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Aufklärungspflicht über Verkauf von Produkten mit rechtsradikalem Bezug („Thor-Steinar-Fall“)

Aufklärungspflicht über Verkauf von Produkten mit rechtsradikalem Bezug („Thor-Steinar-Fall“)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T mietet von V einen Laden im Hundertwasserhaus in Magdeburg. T möchte ausschließlich „Thor-Steinar“-Produkte verkaufen. Er verschweigt dies aber bewusst V, weil er von dessen Abneigung gegen rechtsextremistische Kreise weiß. Die Marke gilt als identitätsstiftendes Erkennungszeichen unter Rechtsextremisten. Zur Eröffnung überreicht V dem T ein Bild. Am selben Tag ficht V den Mietvertrag an.

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Einordnung des Falls

Die Thor-Steinar-Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2010 befasst sich mit der Frage, welche Aufklärungspflichten einen Mieter bei Abschluss des Mietvertrags treffen. Im konkreten Fall unterließ es der Mieter, darauf hinzuweisen, dass er in dem gemieteten Laden Produkte der Marke Thor Steinar vertreiben wolle. Diese wird von Rechtsextremisten als gemeinsames Erkennungszeichen verwendet. Der BGH entschied, dass den Mieter verpflichtet gewesen wäre, hierüber aufzuklären. Der bewusste Verstoß gegen diese stelle eine arglistige Täuschung dar, weshalb der Vermieter berechtigt war, den Mietvertrag anzufechten (§ 123 Abs. 1 BGB).

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. V kann den Mietvertrag anfechten, wenn T ihn arglistig getäuscht hat und die Täuschung kausal für den Vertragsschluss durch V war.

Ja!

Eine Willenserklärung ist nur dann Ausdruck von rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung, wenn die Willensbildung nicht durch arglistige Täuschung beeinflusst wurde. Diese rechtsgeschäftliche Entschließungsfreiheit schützt § 123 Abs. 1 BGB. V kann den Mietvertrag bei arglistiger Täuschung durch T anfechten (§ 123 Abs. 1 BGB).
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2. Eine arglistige Täuschung kann auch durch Verschweigen erfolgen.

Genau, so ist das!

Eine arglistige Täuschung setzt voraus eine Täuschung zum Zweck der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums. Eine solche Täuschung ist auch durch Verschweigen möglich, wenn eine Aufklärungspflicht bezüglich der verschwiegenen Tatsache besteht.

3. T hätte V nur dann vor Vertragsschluss darüber aufklären müssen, dass er ausschließlich Waren der Marke „Thor Steinar“ verkaufen werde, wenn V danach gefragt hätte.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Aufklärungspflicht besteht (1) auf Nachfrage, (2) bei besonders wichtigen Umständen oder (3) besonderem Vertrauensverhältnis. Besonders wichtige Umstände sind solche, die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind, z.B. weil sie geeignet sind, erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. T hatte eine Aufklärungspflicht, weil es besonders wichtige Umstände betraf. BGH: Wegen des Verkaufs von „Thor-Steinar“-Waren könne das Hundertwasserhaus in den Ruf geraten, Anziehungsort für rechtsradikale Käuferschichten zu sein. Diese rufschädigende Wirkung könne V erheblich wirtschaftlich schädigen (RdNr. 28).

4. T hatte Vorsatz bezüglich der Kausalität der Täuschung.

Ja!

Der subjektive Tatbestand einer Täuschung durch Unterlassen setzt voraus, (1) dass der Täuschende seine Aufklärungspflicht vorsätzlich missachtet und (2) Vorsatz bezüglich der Kausalität der Täuschung hat. BGH: T habe gewusst, dass die Marke rechtsradikalen Kreisen zugeordnet werde. Deshalb sei ihm bewusst gewesen, dass aus dem Verkauf von „Thor-Steinar“-Produkten dem V erhebliche wirtschaftliche Nachteile drohten. Er habe deshalb zumindest billigend in Kauf genommen, dass V den Mietvertrag bei wahrheitsgemäßer Aufklärung nicht abgeschlossen hätte (RdNr. 34).

