Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2022
Examensklassiker: Anforderungen an die Arglosigkeit im Rahmen der Heimtücke
Examensklassiker: Anforderungen an die Arglosigkeit im Rahmen der Heimtücke
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T fordert seinen Bruder O nach einem Familienstreit zum „Gespräch“ nach draußen auf. O denkt, dass T sich bloß mit ihm prügeln will. O lehnt dies unter Verweis auf die anwesenden Kinder ab. Daraufhin entschließt sich T, O zu töten. T zückt seine Waffe und erschießt O. Von der Waffe wusste O nichts.
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Einordnung des Falls
Der BGH beschäftigt sich in diesem Beschluss mit den Anforderungen, welche an die Arglosigkeit des Opfers im Rahmen der Heimtücke zu stellen sind. Hiernach sei das Opfer nicht erst dann arglos, wenn es um einen Angriff auf sein Leben fürchtet. Vielmehr reiche bereits eine Sorge um einen gewichtigen Angriff auf die körperliche Integrität. Dies gelte auch, wenn das Opfer mangels Wissens von einer Bewaffnung des Täters den gegen ihn gerichteten Angriff unterschätzt.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte sich T des Mordes strafbar gemacht haben (§ 211 StGB)?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Könnte T das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht haben (§ 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 1 StGB)?
Ja!
3. Muss das Opfer den bevorstehenden Angriff in seinem ganzen Ausmaß und die Gefährlichkeit der Angriffsweise erkennen, damit es nicht mehr arglos ist?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. War O zum Zeitpunkt des Angriffs arglos, da O lediglich davon ausging, dass T sich mit ihm prügeln wollte?
Nein, das trifft nicht zu!
5. Bleibt T straflos?
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Philipp Paasch
16.9.2022, 21:07:06
Halte die Lösung des BGH hier für kaum nachvollziehbar. Zwischen sich mit jemandem aufgrund eines Familienstreits prügeln oder jemanden erschießen sind doch 2 völlig verschiedene Welten. Außerdem muss mit beobachtet werden, dass O in dem Wissen der Prügelei mit rausgegangen ist. Hier ist der Unterschied zu sehen. Es ist nicht ersichtlich, dass O in Erwartung eines erheblichen Angriffs mit rausgekommen wäre. In etwas anderer Konstellation hat der BGH entschieden, dass auch ein kurz zuvor getätigter Ausruf wie "hey!" oder "Geli, es ist soweit." die Arglosigkeit, bzw. Wehrlosigkeit nicht entfallen lässt, weil sich das Opfer nicht mehr sinnvoll verteidigen kann. Hier ähnlich, O konnte sich nicht sinnvoll gegen einen Pistolenschuss verteidigen, wohl aber im Rahmen einer Prügelei.
ehemalige:r Nutzer:in
17.9.2022, 14:43:52
Das BGH-Urteil hier ist doch (langweilig) genau in einer Linie mit vorherigen Entscheidungen: 1. Der Maßstab, der zur Bestimmung der Arglosigkeit vom BGH herangezogen wird, ist der gleiche wie immer (z.B. BGHSt 20, 301). Dem folgend wird die Arglosigkeit abgelehnt. Die von dir getroffenen Erwägungen, wie z.B. "dass O nicht mit rausgekommen wäre" gehen insoweit allesamt am Maßstab vorbei. 2. Bei der "Geli, es ist soweit"-Entscheidung ging es um die Zeitspanne die zwischen Erkennen der Gefahr und unmittelbarem Angriff maximal liegen darf, ohne dass die Arglosigkeit entfällt. In dem Fall hier ist das aber unproblematisch, da die feindselige Konfrontation bereits einige Zeit vor der eigentlichen Tötungshandlung begann. 3. Zu deinem letzten Satz: Für die Annahme von Heimtücke muss die Wehrlosigkeit gerade aus der Arglosigkeit - und nicht aus einer "Bewaffnungsüberlegenheit" - folgen.
Philipp Paasch
15.3.2023, 00:55:53
Mitnichten geht es "am Maßstab vorbei" und ist auch nicht "langweilig".
Sambadi
7.4.2023, 20:47:18
Wo wird denn die Grenze gezogen bei “erheblicher Angriff”. Nehmen wir mal ein Beispiel, dass O richtig scheiße gebaut hat und fremdgegangen ist. Seine Frau hat das irgendwie herausgefunden und läuft wütend auf ihn zu um ihm seine „verdiente“ saftige Schelle zu verpassen (seine Frau ist auch echt ziemlich stark, macht Kampfsport, wie auch immer. Wird auf jeden Fall ziemlich wehtun. Nun denkt O, dass er diese Schelle verdient hat und lässt das über sich ergehen, aber sie hat ein Messer hinterm Rücken versteckt und ersticht ihn. Immer noch keine Arglosigkeit, weil er ja mit einem (erheblichen) Angriff rechnete?
