Examensrelevante Rechtsprechung

Rechtsprechung Öffentliches Recht

Staatshaftungsrecht

Anspruch aus enteignendem Eingriff bei rechtmäßiger Maßnahme der Polizei

Anspruch aus enteignendem Eingriff bei rechtmäßiger Maßnahme der Polizei

13. Juli 2025

26 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bei einer rechtmäßigen polizeilichen Festnahme in NRW wehrt sich K stark. Er schubst den Polizisten P, wobei der geparkte PKW des unbeteiligten B beschädigt wird. B begehrt vom Land NRW als Dienstherrin des P Entschädigung.

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Einordnung des Falls

Anspruch aus enteignendem Eingriff bei rechtmäßiger Maßnahme der Polizei

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Kann B sein Begehren unmittelbar auf den polizeigesetzlichen Anspruch auf Entschädigung wegen Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen (§§ 19, 39 OBG NRW) stützen?

Nein!

Die Polizeigesetze der Bundesländer sehen einen Anspruch auf Entschädigung wegen Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen vor (z.B. Art. 87 Abs. 1 PAG; § 41 Abs. 1 Nr. 1 SächsPBG). In NRW, wo der Fall spielt, ist dieser Anspruch normiert in §§ 19, 39 Abs. 1 a) OBG NRW. Der Anspruch setzt voraus, dass der Geschädigte als Adressat einer Maßnahme der Gefahrenabwehr in Anspruch genommen worden ist, ohne Störer zu sein (Nichtstörer bzw. nicht verantwortliche Person, § 19 OBG NRW). B war nicht Adressat der hoheitlichen Maßnahme. Eine unmittelbare Anwendung des Anspruchs aus §§ 19, 39 Abs. 1 a) OBG NRW scheidet aus. Der hier benannte Anspruch besteht gerade bei rechtmäßigem Verhalten der Polizei. Daneben besteht immer auch ein Anspruch auf Entschädigung, wenn der Geschädigte Opfer einer rechtswidrigen Maßnahme gewesen ist (§ 39 Abs. 1 b) OBG NRW).
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2. Lassen sich die §§ 19, 39 Abs. 1 a) OBG NRW hier analog anwenden?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die analoge Anwendung setzt eine planwidrige Regelungslücke bei gleicher Interessenlage voraus. Eine planwidrige Regelungslücke liegt vor, wenn dort keine gesetzliche Regelung zu finden ist, wo eine solche gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung zu erwarten wäre. Die Interessenlage ist vergleichbar, wenn der durch die Norm geregelte Konstellation mit derjenigen im konkreten Sachverhalt vergleichbar ist. §§ 19, 39 Abs. 1 a) OBG normieren einen Entschädigungsanspruch für Nichtstörer bei rechtmäßigem Polizeiverhalten nur für Adressaten polizeilicher Maßnahmen vor. Für Unbeteiligte enthält das OBG NRW keine Anspruchsgrundlage für Entschädigung bei rechtmäßigem Eingriff. Eine Regelungslücke besteht daher. Diese müsste auch planwidrig sein. Die Sondersituation eines in Anspruch genommenen Nichtstörers und eines unbeteiligten Dritten ist zwar vielfach vergleichbar. Jedoch besteht ein grundlegender Unterschied: Auf der einen Seite zieht die Polizei eine nicht verantwortliche Person unmittelbar zur Beseitigung einer Gefahr heran, auf der anderen Seite wird jemand von polizeilichem Handeln nur reflexartig betroffen, steht aber ansonsten außerhalb der durch die Polizei wahrnehmbaren Zusammenhänge. Eine analoge Anwendung der §§ 19, 39 Abs. 1 a) OBG NRW scheidet deshalb aus.

3. Mangels gesetzlich normierter Anspruchsgrundlage kommt für B nur ein ungeschriebener staatshaftungsrechtlicher Entschädigungsanspruch in Betracht.

Ja, in der Tat!

