen Anspruch hat, genauso wie alle anderen Fußballfans ins Stadion eingelassen zu werden. Grundsätzlich binden die Grundrechte nur die Staatsgewalt, nicht jedoch Private. Anders ist es bei der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht sieht hier einen Ausnahmefall, in dem der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) mittelbare Drittwirkung entfaltet, weil der private Stadionbetreiber sein Stadion einem großen Publikum ohne Ansehen der Person für den allgemein kommunikativen Gebrauch eröffnet hat. Will der Stadionbetreiber den Ultra dennoch ausschließen, muss ein sachlicher Grund hierfür vorliegen.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Binden die Grundrechte des Grundgesetzes ausschließlich den Staat?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist F vor den Zivilgerichten erfolglos und erhebt Verfassungsbeschwerde? Ist diese begründet, wenn die Gerichtsentscheidungen der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte nicht hinreichend Rechnung tragen?
Genau, so ist das!
3. Ist Verein V Inhaber des privatrechtlichen Hausrechts in seinem Stadion?
Ja, in der Tat!
4. Ist die Verfassungsbeschwerde insbesondere dann begründet, wenn die Abwägung der Rechtspositionen im Rahmen des Hausrechts unter einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte leidet?
Ja!
5. Ist bei der Ausübung des Hausrechts (§§ 862, 1004 BGB) – aus verfassungsrechtlicher Sicht ¬– seitens des V die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen?
Genau, so ist das!
6. Ist auf Seiten des F vorliegend die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen, da dieses Grundrecht gegen unverhältnismäßige Verbote schützt?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Ist auf Seiten des F das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) zu beachten, denn es besteht eine Ungleichbehandlung gegenüber all denjenigen, die das Stadion besuchen können?
Ja!
8. Enthält der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ein objektives Verfassungsprinzip, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten gleichheitsgerecht zu gestalten sind?
Nein, das ist nicht der Fall!
9. Kann der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Ausnahmefällen mittelbare Drittwirkung entfalten? Gelten dann im Privatrechtsverhältnis gleichheitsrechtliche Anforderungen?
Ja, in der Tat!
10. Wenn der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ausnahmsweise mittelbare Drittwirkung entfaltet, besteht dann ein absolutes Unterscheidungsverbot, d.h. alle Ungleichbehandlungen sind unzulässig?
Nein!
11. Ist das Stadionverbot rechtmäßig, wenn bei Betrachtung der Umstände des Einzelfalls ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung besteht?
Genau, so ist das!
12. Ergeben sich aus dem Erfordernis eines sachlichen Grunds auch verfahrensrechtliche Anforderungen für Veranstalter, etwa zur korrekten Sachverhaltsaufklärung?
Ja, in der Tat!
13. Ein sachlicher Grund, der die Ungleichbehandlung rechtfertigt, kann nur angenommen werden, wenn eine Straftat des F nachgewiesen werden kann.
Nein!
14. Stellt die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen F wegen Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) einen sachlichen Grund für die mit dem Stadionverbot verbundene Ungleichbehandlung des F dar?
Genau, so ist das!
15. Ist der sachliche Grund jedoch durch die spätere Einstellung des Verfahrens gegen F (§ 153 StPO) entfallen?
Nein, das trifft nicht zu!
16. Ist die Verfassungsbeschwerde des F unbegründet? Tragen die Entscheidungen der Zivilgerichte der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das Zivilrecht hinreichend Rechnung?
Ja!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
iudexaquo
20.4.2022, 14:52:55
BGH III ZR 179/20 thematisiert auch die Problematik :)
L123
23.8.2022, 14:10:40
Lief Heute in Sachsen Anhalt ÖR II
frausummer
23.8.2022, 14:26:49
Ebenfalls in Thüringen;)
Quarzé
23.8.2022, 14:36:12
Lief auch im Saarland
Nora Mommsen
24.8.2022, 10:35:46
Danke euch dreien für die Rückmeldung! Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
philippa22
23.8.2022, 22:45:38
Das war heute ein Examenstreffer in Thüringen!
