Öffentliches Recht

Verwaltungsrecht AT

Ermessen und Verhältnismäßigkeit

Ermessensfehlgebrauch (Fall 3: Ermessensmissbrauch)

Ermessensfehlgebrauch (Fall 3: Ermessensmissbrauch)

6. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Raufbold R tritt gegen Bänke in der Innenstadt der nordrhein-westfälischen Gemeinde N. Nachdem R dem Platzverweis von Polizistin P auch nach mehrfacher Aufforderung nicht nachkommt, nimmt P den R, den sie sowieso nicht mag, formell rechtmäßig Gewahrsam, „um ihm eine Lehre zu erteilen“.

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Einordnung des Falls

Ermessensfehlgebrauch (Fall 3: Ermessensmissbrauch)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Rechtsgrundlage für die Ingewahrsamnahme findet sich im jeweils einschlägigen landesrechtlichen Polizei- und Ordnungsrecht.

Ja, in der Tat!

Maßnahmen der Polizei- und Ordnungsbehörden zur Gefahrenabwehr regelt das jeweils geltende Landesrecht. Als sog. „Standardmaßnahme“ ist der Gewahrsam z.B. in § 18 NPOG, § 30 ASOG Bln, § 33 PolG, § 55 SOG M-V, Art. 17 PAG, § 35 PolG NRW geregelt. Die Ingewahrsamnahme des R in N richtet sich nach § 35 PolG NRW.
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2. Der Tatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW ist erfüllt.

Ja!

Eine Ingewahrsamnahme kommt in mehreren Situationen in Betracht. Die Tatbestandsanforderungen sind insgesamt hoch angesetzt, da die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ein erheblicher Grundrechtseingriff ist. Nach § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW kommt der Gewahrsam in Betracht, wenn dieser unerlässlich ist, um einen Platzverweis nach § 34 PolG NRW durchzusetzen. P hat R erfolglos einen Platzverweis erteilt, um die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von Rs Randale ausgeht, abzuwehren. Der Gewahrsam war unerlässlich. Der Tatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW ist erfüllt.Dies ist kein landesrechtliches Problem, die gewählte landesrechtliche Norm dient nur zur Verdeutlichung. In allen anderen Bundesländern gilt für die Parallalnormen Entsprechendes.

3. § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW sieht auf Rechtsfolgenseite eine gebundene Entscheidung der Behörde vor. P musste R in Gewahrsam nehmen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die materielle Rechtmäßigkeit einer Maßnahme setzt voraus, dass die richtige Rechtsfolge gewählt wurde. Gerade im Gefahrenabwehrrecht steht der Behörde auf Rechtsfolgenseite in der Regel ein Entschließungs- und Auswahlermessen zu. Sie kann danach entscheiden, ob sie tätig wird (Entschließungsermessen) und wie, d.h. mit welcher konkreten Maßnahme sie einschreitet (Auswahlermessen). Auch § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW sieht ein Ermessen der Polizei vor („kann“). Sie muss den Störer dementsprechend nicht in Gewahrsam nehmen, nur weil dies z.B. zur Durchsetzung eines Platzverweises unerlässlich ist. P war gesetzlich nicht verpflichtet, R in Gewahrsam zu nehmen.

4. Ps Beweggründe sind sachfremd. Sie handelte ermessensfehlerhaft. Die Ingewahrsamsnahme ist (materiell) rechtswidrig.

Ja, in der Tat!

Die Ermessensentscheidung der Polizei ist auf Ermessensfehler überprüfbar (vgl. § 114 VwGO). Ermessensfehler können in unterschiedlichen Formen auftreten. Von einem Ermessensfehlgebrauch spricht man unter anderem dann, wenn die Behörde im Rahmen ihrer Entscheidung sachfremde (willkürliche) Erwägungen vornimmt (= Ermessensmissbrauch). Die Erwägung, R „eine Lehre erteilen“ zu wollen, basiert auf einer persönlichen Abneigung der P gegen R, nicht auf objektiven Erwägungen im Rahmen einer effektiven Gefahrenabwehr. Die Ingewahrsamnahme ist damit ermessensfehlerhaft, d.h. rechtswidrig. Wie immer bei Ermessensentscheidungen kommt es nicht darauf an, dass die Entscheidung mit anderen Erwägungen rechtmäßig gewesen wäre. Ausschlaggebend ist allein, dass die Behörde ihr Ermessen konkret fehlerhaft ausgeübt hat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