5. V hat den Vertrag bestätigt (§ 144 Abs. 1 BGB), indem er T zur Eröffnung des Ladens ein Bild überreichte. Eine Anfechtung ist damit ausgeschlossen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anfechtung eines Vertrages ist ausgeschlossen, wenn der Anfechtungsberechtigte das Rechtsgeschäft bestätigt (§ 144 Abs. 1 BGB). Eine Bestätigung ist ein Verhalten, das offenbart, dass der Anfechtungsberechtigte trotz der Anfechtbarkeit an dem Rechtsgeschäft festhalten will. Sie kann konkludent erfolgen, wenn jede andere den Umständen nach mögliche Deutung des Verhaltens ausgeschlossen ist. BGH: Das Überreichen des Bildes bringe nicht zweifelsfrei einen Bestätigungswillen zum Ausdruck (RdNr. 37).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JR

JR

24.4.2020, 11:14:12

Mir keimen zwei Fragen auf: -Müssen die Voraussetzungen, die eine Aufklärungspflicht begründen, kumulativ vorliegen, d.h. 1) Nachfrage und 2) besondere Umstände/ besonderes Vertrauensverhältnis? Und inwiefern kommt es überhaupt auf die Nachfrage an, wenn sie alleine nicht ausreicht, aber die Umstände hingegen schon? Zumal man als Erklärender nicht nachfragen wird, wenn man den Anlass nicht kennt. - Meine zweite Frage bezieht sich auf die Bestätigung. Ist es nicht Voraussetzung für eine Bestätigung nach 144 I BGB, dass man die Anfechtbarkeit des Geschäfts kennt, und dann erst bestätigen kann? Habe ich dahingehend den Sachverhalt falsch verstanden und der Verkäufer wusste zum Zeitpunkt der Bestätigung von dem Anfechtungsgrund, weil die beiden Zeitpunkte hier zusammenfallen o.ä.?

SNEU

Stefan Thomas Neuhöfer

26.4.2020, 11:06:21

Hi, vielen Dank für Deine Fragen! zu 1: Grundsätzlich muss nicht aufgeklärt werden (weil jeder Verhandlungspartner für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich ist und sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst zu beschaffen hat). Ausnahmen bestehen aber in den alternativen Fallgruppen 1) bis 3): Bei besonderen Umständen/besonderem Vertrauensverhältnis (etwas wegen eine strukturellen Informationsdefizits des Käufers, zB im Gebrauchtwagenhandel) muss auch ungefragt aufgeklärt werden - hier sind die Fallgruppen 2) und 3) einzuordnen. Daneben bezieht sich Fallgruppe 1) auf die bewusste Falschinformation auf Nachfrage (die ebenso zur Anfechtbarkeit führt).

SNEU

Stefan Thomas Neuhöfer

26.4.2020, 11:07:13

zu 2: Völlig richtig. Die Bestätigung durch den Vermieter kann erst dann erfolgen, wenn er die Anfechtbarkeit kennt. In der Entscheidung war es wohl so, dass man in jedem Fall einen Bestätigungswillen ausschließen konnte (und es daher nicht auf die Kenntnis des Anfechtungsgrundes ankam). Ich hoffe, damit die Fragen beantwortet zu haben! Viele Grüße Für das Jurafuchs-Team - Stefan

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

12.12.2020, 15:49:51

Die Antwort auf die Frage 3 mit der Lösung „Stimmt nicht“ ist doch falsch. Der Mieter T muss doch aufklären; insbesondere, wenn der Vermieter V fragt. Also wäre die korrekte Antwort „Stimmt“ 🧐

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

12.12.2020, 19:04:17

Hey Fantosmaus, die Frage lautete: "T hätte V vor Vertragsschluss nur darüber aufklären müssen, dass er ausschließlich Waren der Marke „Thor Steinar“ verkaufen werde, wenn V danach gefragt hätte." Das ist falsch, da er V hier auch aufklären muss, obwohl dieser nicht nachgefragt hat. Zur Verdeutlichung haben wir die Frage aber jetzt leicht umformuliert.

