Gibt es ein Recht auf Selbsthilfe mittels Gewalt aufgrund berechtigter Forderung? - Jurafuchs
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T platzt die Hutschnur, O zahlt geliehenes Geld trotz Fälligkeit nicht zurück. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, besucht er sie mit seiner Flinte. Ein Warnschuss beeindruckt O wenig. Stattdessen greift sie nach seiner Waffe. Aus Angst vor einer körperlichen Auseinandersetzung schießt T auf O, welche verstirbt.
Einordnung des Falls
Der BGH präzisiert in folgendem Urteil, wie es sich auf die Strafbarkeit auswirkt, wenn der Täter mittels einer Schrotflinte versucht, eine <berechtigte</b> Forderung durchsetzen. So sei die Handlung trotz des legitimen Anspruchs verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB. Zudem nimmt das Gericht Stellung zu den Anforderungen der Heimtücke. Hiernach hat der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in feindlicher Willensrichtung <b>bewusst</b> auszunutzen. An dem Ausnutzungsbewusstsein fehle es, wenn der Täter die Schutzlosigkeit des Opfers nicht gezielt zur Tötung ausnutze.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte T sich des Mordes strafbar gemacht haben (§ 211 StGB)?
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Ja!
2. Handelte T heimtückisch (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB)?
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Nein, das ist nicht der Fall!
3. Hat T O aus Habgier getötet (§ 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 3 StGB)?
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Nein, das trifft nicht zu!
4. Hat T sich des Totschlags strafbar gemacht (§ 212 StGB)?
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Ja!
5. Ist es ist zu prüfen, ob T sich wegen versuchter räuberischen Erpressung strafbar gemacht hat (§§ 253 Abs. 1, 255, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
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Genau, so ist das!
6. Hatte T Tatentschluss bezüglich des Tatbestands der räuberischen Erpressung (§§ 253, 255 StGB)?
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Nein, das trifft nicht zu!
7. Hat T sich der Nötigung strafbar gemacht (§ 240 StGB)?
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Nein!
8. Hatte T Tatentschluss eine Nötigung zu begehen (§§ 240, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
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Genau, so ist das!
9. Lässt Ts bestehende Forderung die Rechtswidrigkeit der Drohung entfallen?
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Nein, das trifft nicht zu!
10. Hat sich T im Ergebnis wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchter Nötigung strafbar gemacht?
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Ja!
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Phoenix
24.11.2022, 15:17:56
Müsste im Hinblick auf den Totschlag nicht geprüft werden, ob T wegen eines Etbi schuldlos gehandelt haben könnte? Wenn er nur aus Angst vor einem Angriff schoss, könnte er aus der irrigen Vorstellung einer Notwehrsituation heraus gehandelt haben.
Philipp Paasch
25.11.2022, 00:01:37
Ganz recht, so ist es. Ggf. müsste man auch den extensiven Notwehrexzess ansprechen.