Das Staatshaftungsrecht sieht ungeschriebene Ansprüche auf Entschädigung in Geld für Rechtsgutsbeeinträchtigungen durch den Staat vor. Sie sind auf den Ausgleich finanzieller Einbußen des Bürgers durch staatliches Handeln gerichtet. Die einzelnen Ansprüche unterscheiden sich in Bezug auf den Anspruchsgegenstand. Eine Systematisierung kann darüber erfolgen, ob Anknüpfungspunkt rechtmäßiges oder rechtswidriges Staatshandeln ist und welches Rechtsgut verletzt ist. Entschädigung bei rechtmäßigem Eingriff in eine eigentumsrechtlich geschützte Position vermittelt der Anspruch aus enteignendem Eingriff. Bei rechtswidrigem Eingriff in eine eigentumsrechtlich geschützte Position kommt der Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff in Betracht. Für rechtmäßige wie rechtswidrige Eingriffe in sonstige Rechtspositionen kommt der Aufopferungsanspruch in Betracht. Diese Ansprüche finden ihre Rechtsgrundlage im allgemeinen Aufopferungsgedanken (§§ 74, 75 EinlPreußALR). Sie sind heute gewohnheits- bzw. richterrechtlich anerkannt. Die Polizeigesetze einiger Länder enthalten, anders als das PolG NRW, ausdrückliche Regelungen für Ersatzansprüche gänzlich unbeteiligter Dritter, z.B. in Berlin und Bayern, § 59 Abs. 1 Nr. 2 ASOG Bln, Art. 87 Abs. 2 S. 1 BayPAG.

4. Als ungeschriebener staatshaftungsrechtlicher Entschädigungsanspruch für B kommt hier der Anspruch wegen enteignungsgleichem Eingriffs in Betracht.

Nein!

Der Ersatzanspruch wegen enteignungsgleichem Eingriff setzt voraus, dass durch eine rechtswidrige hoheitliche Maßnahme eine vom Schutzbereich des Art. 14 GG umfasste Rechtsposition unmittelbar beeinträchtigt wird. In der Rechtswidrigkeit wird gerade das Sonderopfer des Geschädigten gesehen, weshalb er eine Entschädigung verdient. Die polizeiliche Maßnahme ist rechtmäßig, sodass es an einem Sonderopfer im Sinne des enteignungsgleichem Eingriff fehlt.

5. Für B kommt ein Anspruch aus enteignendem Eingriff in Betracht.

Genau, so ist das!

Der Anspruch aus enteignendem Eingriff ist anwendbar, wenn der Staat rechtmäßig in eigentumsrechtlich geschützte Rechtspositionen eingreift und damit für den Betroffenen ein Sonderopfer verbunden ist. Mach Dir den Gedanken des Sonderopfers klar: Für rechtswidriges Verhalten besteht ein Entschädigungsanspruch, weil der Betroffene durch die Rechtswidrigkeit ein Sonderopfer erleidet. Demgegenüber ist rechtmäßiges Verhalten des Staates grundsätzlich entschädigungslos zu dulden. Nur wenn der Betroffene ein darüber hinausgehendes Sonderopfer erleidet, hat er Anspruch auf Entschädigung.

6. Greift die Polizei vorliegend rechtmäßig in eine Eigentumsposition (Art. 14 Abs. 1 GG) des B ein?

Ja, in der Tat!

Der Begriff des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG ist umfassend zu verstehen und übersteigt den Gehalt des zivilrechtlichen Eigentumsbegriff aus § 903 BGB. Er gewährleistet die Ausübung der persönlichen Freiheit des Einzelnen in seinen materiellen Gütern. Als normgeprägtes Grundrecht muss der Eigentumsbegriff die Regelungen der Rechtsordnung zum Gütererwerb aufgreifen (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Er umfasst daher alle dem Einzelnen als privatnützig zugeordneten vermögenswerte Rechte. Bs PKW ist von der Güterordnung B zugewiesen und dient B zur Ausübung seiner persönlichen Freiheit durch Gebrauch. Damit liegt ein Eingriff in seine Eigentumsposition vor. Der Eingriff ist laut Sachverhalt auch rechtmäßig.

7. Damit der Anspruch aus enteignendem Eingriff gegeben ist, muss der Eingriff in das Eigentum des B zweck- und zielgerichtet sein.

Nein!

Das Kriterium eines ziel- und zweckgerichteten Eingriffs schließt gerade solche Fälle aus, in denen der Geschädigte nicht aktiv Teil des Geschehens ist. Ein so verstandener enger Anwendungsbereich würde jedoch den allgemeinen Aufopferungsgedanken, der sich im Anspruch auf enteignenden Eingriff verbirgt, konterkarieren. Der enteignende Eingriff soll gerade auch bei unbeabsichtigten, atypischen Eingriffen für Ausgleich sorgen. Gerade auch unbeteiligte Geschädigte, die nur die Auswirkungen der behördlichen Maßnahme erfahren, sollen geschützt werden. Das Erfordernis eines zweck- und zielgerichteten Eingriffs als Voraussetzung des Anspruchs aus enteignendem Eingriff hat der BGH aufgegeben.

