Examensklassiker: Anforderungen an die Arglosigkeit im Rahmen der Heimtücke - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Opfer O steht seinem Angreifer T gegenüber. O erwartet eine Prügelei, doch T zieht gerade eine Waffe.
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Klassisches Klausurproblem

T fordert seinen Bruder O nach einem Familienstreit zum „Gespräch“ nach draußen auf. O denkt, dass T sich bloß mit ihm prügeln will. O lehnt dies unter Verweis auf die anwesenden Kinder ab. Daraufhin entschließt sich T, O zu töten. T zückt seine Waffe und erschießt O. Von der Waffe wusste O nichts.

Einordnung des Falls

Der BGH beschäftigt sich in diesem Beschluss mit den Anforderungen, welche an die Arglosigkeit des Opfers im Rahmen der Heimtücke zu stellen sind. Hiernach sei das Opfer nicht erst dann arglos, wenn es um einen Angriff auf sein Leben fürchtet. Vielmehr reiche bereits eine Sorge um einen gewichtigen Angriff auf die körperliche Integrität. Dies gelte auch, wenn das Opfer mangels Wissens von einer Bewaffnung des Täters den gegen ihn gerichteten Angriff unterschätzt.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte sich T des Mordes strafbar gemacht haben (§ 211 StGB)?

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Ja, in der Tat!

Mörder ist, wer (1) einen anderen Menschen tötet und dabei (2) mindestens ein Mordmerkmal erfüllt.T hat O durch den Schuss getötet. Ob er sich des Mordes strafbar gemacht hat, hängt davon ab, ob er zusätzlich ein Mordmerkmal verwirklicht hat.Anders als beim Totschlag besteht beim Mord kein Spielraum im Hinblick auf die Bestrafung des Täters. Das Gesetz sieht ausschließlich die lebenslange Freiheitsstrafe vor. Aufgrund dieses Umstandes ist das Vorliegen von Mordmerkmalen - und damit die Abgrenzung zum Totschlag - besonders gründlich zu prüfen.

2. Könnte T das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht haben (§ 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 1 StGB)?

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Ja!

Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt.Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Wehrlos ist, wer infolge der Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder in seinen Verteidigungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist aufgrund seiner hohen praktischen Bedeutung und der vielen verschiedenen möglichen Fallkonstellationen besonders beliebt. Hier solltest Du dich gut auskennen.

3. Muss das Opfer den bevorstehenden Angriff in seinem ganzen Ausmaß und die Gefährlichkeit der Angriffsweise erkennen, damit es nicht mehr arglos ist?

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Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Ohne Bedeutung für die Frage der Arglosigkeit sei, ob das Opfer gerade einen Angriff gegen das Leben erwartet oder es die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt. Besorgt das Opfer einen gewichtigen Angriff auf seine körperliche Integrität, sei es vielmehr selbst dann nicht mehr arglos, wenn es etwa wegen fehlender Kenntnis von der Bewaffnung des Täters die Gefährlichkeit des erwarteten Angriffs unterschätzt. (RdNr. 9)

4. War O zum Zeitpunkt des Angriffs arglos, da O lediglich davon ausging, dass T sich mit ihm prügeln wollte?

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Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Allein maßgeblich sei, ob O zu dem Zeitpunkt, als T die Waffe mit Tötungsabsicht aus dem Hosenbund zog, jeweils irgendwie geartete erhebliche tätliche Angriffe gegen seine Person erwartete. (RdNr. 10) O ging davon aus, dass T sich mit ihm schlagen wollte. Zugunsten des T ist davon auszugehen, dass diese Auseinandersetzung aus Os Sicht auch unmittelbar bevorstand. Somit hat O einen erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit erwartet. Dass O weder die Waffe, noch das Ausmaß des Angriffs überblickt hat, ist unerheblich.

5. Bleibt T straflos?

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Nein!

T hat aufgrund der fehlenden Arglosigkeit des O nicht heimtückisch gehandelt. Durch den mit Tötungsabsicht abgegebenen Schuss hat er sich jedoch wegen Totschlags strafbar gemacht (§ 212 Abs. 1 StGB).

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