Nora Mommsen
25.8.2022, 15:35:15
Hallo philippa22, danke dir für die Info! Das haben wir direkt getaggt. :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Bella
23.8.2022, 23:08:35
Der Fall lief heute in LSA (:
Nora Mommsen
25.8.2022, 15:34:26
Hallo Bella, danke für die Rückmeldung! Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Raphaeljura
4.5.2023, 07:56:22
Es wurde ja damit begründet, dass er Mitglied der Ultra Szene ist, obschon die Staatsanwaltschaft die vermeintliche Straftat nicht weiterverfolgt. Dann würde jedes Ultramitglied potentiell ein Verbot drohen, wenn ein Fehlverhalten vorliegt. Ist das nicht etwas dünn?
Nora Mommsen
4.5.2023, 11:28:30
Hallo Raphaeljura, danke für deine Frag. Zunächst ist zu beachten, dass die Grundrechte zwischen Stadionbetreiber und Besuchern nur mittelbare Drittwirkung entfalten. Zudem ist im Rahmen des Art. 3 I GG ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung erforderlich. Dies ist nicht zu verwechseln mit Anforderungen an die Beweissicherheit im Rahmen eines Strafverfahrens. Das
Stadionverbotist keine strafrechtliche Sanktion, sondern Ausdruck des Hausverbots, dass das Eigentum des Stadionbetreibers und im konrketen Fall auch den reibungslosen Ablauf einer Großveranstaltung sichert. Daher sind an den sachlichen Grund nur gewisse Anforderungen zu stellen. Vorliegend kommen der
Anfangsverdachtdes Landfriedensbruchs und die Zugehörigkeit zur Ultra-Szene zusammen. Es wurde an keiner Stelle erwähnt, dass allein durch die Zugehörigekeit zu einem (Ultra) Fan Club ohne jegliche Vorfälle zu einem
Stadionverbotführen kann. Der Stadioninhaber als Hausrechtsinhaber ist frei, Hausverbote zu erteilen sofern ein sachlicher Grund vorliegt. Dieser liegt vorliegend in der begründeten Erwartung, dass es in Zukunft wieder zu gewalttätigen Vorfällen kommen wird. Strafrechtliche Anforderungen sind daran gerade nicht zu stellen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Vanilla Latte
21.10.2023, 10:49:44
Dh die Zugehörigkeit zu den Ultras reicht NUR aus, weil der
Anfangsverdachtbestand? Andernfalls wäre das nicht ausreichend gewesen?
Vanilla Latte
21.10.2023, 11:07:54
Wie ist das eigentlich im Examen. Wenn die Klausur vor einem Jahr schon in m
ehreren Ländern dran kam. Kann sie dennoch in naher Zukunft noch einmal dran kommen? Oder ist das fast ausgeschlossen?
CR7
28.10.2023, 15:16:08
Ja, kann nochmal drankommen. Daher werden Examensklausuren auch kaum veröffentlicht. Selbst wenn es nicht der gleiche SV ist, können sich Personen oder Spielorte ändern.
Leo Lee
28.10.2023, 19:58:10
Hallo Vanilla Latte, wie CR7 zutreffend anmerkt ist das leider eine Frage, worauf es keine eindeutige Antwort gibt (typisch Jura!). Aber die Tatsache, dass ein bestimmter Fall im Examen schon lief, ist keineswegs ein Ausschlusskriterium für künftige Examensklausuren, die an diese Entscheidung angelehnt sind. In Berlin war es bspw. so, dass in der Oktoberkampagne ein Problemkreis/eine Entscheidung rankam, die genauso ein Jahr davor im SELBEN Bundesland (also Berlin/Bbg) lief. Deshalb lautet die Devise: Immer solche „heißen“ Fälle auf dem Radar haben!
CR7
28.10.2023, 15:21:15
Hier wäre noch ein Klausurhinweis am Ende oder am Anfang ganz gut, da sich bei Drittwirkungs-Klausuren immer das Problem stellt, dass das Schema "Schutzbereich - Eingriff - Rechtfertigung" nicht immer eignet. Hier ist es ja so, dass ein staatlicher Eingriff nach dem klassischen Eingriffsbegriff nicht vorliegt und nach dem Modernen eher in der Unterlassung, als auf dem aktiven Tun. Daher eignet sich eher der Aufbau, den ihr dargestellt habt eher. Wenn an nämlich nach dem Eingriffsabwehr-Aufbau geht, kann man schnell dazu kommen, das Problem der mittelbaren Drittwirkung zu knapp oder gar nicht darzustellen. Hier gibt es auch einen schönen Aufsatz hierzu mit Formulierungsvorschlägen: Augsberg, Viellechner: Die Drittwirkung der Grundrechte als Aufbauproblem (JuS 2008, 406). Daher könnte man hier darauf hinweisen, dass sich ein objektiv-rechtlicher Aufbau eher eignet, z.B.: B.
