Zivilrecht
BGB Allgemeiner Teil
Abgabe und Zugang von Willenserklärungen
Übergabe-Einschreiben/ Benachrichtigungskarte – Wirksamkeit empfangsbedürftiger Willenserklärung
Übergabe-Einschreiben/ Benachrichtigungskarte – Wirksamkeit empfangsbedürftiger Willenserklärung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M möchte seine Mietwohnung kündigen. Die Kündigung muss V spätestens am 15.11. zugehen. M warnt V vor und gibt sie als Einschreiben am 9.11. auf. Postbote P trifft V am 12.11. nicht an. Er hinterlässt V die Benachrichtigung, V könne das Einschreiben ab 13.11. abholen. V, der um die Frist weiß, holt es bewusst erst am 16.11. ab.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Übergabe-Einschreiben/ Benachrichtigungskarte – Wirksamkeit empfangsbedürftiger Willenserklärung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Kündigung an V ist wirksam geworden, als P ihm am 12.11. die Benachrichtigungskarte in den Briefkasten geworfen hat.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Kündigung an V ist wirksam geworden, als unter normalen Umständen, d.h. am 13.11., mit der Abholung des Einschreibens zu rechnen war.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Zugang einer Willenserklärung erfolgt im Fall der hinterlassenen Abholkarte erst im Zeitpunkt der Abholung des Einschreibens.
Ja, in der Tat!
4. V muss sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) so behandeln lassen, als sei die Kündigung am 13.11. zugegangen.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
Fundstellen
Jurafuchs kostenlos testen
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Ultima_ratio
22.11.2019, 21:29:32
Ist die Abholstation nicht automatisch der Machtbereich des V? Denn schließlich hat er ja die Möglichkeit das Einschreiben zu üblichen Zeiten zu holen, wie bei einem Briefkasten.
Marilena
30.11.2019, 19:05:58
Hallo Ultima_ratio, Danke für die Nachfrage! Der Machtbereich wird auch mit tatsächlicher Verfügungsgewalt bzw. räumlicher Herrschaftssphäre gleichgesetzt. Es kommt darauf an, dass es nur noch am Empfänger liegt, von der Erklärung Kenntnis zu nehmen (d.h. es liegt eine prinzipiell unbeschränkte Zugriffsmöglichkeit des Empfängers vor). Dies ist zu verneinen, wenn das Einschreiben in der Postfiliale liegt. Räumlich abgegrenzt ist das nicht mehr die Herrschaftssphäre des Empfängers, außerdem ist dieser an die Öffnungszeiten gebunden und daran, dass der Postmitarbeiter ihm das Einschreiben dann auch aushändigt. Was den Briefkasten anbelangt: Dieser zählt zu den sog. Empfangsvorrichtungen, die der Empfänger speziell für die Empfangnahme von Willenserklärungen bereitgestellt hat.
Marilena
30.11.2019, 19:12:59
Die Empfangsvorrichtungen fallen in den Machtbereich des Empfängers, vorausgesetzt deren Bereitstellung ist durch einen nach außen wahrnehmbaren, zumindest konkludenten Widmungsakt erfolgt, wodurch der Empfänger die Verantwortung für diesen Bereich übernommen hat. Dazu zählen neben dem Briefkasten zB auch ein Postfach bei der Postfiliale sowie ein Anrufbeantworter, Telefaxgerät und E-Mailbox. Hier wird aber kein persönliches Postfach bei der Filiale unterhalten, für das M die Verantwortung trägt. Gut erklärt wird das Ganze auch von Gomille im BeckOnline Großkommentar, 1.9.2019, § 130 RdNr. 49ff.
Isabell
29.10.2020, 20:33:30
Gut zu wissen. Ich fand die Überlegungen eine Paketstation wie einen erweiterten Briefkasten zu behandeln nachvollziehbar. Dass es darauf ankommt, dass nach Außen hin erkennbar ein Widmungsakt stattgefunden haben muss, war mir nicht klar. Ist aber logisch.
Isabell
29.10.2020, 20:36:48
Könnte man hier annehmen, dass die Paketstation dem Machtbereich von DHL zugerechnet werden kann? Die sind ja in den Markenfarben gehalten und - wenn ich das richtig im Kopf habe - können auch nur DHL-Zusteller und der registrierte Kunde darauf zugreifen. Das ist für ein ein nach außen erkennbarer Widmungsakt.
