Wiedereinsetzung bei Fristversäumnis wegen ungewöhnlich langen Postlaufs


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A klagt gegen einen abgelehnten Asylantrag. Die Klagefrist endet am 01.06. Der Prozessbevollmächtigte P gibt die Klageschrift am 30.05. zur Post, sie geht aber erst am 06.06. beim VG ein. Das VG hält die Klage für verfristet. A begehrt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Einordnung des Falls

Wiedereinsetzung bei Fristversäumnis wegen ungewöhnlich langen Postlaufs

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Für die Klage des A gegen den ablehnenden Bescheid gilt die einmonatige Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO).

Nein, das ist nicht der Fall!

Für asylrechtliche Streitigkeiten gilt die Sondervorschrift des § 74 Abs. 1 AsylG. Danach muss innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Bescheids Klage erhoben werden. Insoweit wird die übliche Klagefrist im verwaltungsgerichtlichen Prozess (§ 74 Abs. 1 VwGO) also verkürzt. Dies ist Ausdruck der Konzentrationsmaxime und des Beschleunigungsgebotes im Asylverfahren.

2. Die Klage des A ist erst nach Ablauf der Klagefrist bei Gericht eingegangen und somit verfristet.

Ja, in der Tat!

Die Klagefrist wird nur durch rechtzeitige schriftliche Erhebung der Klage mittels Einreichung der Klageschrift oder mittels einer Erklärung zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gewahrt (§ 81 Abs. 1 VwGO). Die Klage ist erst dann wirksam erhoben, wenn sie dem zuständigen Gericht zugegangen ist. Dies erfordert keine Kenntnisnahme, sondern dass die Erklärung in den Verfügungsbereich des Gerichts gelangt ist. Die Klage des A ist dem Gericht erst nach Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 AsylG) zugegangen und somit verfristet.

3. Die Verfristung einer Klage ist unerheblich, wenn die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) vorliegen.

Ja!

Die Verfristung einer Klage ist nach § 60 VwGO unerheblich, wenn (1) die Fristversäumnis unverschuldet ist, (2) die entsprechenden Tatsachen glaubhaft sind und (3) der Wiedereinsetzungsantrag fristgemäß, d.h. innerhalb von 2 Wochen, gestellt worden ist. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) ermöglicht einen Eingriff in die Rechtskraft und beruht auf einer Abwägung des Gesetzgebers zwischen den Erfordernissen der Rechtssicherheit und den materiellen Prozessgrundrechten (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 103 Abs. 1 GG).

4. Verschulden im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Beteiligte die Frist vorsätzlich oder fahrlässig versäumt hat.

Genau, so ist das!

Während die vorsätzliche Fristversäumung in der gerichtlichen Praxis kaum eine Rolle spielt, ist die Frage nach der fahrlässigen Fristversäumung oft entscheidend. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist ein Fristversäumnis unverschuldet, wenn dem Betroffenen nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die Frist versäumt hat, ihm also die Einhaltung der Frist subjektiv nicht zumutbar war. Laut OVG dürfen die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung vor dem Hintergrund des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) aber grundsätzlich nicht überspannt werden (RdNr. 3).

5. Das Fristversäumnis ist unverschuldet, da nicht A selbst, sondern sein Prozessbevollmächtigter P die Klage eingereicht hat.

Nein, das trifft nicht zu!

Dem Verschulden eines Beteiligten steht das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gleich (§ 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO) und wird ihm ohne Exkulpationsmöglichkeit zugerechnet. Gleiches gilt auch für den gesetzlichen Vertreter des Beteiligten (§ 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 51 Abs. 2 ZPO).

6. Die gewöhnliche Postlaufzeit einer Briefsendung beträgt zwei Werktage.

Ja!

Die Post hat sicherzustellen, dass an Werktagen aufgegebene Inlandssendungen im gesamten Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 % am ersten und zu 95 % am zweiten Werktag nach der Einlieferung ausgeliefert werden (vgl. § 2 Nr. 3 S. 1 Post-UniversaldienstleistungsVO). OVG: Diese Quoten lassen die Einhaltung der gewöhnlichen Postlaufzeit von zwei Werktagen erwarten. Ohne konkrete Anhaltspunkte müsse ein Rechtsmittelführer nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die darüber hinausgehen und damit die Gefahr der Fristversäumung begründen (RdNr. 4).

7. Ungewöhnliche lange Postlaufzeiten, auf die der Beteiligte keinen Einfluss hat, dürfen ihm dennoch als Verschulden angerechnet werden.

Nein, das ist nicht der Fall!

