Öffentliches Recht

Grundrechte

Unionsgrundrechte (EU-Grundrechte-Charta)

Abwandlung Anwendungsbereich Mitgliedstaaten => offensichtlich anwendbar

Abwandlung Anwendungsbereich Mitgliedstaaten => offensichtlich anwendbar

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die EU-Verordnung zum digitalen Lernen verpflichtet die Mitgliedstaaten, allen Studierenden digitale Lerntools zur Verfügung zu stellen. Bayern schafft daraufhin für deutsche Jurastudierende das Lerntool Jurafuchs an. Die irische Studentin S, im Auslandssemester an der LMU, sieht sich diskriminiert.

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Einordnung des Falls

Abwandlung Anwendungsbereich Mitgliedstaaten => offensichtlich anwendbar

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Ungleichbehandlung der S gegenüber deutschen Studierenden könnte gegen Regelungen der GRCh zur Gleichheit (Art. 21f. GRCh) verstoßen. Ist die GRCh auf Handlungen der Mitgliedstaaten immer anwendbar?

Nein!

Die GRCh ist in ihrem Anwendungsbereich auf Mitgliedstaaten beschränkt. Das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten und dessen Anwendung sind nur dann am Maßstab der GrCh zu messen, wenn die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh) in Frage steht. Die GrCh errichtet somit gerade keinen umfassenden Grundrechtsschutz für die gesamte EU. Sollte in Deiner Prüfung die GRCh drankommen, solltest Du in jedem Fall Basiswissen zum Anwendungsbereich der GRCh präsentieren.
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2. Mitgliedstaaten handeln in jedem Fall dann zur „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh), wenn sie Unionsrecht umsetzen und anwenden, das ihnen keine Umsetzungsspielräume belässt.

Genau, so ist das!

Die GRCh bindet die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 Var. 2 GRCh „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Wann ein Mitgliedstaat tätig wird zur „Durchführung von Unionsrecht“, ist umstritten. Unstreitig wird das Unionsrecht von den Mitgliedstaaten durchgeführt im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich, also dort, wo die Mitgliedstaaten Unionsrecht umsetzen und anwenden, das ihnen keine Umsetzungsspielräume belässt (EuGH, Wachauf, RdNr. 19; BVerfG, Recht auf Vergessen II, RdNr. 42).Vollständig unionsrechtlich determiniert sind Rechtsbereiche, in denen EU-Verordnungen zwingende Vorgaben machen. Denn diese sind verbindlich und gelten unmittelbar (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Vollständig unionsrechtlich determiniert sind auch Rechtsbereiche, in denen EU-Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) umzusetzen sind, die den Mitgliedstaaten keine Umsetzungsspielräume belassen.

3. Deutschland verbleibt vorliegend hinsichtlich des „Ob“ des Anschaffens digitaler Lerntools ein Umsetzungsspielraum. Bayern handelt deshalb außerhalb der „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh).

Nein, das trifft nicht zu!

Die Mitgliedstaaten handeln zur Durchführung von Unionsrecht, wenn ihnen hinsichtlich der Anwendung oder Umsetzung von Unionsrecht keine Umsetzungsspielräume verbleiben (vollständig unionsrechtlich determinierter Bereich). Die Verpflichtung zur Versorgung aller Studierenden mit digitalen Lerntools entstammt der - fiktiven - EU-Verordnung zum digitalen Lernen. Diese ist gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV verbindlich und gilt unmittelbar. Mitgliedstaat Deutschland - hier in Gestalt des förderal zuständigen Bayern - verbleibt mithin kein Umsetzungsspielraum bei der Anwendung der Vorgaben der Verordnung. Bayern handelt somit im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich, die GRCh ist gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG anwendbar. Die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte der GRCh bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten soll verhindern, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht nicht unter Berufung auf nationale Grundrechte uneinheitlich anwenden.

4. Die Grundrechte des GG bleiben im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich neben der GRCh anwendbar und sind Prüfungsmaßstab einer verfassungsrechtlichen Kontrolle durch das BVerfG.

Nein!

Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich verbleibt für die Anwendung der Grundrechte des GG wegen des Anwendungsvorrangs der GRCh kein Raum. Die Grundrechte des GG werden in ihrer Anwendbarkeit gesperrt, auch wenn sie hinter den Unionsgrundrechten „ruhend“ in Kraft bleiben. Verstoßen mitgliedsstaatliche Maßnahmen, die im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich zur Durchführung von Unionsrecht ergangen sind, gegen die GRCh, ergibt sich ein Rechtsschutzproblem: Der EuGH ist für die Überprüfung nationalen Rechts am Maßstab der GRCh nicht zuständig. Um die Rechtsschutzlücke zu schließen, müssen mitgliedsstaatliche Gerichte das nationale Recht am Maßstab der Grundrechte der GRCh überprüfen, selbst wenn ihre nationalen Grundrechte wegen des Anwendungsvorrangs der GRCh gesperrt sind. Nationale Gerichte agieren in diesen Fällen als funktionale Unionsgerichte. Achtung: Dies hat zur Folge, dass das BVerfG - über den Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG hinaus - im Rahmen der Verfassungsbeschwerde Rechtsakte deutscher Hoheitsgewalt, die zur Durchführung des Unionsrechts ergangen sind, am Maßstab der GRCh überprüft. Genau genommen erfolgt dann lediglich eine Prüfung europäischer Grundrechte. Deutsche Grundrechte treten - außer in Ausnahmefällen - vollständig dahinter zurück.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

🦊²

🦊²

27.5.2022, 19:22:29

Hi, Hier und im letzten Fall wurden quasi die zwei wichtigen unstrittigen Fälle der Durchführung von Unionsrecht abgehandelt. Ich frag mich nun an dieser Stelle, in welchen Fällen ist es denn umstritten? PS: Hier fehlt wohl auch etwas beim Klausurhinweis. Der letzte Satz endet abrupt. Achja, wieder Mal sehr gelungener Fall, insbesondere zum schärfen des Systemverständnis 👍🥳 LG - 🦊 ²

Nora Mommsen

Nora Mommsen

21.6.2022, 15:45:37

Hallo, umstritten ist an diesem Fall, der Begriff des "unionsrechtlich determinierten" Rechts. Während der EuGH dies bereits annimmt, wenn ein „hinreichender Zusammenhang von einem gewissen Grad“ besteht, muss für das BVerfG das nationale Recht vollständig determiniert sein durch das europäische Recht. Dies ist besonders im Fall der Vollharmonisierung gegeben, wenn dem Gesetzgeber also kein Umsetzungsspielraum mehr bleibt (Jarass EU-Grundrechte-Charta Art. 51 Rn. 23). Den Klausurhinweis haben wir korrigiert. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

PH

Philippe

4.8.2022, 17:30:05

Hat das BVerfG sich in

Recht auf Vergessen

werden I nicht der Position des EuGH angenähert, indem es davon abgerückt ist, die Anwendungsbereiche der verschiedenen Grundrechte scharf voneinander abzugrenzen und insbesondere bei bestehenden Umsetzungsspielräumen die Kontrolle nur "primär" am Maßstab des GG ausübt, die GrCh in dieser Situation aber für prinzipiell anwendbar hält (womit auch die Frage der "Durchführung" positiv zu beantworten ist)? Da ja auch der EuGH letztlich einen gleitenden Maßstab anwendet, besteht in diesem Sinne wohl kein richtiger Streit (mehr?).

TUBAT

TubaTheo

25.1.2024, 18:12:59

Hallöchen zusammen, gibt es denn Fälle, in denen ein Eingriff in die Grundrechte der GRCh gerechtfertigt ist, aber der gleichzeitige Eingriff in ein Grundrecht des GG widerrechtlich ist? Oder anders gefragt: kann ein Grundrecht des GG verletzt sein, während die Grundrechte der GRCh nicht verletzt sind? Und wenn ja, bleiben die Grundrechte des GG dann trotzdem hinter den Grundrechten der GRCh zurück? Danke schonmal für die Antwort(en).

Nora Mommsen

Nora Mommsen

28.1.2024, 16:44:09

Hallo TubaTheo, danke dir für die Frage! Grundsätzlich gilt auch hier ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Es ist also entscheidend, ob die Grundrechte den gleichen Schutzbereich haben. Gelangen innerhalb mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume beide Grundrechtskataloge parallel zur Anwendung (wegen überschneidender Schutzbereiche), richtet sich der Grundrechtsschutz grundsätzlich nach dem jeweils höheren Schutzniveau (vgl. Art. 53 GRCH.) Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt darüber hinaus: Sieht das umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume vor, ist kein Raum für die Grundrechte des GG; sie treten zurück und machen den Grundrechten der Charta Platz. Den Grundrechten des GG kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG dann eine Auffangfunktion zu. Wenn also die Grundrechte der Charta versagen oder einen im Vergleich verkürzten Schutz gewähren kommen sie dennoch zum tragen. Informativ dazu sind die Entscheidungen des BVerfG zum

Recht auf Vergessen

. Eine gute Zusammenfassung findest du zudem hier: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-recht-auf-vergessen-europa-eugh-grundrechte-teil-1/. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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