Arturio
18.4.2022, 09:41:21
Die Antwort von Marilena beantwortet eigentlich nicht die gestellte Frage von ultima_ratio, sondern redet von irgendwas Anderem. Eine mit Code zugängliche Abholstation wäre eigentlich einem Briefkasten gleichzusetzen, sobald eine feste Uhrzeit bestimmt ist, und entsprechend im Machtbereich des Empfängers, da dieser dann die Möglichkeit hätte, 24/7 den Brief abzuholen (ab einer bestimmten Uhrzeit, z.B. 17.00 Uhr am selben Tag).
Marilena
18.4.2022, 11:00:12
Hallo arturbuu, vielen Dank für Deinen Kommentar! Meine Antwort bezog sich tatsächlich auf Abholstation im Sinne einer Postfiliale oder einer kleinen „DHL-Station“ zB in einem Kiosk. Ich bezog mich nicht auf die sog. DHL-Packstationen, an die hatte ich in dem Moment nicht gedacht. Insofern danke für Deine Klarstellung!
Arturio
18.4.2022, 13:19:35
Am Ostermontag das Forum moderieren? Ist ja der Wahnsinn :D
deliaco
10.1.2024, 22:38:59
wie meinst du das genau mit "feste Uhrzeit bestimmt"? Wäre lieb, wenn du (oder auch gerne jemand anders) das genauer erläutern könntest, da ich gerade etwas verwirrt bin :)
deliaco
10.1.2024, 22:41:17
wie meinst du das genau mit "feste Uhrzeit bestimmt"? Wäre lieb, wenn du (oder auch gerne jemand anders) das genauer erläutern könntest, da ich gerade etwas verwirrt bin :) Also meinst du das im Sinne von Bereitstellung des Paketes ab einer festen Uhrzeit, die mit der Zustellungszeit des Briefträgers einer üblichen Postsendung gleichgesetzt werden kann?
Ugurince._
23.11.2019, 08:54:13
Nein, weil der Machtbereich des V nur sein persönlicher Briefkasten ist.
Marilena
30.11.2019, 19:16:41
Hallo Ugur Ince, vielen Dank für Deine Antwort! Ganz richtig, ergänzend möchte ich noch hinzufügen, dass der Machtbereich unter Umständen auch einen Anrufbeantworter, eine E-Mailbox, ein Telefaxgerät und ein bei einer Postfiliale unterhaltenes Postfach umfassen kann.
Ugurince._
28.3.2020, 09:35:03
Hey Marilena, das stimmt. Vielen Dank für deine Ergänzung. So macht das Lernen doch Spaß 😇.
Eriiic1994
7.1.2020, 11:40:01
Wie würde es sich in diesem Fall auswirken, wenn M den V nicht vorgewarnt hätte und V folglich nicht mit einer rechtserheblichen Erklärung hätte rechnen müssen?
Eigentum verpflichtet 🏔️
26.8.2020, 15:20:58
Hallo Eric, danke für die Frage. Dann würde die Erklärung erst mit Abholung am 16.11. in den Machtbereich des V gelangen und würde erst zum nächstzulässigen Termin wirksam.
Tr(u)mpeltier
24.1.2020, 20:53:50
Liebes Jurafuchs Team, zunächst ein großes Lob für eure wirklich super Arbeit, die vielen, gut verständlichen Erläuterungen und gut getroffenen Skizzen! Den hier besprochenen Fall halte ich aber leider aus mehreren Gründen für überarbeitungsbedürftig: 1. Nach meinem Verständnis hat sich der BGH selbst von einer Übertragung der Rechtsprechung in dem von euch als Grundlage gewählten Fall distanziert und explizit geurteilt, dass dieser Fall sich nicht auf Einschreiben übertragen ließe (siehe hierzu BGH, Urteil v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97 zu finden u.a. Unter https://rabüro.de/bgh-zur-frage-ob-nicht-abgeholtes-einschreibenrueckschein-als-zugegangen-gilt/).
Eigentum verpflichtet 🏔️
27.8.2020, 20:07:13
Hallo Trumpeltier, vielen Dank für deinen Kommentar. Nach intensivem Studium der beiden Urteile und der einschlägigen Literatur, gebe ich dir Recht: Wir hatten den Fall nach der h.L. (vgl. MükoBGB/Einsele, 8. Aufl., § 130 Rn. 34ff) und der alten BGH Rspr (BGHZ 67, 271) gelöst. Das wäre natürlich in Ordnung, wenn man erwähnen würde, dass der BGH es dann mit der von dir zitierten Entscheidung (BGHZ 137, 205) anders macht. Jedoch lösen wir bei Jurafuchs die Fälle meist nach der Ansicht des BGH, weswegen wir den Fall dahingehend verändert haben, dass jetzt von einer arglistigen
Zugangsvereitelungauszugehen ist. So macht der Fall weiterhin didaktisch Sinn und er lässt sich jetzt gleich nach BGH und h.L. lösen, was wir auch in der Antwort auf die letzte Frage ausgeführt haben.