1.8.2022, 15:36:56

Es reicht demnach eine sachfremde Erwägung um eine ansonsten (wahrscheinlich) verhältnismäßige Maßnahme rechtswidrig werden zu lassen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.8.2022, 11:53:52

Hallo DeliktusMaximus, sachfremde Erwägungen stellen einen

Ermessensfehler

dar. Die Maßnahme wird dadurch rechtswidrig. Genauso bei überschreiten der Ermessensgrenze - wenn z.B. statt des zulässigen Busgeldbescheids in Höhe von 25 € ein Bescheid über 30 € ergangen ist, auch wenn es "nur" um 5 € geht. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

SN

Sniter

28.8.2022, 12:07:51

Der P wird in der Lösung unterstellt, er würde sachfremde Erwägungen anstellen, wobei ich annehme, dass darauf abgestellt wird, dass der P den R nicht mag. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass der R gegen Bänke tritt, nicht ausreicht, damit kein

Ermessensfehler

vorliegt? Genügt es schon für die Annahme der Ermessensfehleinschätzung, wenn die

Behörde

*auch* sich von sachfremden Erwägungen leiten lässt?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

8.9.2022, 15:32:13

Hallo Sniter, es ist grundsätzlich

unerheblich

, ob grundsätzlich ausreichende Gründe für die entsprechende Entscheidung vorliegen könnten. Hat sich der Amtsträger bei der Entscheidung (auch) von sachfremden Gründen leiten lassen, liegt ein

Ermessensfehler

vor.

Ermessensfehlerhaft

ist was sachfremd ist. Dies unterscheidet sich je nach Gesetz, so sind z.B. im Straßen- und Wegerecht die Erwägungen andere als im Gewerberecht. Liegt ein

Ermessensfehler

vor besteht schon aus diesem Grund im Fall der Anfechtungsklage ein Anspruch auf Aufhebung und im Fall der Verpflichtungsklage ein

Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung

vor (

Bescheidungsurteil

). Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

M0NAC0

M0NAC0

3.12.2022, 11:53:40

Wäre praktisch Landesrechtliche Normen zu verlinken ✌🏻

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.12.2022, 11:57:03

Danke Johnny, wir suchen derzeit noch nach einer automatisierten Lösung hierfür, da dejure.org die Landestexte leider nicht anbietet. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Lord Denning

Lord Denning

11.9.2024, 11:23:36

Zweck der Ermessenseinräumung ist ja, das die

Behörde

die effektive Gefahrenabwehr vor Ort betreiben kann. Da die Polizistin hier ja nur, weil sie den Störer nicht mag, handelt, könnte man doch über eine zusätzliche Zweckverfehlung nachdenken?

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

13.9.2024, 16:09:59

Hallo @[Lord Denning](222886), danke für die Frage. Da es sich sowohl beim

Ermessensmissbrauch

, als auch bei der Zweckverfehlung um eine Untergruppe des „

Ermessensfehlgebrauch

s“ handelt, ist eine trennscharfe Abgrenzung hier manchmal gar nicht so leicht bzw. auch nicht nötig. Bei der Intention, dem R „eins auszuwischen“ steht für mich der Willküraspekt etwas mehr im Vordergrund, weil P ja nicht einmal „versucht“ hat, eine zweckmäßige Ermessenserwägung zu treffen. Ich denke aber auch, dass man mit Deiner Argumentation auch gut eine Zweckverfehlung annehmen kann. In der Klausur sollte man sich nicht zu lange damit aufhalten, die konkrete Ausprägung des

Ermessensfehlgebrauch

s zu finden oder die Gruppen voneinander abzugrenzen. Es reicht hier aus, mit dem Verweis auf die sachfremden Erwägungen einen

Ermessensfehlgebrauch

anzunehmen, ohne diesen näher zu konkretisieren. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team


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