InDubioProsecco
2.6.2023, 16:08:20
Hier könnte man noch ergänzen, dass die "Durchgangsstraftat" §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1, 5 StGB auch verwirklicht ist, aber zurücktritt.
Radek
2.7.2023, 09:23:37
„Bleibt T straflos?“ Also eine so formulierte Frage könnte man sich auch sparen 😀
Lukas_Mengestu
19.10.2023, 12:11:01
Hallo Radek, um den Rahmen nicht zu sprengen fokussieren wir uns in der examensrelevanten Rechtsprechung auf zentrale Aspekte der Entscheidung. Die letzte Frage ist zugegebenermaßen nicht allzu schwer zu beantworten. Sie dient aber vor allem noch einmal dazu, sich klarzumachen, dass das Klausurgutachten an der Stelle natürlich nicht beendet ist. Bevor Du hier auf ja klickst, kannst Du also zumindest für Dich klären, welche Straftatbestände erfüllt sind und dann mit der Lösung abgleichen, ob Du an alles gedacht hast :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Mathis
1.11.2024, 20:01:59
Könnte man hier (und bei anderen Aufgaben) vielleicht aus didaktischen Gründen auf die richtige Formulierung der Obersätze achten („wegen … strafbar“; „des … schuldig“)? Außerdem halte ich es für problematisch, bei der Maßstabbildung unkritisch den Gesetzeswortlaut des § 211 StGB zu übernehmen („Mörder ist, wer…“). Besser wäre, wie sonst auch einfach zu formulieren „wegen Mordes macht sich strafbar, wer…“. Danke und viele Grüße!
Sebastian Schmitt
9.11.2024, 15:25:40
Hallo @[Mathis](208543), zum ersten Teil: Vielen Dank für den völlig berechtigten Hinweis, wir haben das hier korrigiert! Auch in anderen Aufgaben sollte das natürlich einheitlich und sprachlich sauber gehandhabt werden. Mittlerweile haben wir allerdings so viele verschiedene Aufgaben, dass wir die kaum alle manuell auf dieses Problem checken können bzw das enorm viel Zeit braucht. Falls Dir oder anderen das jedoch an sonstiger Stelle auffallen sollte, lasst es uns gerne wissen - idealerweise, indem Ihr die konkrete Aufgabe nennt. Am einfachsten geht das, indem Ihr mir den Link zur Aufgabe in Euren Post einfügt (Symbol mit dem Quadrat und dem nach rechts oben herausgehenden Pfeil über der Aufgabe anklicken ("Teilen"-Symbol), im sich dann öffnenden Menü ganz rechts auf die beiden überlappenden Quadrate, dann habt Ihr den Link in der Zwischenablage und könnt ihn hier zB mit Strg+v einfügen). Zum zweiten Teil: Das halte ich für weniger bedenklich. § 211 StGB kann man aus verschiedenen Gründen zu Recht kritisch sehen und über mögliche Reformen wurde und wird in letzter Zeit viel diskutiert, nicht zuletzt wegen des historischen Ursprungs des Paragraphen. So lange die Norm aber eben noch so formuliert ist, sehe ich (zu Lernzwecken) keinen Grund, hier nicht einfach (auch) den Gesetzeswortlaut abzubilden - zumal das gleichzeitig dazu einlädt, sich darüber Gedanken zu machen, warum die Formulierung hier so "anders" ist. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Mathis
10.11.2024, 15:21:30
Hallo @[Sebastian Schmitt](263562), besten Dank für die Antwort und Korrektur! Ja, über den zweiten Teil kann man sicherlich streiten und Du hast recht, das ist nunmal der geltende Wortlaut. Dennoch passt das Bild von "dem Mörder" und "dem Totschläger" nicht mehr in unser heutiges Strafrechtsverständnis und bleibt für mich untrennbar mit der Tätertypenl
ehreassoziiert, wie sie Dahm, Freisler, Wolf und andere nationalsozialistische Strafrechtler geprägt haben. Daher würde ich persönlich den Gesetzeswortlaut in einer Falllösung ohne eine entsprechende Einordnung eher nicht replizieren. Aber das Thema wird sich ohnehin erledigen, wenn der § 211 StGB - hoffentlich noch in dieser Legislatur - endlich sprachlich angepasst wird. Viele Grüße, Mathis