8. Damit der Anspruch aus enteignendem Eingriff gegeben ist, ist eine mittelbare Beeinträchtigung des Eigentums ausreichend.

Nein, das ist nicht der Fall!

OLG Hamm: Wenn man jede mittelbare Beeinträchtigung des Eigentums für den Anspruch aus enteignendem Eingriff ausreichen lassen würde, drohte eine Aufweichung des Anspruchs aus enteignendem Eingriff bei Maßnahmen gegenüber Unbeteiligten. Deshalb ist der bloße adäquate Ursachenzusammenhang zwischen Eingriff und Eigentumsbeeinträchtigung nicht ausreichend. Von einem enteignenden Eingriff kann nur dort gesprochen werden, wo von einer hoheitlichen Maßnahme unmittelbare - und nicht nur mittelbare - Auswirkungen auf das Eigentum des Betroffenen ausgehen. Bedauerlicherweise unterlässt das OLG Hamm es, seine Rechtsauffassung weiter zu präzisieren und handhabbare Maßstäbe bereitzustellen, wann von einer unmittelbaren und wann nur noch von einer mittelbaren Auswirkung einer hoheitlichen Maßnahme auszugehen ist. Im Klausursachverhalt würdest Du auf dieses Problem in aller Deutlichkeit gestoßen werden. Dann geht es darum, den Sachverhalt und den Vortrag der Beteiligten umfassend auszuwerten und sauber zu argumentieren.

9. Bs PKW wurde dadurch beschädigt, dass K den Polizisten P wegschubste. Ist diese Beeinträchtigung von Bs Eigentum unmittelbar erfolgt?

Ja, in der Tat!

Für die Unmittelbarkeit ist eine wertende Zurechnung nötig. Unmittelbarkeit bedeutet, dass der Eingriff in die eigentumsrechtlich geschützte Position zu schädigenden Auswirkungen geführt hat, die für die konkrete Betätigung der Hoheitsgewalt typisch sind und aus der Eigenart der Maßnahme folgen. Atypische Auswirkungen sind demgegenüber nur mittelbar. Die vorläufige Festnahme gemäß § 127 Abs. 1 StPO ist eine Maßnahme, zu deren Vollzug die Polizei oft unmittelbaren Zwang gebraucht (§§ 6 Abs. 1 S. 1, 9 Abs. 1 lit. c VwVG; entsprechende Normen für die Landesbehörden existieren in allen Bundesländern). Die häufige Durchsetzung mit unmittelbarem Zwang zeigt, dass die Maßnahme ein erhöhtes Potenzial hat zu einer körperlichen Auseinandersetzung zu führen. Infolge einer solchen Auseinandersetzung und ihrem Eskalationspotential erscheint es nicht atypisch, dass das Eigentum Dritter beschädigt wird. Das OLG Hamm ist hier anderer Ansicht. Es nimmt an, dass die Schädigung vom Eigentum Dritter keine typische Folge einer Festnahme ist und sich mit der Beschädigung durch das Stoßen des Polizisten an Bs PKW lediglich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht. Mit guter Argumentation kannst Du hier alles vertreten.

10. B könnte hier erfolgreich vor Zivilgerichten Schadensersatz von K für die Beschädigung des PKW erlangen. Schließt dies Bs Anspruch aus enteignendem Eingriff aus?

Ja!

Weitere - zentrale - Voraussetzung für den Anspruch aus enteigenendem Eingriff ist, dass B ein Sonderopfer erbringt. Ein Sonderopfer ist gegeben, wenn der Geschädigte im Vergleich zu allen anderen eine so herausgehobene Belastung erleidet, dass er sich gewissermaßen für das gemeine Wohl aufopfert. Dieses Sonderopfer rechtfertigt die Entschädigung. Voraussetzung für das Sonderopfer ist aber, dass der Geschädigte die Belastung ohne den Entschädigungsanspruch entschädigungslos hinnehmen müsste. Ein Anspruch aus enteignendem Eingriff kommt daher nicht in Betracht, soweit der Geschädigte bei anderen als dem Staat erfolgreich Regress nehmen kann. B kann hier zivilrechtlich bei K Regress nehmen. Dadurch muss er die erlittene Belastung nicht entschädigungslos hinnehmen. Die Belastung wird durch den Schadensersatzanspruch gegen K kompensiert. In der Ausgangsentscheidung kam das OLG gar nicht zu diesem Prüfungspunkt.
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