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Lukas_Mengestu
2.12.2022, 19:07:37
Hallo ihr beiden, vielen Dank für eure Nachfrage. Sehr gut, dass ihr an den Erlaubnistatbestandsirrtum gedacht habt! Der Erlaubnistatbestandsirrtum setzt allerdings voraus, dass sich der Täter - irrig - eine Situation vorstellt, in der sein Verhalten gerechtfertigt wäre. Daran fehlt es hier. T hat sich vorgestellt, dass O ihn gleich angreifen würde und aus Furcht vor einer körperlichen Auseinandersetzung geschossen. Dem vorgestellten Angriff von O ging aber wiederum Ts eigener Angriff in Form des Warnschusses & der Drohung voraus. T hat insoweit versucht, rechtswidrig auf Os Willensentschließungsfreiheit einzuwirken. Wenn O sich hiergegen zur Wehr gesetzt hätte, so wäre dies kein rechtswidriger Angriff auf T, sondern vielmehr seinerseits durch Notwehr gerechtfertigt. Selbst die vorgestellte Situation hätte Ts Verhalten also nicht gerechtfertigt, weswegen die Voraussetzungen des ETBI schon nicht vorliegen. In der Klausur könnt ihr das natürlich kurz anprüfen. Zwingend ist dies nicht, wenn - wie hier - die vorgestellte Lage auch nicht zu einer Rechtfertigung führt (vgl. auch die kurzen Ausführungen des LG Potsdam = LG Potsdam Urt. v. 18.12.2020 – 21 Ks 7/20, BeckRS 2020, 53088 RdNr. 221). Wir haben den Hinweistext aber noch einmal ein wenig präzisiert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
justlaw
1.7.2023, 16:09:01
Nur das Abfeuern einer Schusswaffe auf eine andere Person begründet doch noch keinen Tötungsvorsatz oder? Müsste im Sachverhalt nicht noch zusätzlich stehen, dass der Täter zumindest mit einem möglichen Tod des Opfers rechnete/ diesen billigend in Kauf nahm? Vorliegen wollte er Täter nach seiner Sicht lediglich eine körperliche Konfrontation vermeiden - dafür würde aber auch ein Schuss ins Bein o.ä., also eine reine Körperverletzung genügen. Oder irre ich mich da?
Isa20
6.3.2024, 16:03:27
dasselbe habe ich mich auch gefragt
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Pilea
6.11.2023, 08:59:39
Müsste man bei der Prüfung des §§ 253, 22 StGB auch beim Vermögensnachteil bzw. Tatentschluss bzgl. dessen rausfliegen?
![Nora Mommsen](/_next/image?url=https%3A%2F%2Fwissen.jurafuchs.de%2Fimage%2F%25252Fassets%25252Fsecure%25252Fusers%25252Favatar__1g4ube287wphue6xpdn8yy675.jpeg%3Ftype%3Draw&w=3840&q=75)
Nora Mommsen
7.11.2023, 11:03:40
Hallo Pilea, danke für deine Frage. Auch das lässt sich argumentieren. Ein Vermögensnachteil läge nur dann vor, wenn der Täter keinen fälligen und durchsetzbaren Anspruch auf das Geld hat. Dies ist hier der Fall. Wir überprüfen die Lösung nochmal! Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
jopri
6.12.2023, 10:22:13
Es ist doch widersprüchlich eine Arglosigkeit des Opfers zu bejahen (hier meines Erachtens völlig falsch, wenn jemand mit geladener Waffe auf mich zielt) und dann zu sagen, eine Notwehrlage liegt nicht vor, weil T Angreifer war. Er droht hier mit einer Verletzung von Leib oder Leben also liegt ersichtlich keine Notwehrlage durch das Greifen nach der Waffe vor. Aber dann kann auch keine Arglosigkeit bei der Heimtücke angenommen werden.
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Lukas_Mengestu
8.12.2023, 14:35:01
Hallo jopri, bei der Prüfung der Arglosigkeit kommt es letztlich immer auf die Einzelfallumstände an. Maßgeblicher Zeitpunkt ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Diesbezüglich könnte man hier durchaus argumentieren, dass Os Arglosigkeit infolge der offenen Drohung entfallen ist. Auch ein offenes feindseliges Vorgehen soll die Arglosigkeit nicht entfallen lassen, wenn eine Abwehrmöglichkeit des Opfers aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen Erkennen der Gefahr und unmittelbarem Angriff ausgeschlossen ist. Auch Abwehrversuche, die das durch den überraschenden Angriff in seinen Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkte Opfer im „letzten Moment“ unternehmen konnte, sollen Heimtücke (bei Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns) nicht ausschließen (NK-StGB/Saliger, 6. Aufl. 2023, StGB § 211 Rn. 67). Dies spricht hier dafür, dass die Arg-/Wehrlosigkeit hier durchaus vorlagen, auch wenn es letztlich am Ausnutzungsbewusstsein fehlte (aA vertretbar). Der BGH konnte diese Frage hier wie gesagt einfach offen lassen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team