OVG: Dem Bürger dürfen Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden angerechnet werden. Er dürfe darauf vertrauen, dass die für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Ist dies nicht der Fall, dürfe dies dem Bürger, der darauf keinen Einfluss hat, nicht als Verschulden zur Last gelegt werden. „In seinem Verantwortungsbereich liegt es allein, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, dass es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann“ (RdNr. 3).

8. A war ohne Verschulden an der Wahrung der Klagefrist (§ 74 Abs. 1 AsylG) verhindert.

Ja, in der Tat!

OVG: A durfte damit rechnen, dass seine am 30.05. eingeworfene Klageschrift spätestens zwei Werktage später, also am 01.06. beim zuständigen Gericht eingehen würde. Dies hätte die Klagefrist gewahrt. Die Vorinstanz (VG Düsseldorf) hatte angenommen, A habe die Klagefrist verschuldet nicht eingehalten, weil P die Klageschrift erst zwei Tage vor Fristablauf zur Post gegeben und nicht vorab per Fax abgesandt habe. Diese Rechtsauffassung habe laut OVG die durch das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gebotenen Sorgfaltsmaßstäbe überspannt (RdNr. 5). Somit ist dem A Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) zu gewähren.

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H. Schmidt von Church

H. Schmidt von Church

14.10.2020, 15:41:03

hallo zusammen, kann mir jemand kurz den Unterschied zwischen 74 I und II erklären. Die Klage muss innerhalb vom zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erfolgen, die Begründung etc. innerhalb eines Monats. Ist die Klage dann abstrakt als eine Art Verteidigungsanzeige wie im Zivilrecht zu verstehen und die Begründung als eine Klageerwiderung? Der Vergleich zum Zivilprozessrecht dient nur zum Verständnis.

🦊²

🦊²

3.11.2020, 20:12:29

Hallo Alex Churchyard, ich würde sagen, es ist dem System der Verteidigungsanzeige und Klageerwiderung ähnlich. Auch im Bereich der Berufung wird zwischen der Frist zur Einlegung und der Frist zur Begründung der Berufung unterschieden, siehe § 124a VwGO. Das gleich gilt auch für die Revision, siehe § 139 VwGO.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.6.2021, 08:09:30

Hallo Alex Churchyard, der Vergleich zur Verteidigungsanzeige ist als Merkhilfe sicher hilfreich, um sich das auseinanderfallen zu merken. Fehlt es allerdings an der Verteidigungsanzeige im Zivilrecht, so ist der Beklagte säumig (§330 abs. 1 zpo) und ein Versäumnisurteil ergeht, gegen das er Einspruch eingelegt werden kann (§ 338 ZPO). Dagegen werden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (aber auch bei sämtlichen Rechtsmittelverfahren) die Entscheidungen bei Fristversäumnis rechtskräftig. Die Erhebung des Widerspruchs/ der Klage dient also zunächst dafür den Eintritt der Rechtskraft zu hindern. Um Klarheit für alle Beteiligten zu schaffen, ob nun endgültig Rechtskraft eintritt oder nicht, sind die Erhebungsfristen deutlich kürzer, als die Begründungsfristen (besonders deutlich ist dies im strafprozess, wo Rechtsmittel innerhalb einer Woche eingelegt werden müssen, §§ 314 Abs. 1, 341 Abs 1 StPO). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

jeci

jeci

22.11.2023, 21:25:39

Gerade in der heutigen Zeit, wo in einigen Gebieten montags keine Briefe mehr zugestellt werden, sind 2 Tage schon echt sportlich. Auch vor dem Hintergrund, dass die Deutsche Post schon angekündigt hat, ggf. weitere zustellfreie Tage einzuführen. Vielleicht tut sich hier demnächst noch was 😄

BI

Bilbo

5.1.2024, 13:46:49

Hab ich auch sofort gedacht. Scheint mehr hehres Ziel als tatsächliche Praxis zu sein. 😅

Fabian22

Fabian22

3.4.2024, 14:09:52

Aktuell soll das Postrecht modernisiert werden. Der Gesetztesentwurf zum PostModG (BT-Drucks. 20/10283, S. 25) sieht in § 18 Abs. 1 PostG-E vor, dass die Laufzeitvorgaben angehoben werden: "[...] im Jahresdurchschnitt jeweils mindestens 95 Prozent an dem dritten auf den Einliegerungstag folgenden Werktag und 99 Prozent an dem vierten auf den Einlieferungstag folgen Werktag zustellen." Bisher gilt nach § 2 Nr. 3 S. 1 PUDLV, dass die 95 Prozent im Jahresdurchschnitt bis zum zweiten Werktag nach der Einlieferung erreicht werden müssen.


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