(Fall) Erbrecht - Schutz als Rechtsinstitut und Individualrecht (Art. 14 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG)


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Politikerin P plädiert dafür, Erbschaften stark zu besteuern, bis hin zu einer Steuerlast von 100 Prozent.

Einordnung des Falls

(Fall) Erbrecht - Schutz als Rechtsinstitut und Individualrecht (Art. 14 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der einfache Gesetzgeber kann den Fiskus als generellen Alleinerben festschreiben.

Nein!

Art. 14 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG gewährleistet das Erbrecht als (1) Rechtsinstitut und als (2) Individualrecht. Die Ausgestaltung obliegt zwar dem einfachen Gesetzgeber (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Dieser darf aber nicht den Wesensgehalt des Grundrechts antasten (Art. 19 Abs. 2 GG). Die Instituts-/Einrichtungsgarantie hindert den einfachen Gesetzgeber, das Erbrecht als solches abzuschaffen. Erbte nur der Staat, so würde das Privaterbrecht überflüssig. Der verfassungsändernde Gesetzgeber dürfte jedenfalls den Menschenwürdekern eines Grundrechts nicht abschaffen (Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

2. Häuslebauer H verfolgt die Debatte. Er empört sich: "Meins ist meins! Wem ich vererbe, bestimme ich!". Er hat im Hinblick auf die Erbeinsetzung Recht.

Genau, so ist das!

Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistet das Eigentum und in Konsequenz das Erbrecht; Letzteres als (1) Rechtsinstitut und als (2) Individualrecht. Die Individualrechtsgarantie begründet ein Abwehrrecht gegen den Staat und beinhaltet (a) die Privaterbfolge, (b) die Testierfreiheit und (c) das Familienerbrecht. Die Testierfreiheitumfasst das Recht eines jeden einzelnen Bürgers, über die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tod grundsätzlich frei entscheiden zu können. G kann aufgrund seiner Testierfreiheit frei entscheiden, wen er als Erben einsetzt. Achtung: Dies bedeutet im Ergebnis nicht, dass die gesamte Erbschaft beim Erben verbleibt. Die nahen Angehörige des H haben - wenn dieser sie enterbt - grundsätzlich zumindest einen schuldrechtlichen Anspruch (Pflichtteilsanspruch nach § 2303 Abs. 1 BGB) gegenüber dem Erben. Dies ist Ausdruck des Familienerbrechts, welches durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet wird, und im Kern eine unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der nahen Angehörigen beinhaltet.

3. P will Erbschaften über €1.000.000 zu 100% besteuern. Das ist dem einfachen Gesetzgeber möglich.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 14 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG gewährleistet das Erbrecht als (1) Rechtsinstitut und (2) Individualrecht. Die Individualrechtsgarantie beinhaltet die Privaterbfolge. Sie garantiert den Fortbestand des Privateigentums für den Fall des Todes des Eigentümers. Der einfache Gesetzgeber darf sie nur einschränken, wenn er einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt. Nach Dafürhalten des BVerfG darf die Steuerlast "das Vererben [...] nicht als ökonomisch sinnlos erscheinen lassen" (BVerfGE 93, 165, 172 RdNr. 35). Eine 100%-ige Erbschaftssteuer übersteigt den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers, da hierdurch die Individualrechtsgarantie des Erbrechts gänzlich aufgehoben wäre.

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Daniil

Daniil

10.7.2021, 14:52:24

Zur zweiten Frage: Mir ist im Nachhinein klar geworden, dass ihr lediglich die verfassungsrechtliche Ausgangslage im Fokus hattet und staatliche Eingriffe gemeint waren, aber die Formulierung „was ich vererbe, entscheide ich“, ist im Hinblick auf den Pflichtteil so doch nicht korrekt, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.7.2021, 19:09:37