BegründetheitI. Anwendbarkeit der Grundrechte in privatrechtlichen Beziehungen II. Prüfungsmaßstab des BVerfG III. Verletzung der GR durch die Auslegung des
Stadionverbots als Rechtmäßig, 1. Verletzung von Art. 2 I, Verletzung von Art. 3 I GG, 3. Ergebnis: VB zulässig, aber unbedgründet
Lukas_Mengestu
19.12.2023, 11:31:12
Sehr guter Hinweis, CR7. Das haben wir gerne mit aufgenommen :-) Eine gute Übersicht über die verschiedenen Aufbauvarianten liefert auch der Fall Immobilien-Hai der FU Berlin (https://www.jura.fu-berlin.de/studium/lehrplan/projekte/hauptstadtfaelle/faelle/grundrechte/immobilien-hai/loesung/index.html). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Whale
12.7.2024, 12:49:23
Ich finde die Ausführung des BVerfG höchst interessant und nicht ganz unproblematisch. Es nimmt eine privatrechtliche Ausformung (§§ 862, 1004 BGB) seitens der Stadionbetreiber an, wodurch die Eigentumsgarantie (Art. 14 I GG) wirken kann. Das Hausrecht ist also in einer Weise auszulegen, die dem Gehalt der Eigentumsgarantie Rechnung trägt. Derweil existiert eine einfachgesetzliche Ausformung seitens des F nicht. Zunächst wird Art. 2 I GG (Allg. Handlungsfreiheit) als Ausdruck des Verhältnismäßigkeit herangezogen, dann der Art. 3 I als objektives Verfassungsprinzip. Beides hält der Prüfung nicht stand. Aus diesem Grund wird ganz einfach ein Ausnahmefall konstruiert und der Art. 3 I GG angewandt. Wenn wir uns aber nochmal die Bedeutung der "Mittelbarkeit" der mittelbaren Drittwirkung zu Gemüte führen, dann erkennen wir, dass die Grundrechte in privatrechtlichen Beziehung von Bedeutung sein können, indem sie über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln in das Privatrecht einwirken. Für die Wirkung des Art. 3 I GG wird aber weder eine privatrechtliche Ausformung noch eine Generalklausel genannt, oder habe ich da etwas übersehen? Ich meine, dass auch zum Ende des JuraFuchs Podcasts zum
Stadionverbotdiskutiert wird, inwiefern das BVerfG versucht hier Lücken zu schließen, obwohl diese Aufgabe eigentlich dem Gesetzgeber unterfällt, der sehr langsam auf neue Entwicklungen reagiert wird. Wenn eine einfachgesetzliche Ausformung zu solchen Konstellationen existieren würde, würde die mittelbare Drittwirkung über diese privatrechtlichen Regelungen wirken. Da es diese zu dem Zeitpunkt nicht gab, hat das BVerfG eine weitere Ausdehnung dieses Grundsatzes der mittelbaren Drittwirkung mit dieser Entscheidung vorgenommen, die einer unmittelbaren Drittwirkung gar nicht mehr so fern ist. Darin liegt meiner Ansicht nach das Besondere dieses Falls. Was denkt ihr?
Prof. Dr. Maggus Rühl LL.M.
22.8.2024, 16:31:54
Safe.
Joshua
25.8.2024, 13:13:03
Zumindest § 1004 BGB fordert Widerrechtlichkeit, womit du schon ein Einfallstor für grundrechtliche Wertungen hast. Am Ende kann man immer § 242 BGB bemühen.
JohnnyLbd
29.10.2024, 15:37:31
Ich kann die Argumente nicht ganz nachvollziehen vllt kann mir jemand helfen. Wie kann es sein, dass nachdem geprüft wurde ob ein Umstand ausreichend ist um als rechtswidrig gewertet zu werden und das nicht ausreichend war, das Verfahren zudem eingestellt worden ist, der
Anfangsverdachtausreichend sein ? Die bloße sorge empfinde ich hierbei ein wenig willkürlich bzw. uferlos gerade im Kontext einer Verfassungsbeschwerde - zumal (so zumindest nicht angegeben) die Gruppe nicht verboten wurde ?