Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)

Mündlichkeitsgrundsatz - Verpflichtung zur umfassenden Beweiswürdigung (§ 261 Abs. 1 StPO)

Mündlichkeitsgrundsatz - Verpflichtung zur umfassenden Beweiswürdigung (§ 261 Abs. 1 StPO)

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird freigesprochen. Maßgeblich für die Anklage war die Aussage des Z in einer richterlichen Vernehmung. Die Niederschrift wird im Prozess verlesen, da Z nach einer Haftentlassung untertauchte und nicht mehr auffindbar ist. Das Gericht verwertet sie dann aber unter Verweis auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht im Urteil.

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Einordnung des Falls

Mündlichkeitsgrundsatz - Verpflichtung zur umfassenden Beweiswürdigung (§ 261 Abs. 1 StPO)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Weil das Gericht den Inhalt der im Prozess verlesenen Vernehmungsniederschrift im Urteil nicht verwertet hat, könnte der Mündlichkeitsgrundsatz verletzt sein (§ 261 StPO).

Ja, in der Tat!

Der Mündlichkeitsgrundsatz besagt zunächst, dass nur der mündlich eingeführte Prozessstoff ins Urteil einfließen darf. § 261 StPO verpflichtet darüber hinaus gleichsam zu einer umfassenden Beweiswürdigung. Das Gericht muss dem Urteil also grundsätzlich alle ordnungsgemäß eingeführten Beweise zugrunde legen. Anders ist dies nur, wenn im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot besteht.Hat das Gericht also zu Unrecht davon abgesehen, den Inhalt der Urkunden im Urteil zu berücksichtigen, weil es das Beweisverwertungsverbot fälschlicherweise annahm, ist der Mündlichkeitsgrundsatz verletzt.Lerne in Zusammenhängen: § 244 Abs. 2 StPO und § 245 Abs. 1 S. 1 StPO verpflichten - wie hier noch geschehen - zur Verwendung aller bekannten, § 261 StPO zur Würdigung aller eingeführten Beweismittel.
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2. Ein Beweisverwertungsverbot könnte sich daraus ergeben, dass das Gericht Z in der mündlichen Verhandlung nicht persönlich vernommen hat. Können nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz Zeugenaussagen grundsätzlich dadurch ersetzt werden, dass ein Protokoll über eine frühere Aussage verlesen wird (§ 250 StPO)?

Nein!

Nein! Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist grundsätzliche diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen (§ 250 S. 1 StPO). Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des Protokolls einer früheren Vernehmung ersetzt werden (§ 250 S. 2 StPO). Dies soll die Beweisqualität dadurch sichern, dass die Wahrnehmung von Zeugen direkt durch diese selbst geschildert wird.Dies ist die sogenannte materielle Unmittelbarkeit, die nicht zu verwechseln ist mit der formellen Unmittelbarkeit. Die formelle Unmittelbarkeit besagt besagt, dass die Verhandlung vor dem entscheidenden Gericht stattfinden muss. Sie stellt sicher, dass die entscheidenden Richter selbst einen unmittelbaren Eindruck von der Verhandlung erlangen.

3. Da Z untergetaucht und für das Gericht nicht auffindbar war, durfte der Inhalt der Vernehmungsniederschrift durch Verlesung eingeführt werden (§ 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Ein Beweisverwertungsverbot liegt damit nicht vor.

Genau, so ist das!

Die Vernehmung eines Zeugen darf durch die Verlesung des Protokolls über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden, wenn seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen (§ 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Dies stellt eine Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz dar.Da Z für das Gericht trotz aller Bemühungen nicht auffindbar war und somit seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung für eine ungewisse Zeit ein Hindernis entgegenstand, führte das Gericht den Inhalt seiner Aussage zulässigerweise durch die Verlesung des Vernehmungsprotokolls ein.Achtung Stolperfalle: § 251 Abs. 2 StPO gilt nur für richterliche Vernehmungen.

4. Indem das Gericht die verlesene Vernehmungsniederschrift nicht im Urteil berücksichtigte, verletzte es den Mündlichkeitsgrundsatz (§ 261 StPO).

Ja, in der Tat!

§ 261 StPO verpflichtet das Gericht zu einer umfassenden Beweiswürdigung. Dem Urteil müssen also alle ordnungsgemäß eingeführten Beweise zugrunde gelegt werden, sofern nicht im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht.Da das Gericht hier ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es vom Vorliegen eines Verwertungsverbots bezüglich der Niederschrift ausging, ist ersichtlich, dass deren Inhalt keinen Eingang in das Urteil fand, obwohl sie ordnungsgemäß eingeführt wurde. Das Gericht hat nicht etwa den Beweiswert infrage gestellt, sondern von vornherein von einer Verwertung abgesehen. Es liegt ein Verstoß gegen § 261 StPO vor.Achtung: Es gibt keine Pflicht zur umfassenden schriftlichen Würdigung aller eingeführten Beweismittel. Auch in der Klausur müssen äußere Umstände deshalb eine Nichtberücksichtigung positiv belegen. Das bloße Schweigen der Urteilsgründe reicht nicht aus.

5. Die Staatsanwaltschaft kann diesen Rechtsfehler erfolgreich mit der Revision rügen (§ 337 StPO).

Ja, in der Tat!

Die Staatsanwaltschaft kann erfolgreich in die Revision gehen, wenn das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht.Es kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass A mit der belastenden Aussage des Z verurteilt worden wäre. Die Staatsanwaltschaft kann erfolgreich Revision einlegen.Achtung: Die Staatsanwaltschaft braucht aufgrund ihrer Aufgabe als öffentliches Rechtspflegeorgan keine eigene Beschwer. Nur eine zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft setzt die Beschwer des Angeklagten voraus.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

N00B

n00b

24.8.2024, 05:54:58

Ich hätte gedacht, das Nichtwürdigen ordnungsgemäß eingeführter Beweismittel sei ein Verstoß gegen das aus §

261 StPO

folgende Gebot erschöpfender Beweiswürdigung als Grenze der freien Beweiswürdigung. Ist dem nicht so?

Hanna

Hanna

9.11.2024, 10:28:18

Das sehe ich genauso. Der Mündlichkeitsgrundsatz besagt lediglich, dass nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff dem Urteil zugrunde gelegt werden darf (M-G/S 2024 § 261 Rn. 7). Vorliegend geht es jedoch um die Nichtverwendung eines Beweises, welcher ohne Vorliegen eines Beweisvertungsverbots in die HV eingeführt wurde. Somit liegt auch m.E. ein Verstoß gegen den Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung vor.

vulpes iuris

vulpes iuris

6.11.2024, 14:59:06

In der Vertiefung dieses Falls heißt es, „eine zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft setzt die Beschwer des Angeklagten voraus“. In einem anderen Fall wird jedoch erklärt, die Staatsanwaltschaft sei „stets beschwert“. Wenn ich mich richtig erinnere, wird das in dem anderen Fall damit begründet, dass sie die einwandfreie Strafrechtspflege überwache, oder so ähnlich. Widerspricht sich das?


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