Hi Daniil, in der Tat ist die Aussage hier bewusst plakativ gehalten und im Ergebnis nicht zu 100% präzise. Richtig ist, dass allein der Erblasser entscheiden kann, wen er als Erben einsetzt und insoweit eine 100%-ige Testierfreiheit besitzt. Das heißt, im Hinblick auf die Erbenstellung und die damit einhergehende Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 BGB) kann er tatsächlich völlig frei verfügen. Wie Du aber vollkommen zutreffend anmerkst, heißt das im Ergebnis natürlich nicht, dass nahe Angehörige (Kinder, Eltern, Ehegatten) gänzlich leer ausgehen. Vielmehr steht Ihnen ein schuldrechtlicher Anspruch (Pflichtteilsanspruch nach § 2303 Abs. 1 BGB) gegenüber den Erben zu. Seine verfassungsrechtliche Stütze findet der Pflichtteilsanspruch insoweit in Art. 6 Abs. 1 GG, der die Familie unter den besonderen Schutz stellt (vgl. auch BVerfG v. 19.04.2005 - 1 BVR 1644/00, 1 BVR 188/03, das davon spricht, Art. 14 Abs. 1 S. 1 iVm Art. 6 Abs. 1 GG gewährleiste eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhänige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JO

Jose

26.7.2021, 18:50:27

Zu Frage 1: Ist das Erbrecht tatsächlich ein Abwehrrecht? Oder nicht vielmehr etwas, was vom Staat gewährleistet werden muss, damit es überhaupt existiert? Meine Meinung bspw. kann ich ja immer äußern, auch ohne, dass es den Staat überhaupt gibt, aber das Erbrecht gibt es doch überhaupt erst durch den Staat?

BEN

Benji

3.5.2022, 20:12:22

Ich kann der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen, dass eine 100 % Steuer ab einem gewissen Betrag kategorisch unverhältnismäßig wäre. "Die Steuerbelastung darf das Vererben vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Eigentümers nicht als ökonomisch sinnlos erscheinen lassen". Es wäre ja möglich, bis zu einer Grenze von 1000000(!) Euro eine vergleichsweise geringe Erbschaftssteuer einzuführen, die ökonomisch alles andere als sinnlos wäre und alles darüber hinaus gehende mit 100 Prozent zu versteuern. Damit wäre meiner Meinung nach das Institut der Privaterbrechts nicht übermäßig eingeschränkt, sondern legitim durch den Gesetzgeber ausgestaltet. Zumal der weit überwiegende Teil der Bevölkerung gar nicht in den "Genuss" dieser Besteuerung käme. Gibt es noch andere Entscheidungen, in denen das BVerfG dazu deutlich Stellung bezieht? Ist eine 100 % Besteuerung ab einer bestimmten Summe wirklich verfassungswidrig?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2022, 11:12:16

Hallo BenBo, das BVerfG hat die von Dir zitierte Formulierung auch in späteren Urteilen mehrfach wiederholt (zB BVerfG NJW 2011, 366), ohne, dass die Konturen dadurch geschärft wurden. In dem Moment, in dem Du aber eine 100%-ige Erbschaftssteuer ab einem bestimmten Betrag X einführst, ist es ab diesem Betrag X aber ökonomisch nicht mehr sinnvoll zu vererben. Insoweit spricht der vom BVerfG aufgestellte Maßstab durchaus gegen eine solche Totalbesteuerung, auch wenn diese erst ab einem bestimmten Betrag greift. Das erscheint zwar nur bedingt "gerecht", da in der Tat ein weiter Teil der Bevölkerung überhaupt nichts erbt und Erbschaften im Vergleich zu Erwerbsarbeit deutlich bevorzugt werden. Nichtsdestotrotz ist für den Ausgleich dieses Ungleichgewichts hierfür eine 100% Steuer letztlich wohl nicht das geeignete Mittel. Da die derzeitigen Sätze aber ohnehin weit darunter liegen, besteht zwischen der Maximalbesteuerung und dem derzeitigen status quo aber ja noch hinreichend Gestaltungsspielraum - sofern hierfür der politische WIlle vorhanden ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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