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

26.12.2020, 15:30:24

Danke 😊

Isabell

Isabell

27.9.2021, 09:16:02

Über das "nur" bin ich auch gestolpert und habe es überlesen 😅

SpinatStattPrädikat

SpinatStattPrädikat

29.6.2021, 17:44:33

Wäre der Fall anders zu beurteilen, wenn es sich bei dem zu vermietenden Objekt nicht um das Hundertwasserhaus, sondern um ein "normales" Haus handeln würde?

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

29.6.2021, 17:52:27

Hm 🤔 Ich denke, dass sich hier die besonderen Umstände aus der Eigenschaft des Mieters ergeben.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.6.2021, 21:15:22

Hallo SpinatStattPrädikat, es dürfte mit Sicherheit fraglich sein, ob bei einem normalen Mietshaus die Entscheidung ähnlich ausgefallen sein. Denn um eine Aufklärungspflicht des Mieters zu bejahen, muss für diesen ja nach Treu und Glauben erkennbar sein, dass die entsprechende Tatsache (hier: die Verkaufsprodukte) für den Vertragspartner eine erhöhte Relevanz haben. Das ist letztlich eine Einzelfallentscheidung. Das vorliegende Urteil stützt sich maßgeblich darauf, dass das Hundertwasserhaus als besondere Attraktion ausgestaltet war, um Touristen und Kunden anzulocken und dass diese Zielsetzung durch den Thor Steinar Laden in Gefahr war. Dadurch wiederum hätten möglicherweise andere Ladeninhaber ihre Miete gemindert oder sogar das Mietverhältnis gekündigt. Vor diesem Hintergrund hat der BGH die Aufklärungspflicht bejaht. Bei einem "normalen" Haus wäre insofern abzuwägen, ob der Vermieter in ähnlichem Umfang Nachteile erleiden würde. Fehlt es an diesen, so dürfte eine Aufklärungspflicht nicht bestehen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Blackpanther

Blackpanther

16.3.2022, 20:48:14

Für die Behajung von besonderen Umständen, die die Aufklärungspflicht des T begründen, spricht m.E. neben dem Argument "Hundertwasserhaus" auch, dass T von der Abneugung des V ggü. Rechtsextremisten weiß. Für T ist dadurch erkennbar, dass der Verkauf der Marke für V ein Problem wäre.

PPAA

Philipp Paasch

19.9.2022, 22:22:13

Das dürfte hier auch eine Rolle spielen. Bei dem § 123 BGB muss insbesondere auf die subjektive Komponente angestellt werden. Sonst kann nicht getäuscht werden.

MUS

MusterschüLAW

1.8.2024, 09:23:28

Ist das auf alle möglichen Gruppen weiterer sich entgegenstehnder Ansichten (zB Religionen) übertragbar? Andersrum: Es sind ausschließlich Rechte Mieter im Haus und ein Linker Mieter möchte Antifa-Merch verkaufen. Da wäre die Anfechtung dann auch möglich, richtig?

medoLaw

medoLaw

2.5.2022, 09:14:52

Bzgl der Bestätigung finde ich den die Darstellung unzureichend. Wieso soll das Geschenk nicht ausreichen? Der Laden ist eingeräumt und es war für V erkennbar, was verkauft wird. Der BGH spricht von nicht zweifelsfrei, aber welche Zweifel verbleiben?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.5.2022, 18:49:36

Hallo medoLaw, vielen Dank für die Nachfrage. Im Originalfall war letztlich nicht klar, ob es sich bei dem Bild um ein "Eröffnungs-" oder ein "Abschiedsgeschenk" handeln sollte. Unmittelbar vor der Eröffnung war es bereits zu einer Unterredung der Parteien gekommen, indem es um verfassungsfeindliche Tendenzen ging. Zudem hatte der Vermieter noch am Tag der Eröffnung die Anfechtung ausgesprochen. Wir haben den Sachverhalt noch etwas angepasst, um deutlicher zu machen, dass hier gerade keine Bestätigung durch die Geschenkübergabe vorlag. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SS

Strand Spaziergang

15.5.2023, 07:01:43

Das ist cool mit der Abstimmung am Ende☺️

jeci

jeci

7.8.2024, 15:09:16

Finde ich auch, könnte es gerne öfter geben!


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