Eigentum verpflichtet 🏔️
27.8.2020, 20:07:46
Vielen Dank nochmal und schreibe uns gerne, wenn dir noch etwas auffallen sollte!
Tr(u)mpeltier
24.1.2020, 21:01:13
2. Insgesamt würde ich mir wünschen, dass das Regel-Ausnahme Verhältnis ein wenig klarer herauskommt (das mag aber auch Geschmackssache sein bzw die vorherigen Antworten habe ich nicht mehr so genau im Kopf). Klar festgehalten werden sollte aber zunächst : a) Grundsatz: ein Einschreiben, dass auf der Post liegt ist NICHT zu dem Zeitpunkt zugegangen, in dem das Mitteilungsschreiben eingeworfen wurde b) Ausnahme: auch bei arglistiger
Zugangsvereitelungerfolgt ein Zugang erst in dem Moment, in dem die Erklärung dem Empfänger tatsächlich zugegangen ist. Nach den Grundsätzen des §242 kann indes FINGIERT werden, dass die Erklärung bereits zu dem Zeitpunkt zugegangen ist, in dem der ursprüngliche Zustellversuch unternommen wurde.
Tr(u)mpeltier
24.1.2020, 21:18:27
Kleine Korrektur: in den Fällen der arglistigen
zugangsvereitelungbzw bei grundloser Verweigerung ist eine erneute Zustellung natürlich nicht erforderlich. Diese Schwelle dürfte indes bei lediglich verspäteter Abholung noch nicht erreicht sein.
Eigentum verpflichtet 🏔️
27.8.2020, 20:10:13
Hallo Trumpeltier, vielen Dank für den Kommentar. Nach unserem aktuellen Fall sollte das Regel/Ausnahmeverhältnis meiner Ansicht nach gut zu verstehen sein. Kannst du vielleicht nochmal drüber schauen, ob du damit jetzt zufrieden bist? Danke :)
Tr(u)mpeltier
24.1.2020, 21:07:36
3. Betonen könnte man in diesem Zusammenhang insbesondere, dass die Fiktionswirkung sich nur auf den Zeitpunkt bezieht, d.h. wenn der Empfänger das Schreiben gar nicht abholt und es ihn nie erreicht, muss der erklärende eine neue Erklärung abgeben und erst wenn diese den Empfänger erreicht, kann die Fiktionswirkung eintreten.
Eigentum verpflichtet 🏔️
27.8.2020, 20:13:51
Hallo Trumpeltier, vielen Dank für den Kommentar! Du hast recht, wir haben den Fall abgeändert, sodass eine
arglistige Zugangsvereitelungvorliegt, bei der kein erneuter Zustellungsversuch erforderlich ist. Danke!
TomBombadil
28.12.2023, 10:38:34
In einem Erklärungstext wird darauf abgestellt, dass der Empfänger ungenügende Vorkehrungen für den Empfang der Nachricht getroffen hat und deshalb die Zugangsfiktion greift. M. M. n. ist die Aussage in dieser Pauschalität falsch: Es kommt nicht auf die ungenügenden Vorkehrungen an (diese sprächen sogar eher für eine fahrlässige
Zugangsvereitelung), sondern darauf, dass der Empfänger den Zugang absichtlich vereitelt hat. Ich bitte entsprechend um Korrektur.
QuiGonTim
23.2.2024, 16:48:54
Genau, könntet ihr vielleicht noch eine weitere Wiederholungsaufgabe zur Unterscheidung von fahrlässiger und vorsätzlicher
Zugangsvereitelungsowie zu deren Rechtsfolgen, erstellen, liebes Jurafuchs-Team?
Jan
23.1.2024, 15:23:01
Lief heute in ZR II in NRW :)
nullumcrimen
15.5.2024, 18:23:43
Diese Definition entspricht jetzt jedoch der h.L oder? Der Aspekt des Vorsatzes scheint mir hier zu fehlen ( Rechtssprechung).
Maximilian Puschmann
16.5.2024, 14:29:16
Hallo nullumcrimen, Die BGH Definition für den Zugang einer Willenserklärung ist: Zugegangen ist die Erklärung dann, wenn sie dergestalt in den Machtbereich bzw. die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist, dass es nur noch an ihm liegt, von ihr Kenntnis zu nehmen und mit seiner Kenntnisnahme unter normalen Umständen gerechnet werden kann (BGH NJW 2019, 2469 (2470); NJW-RR 2011, 1184 (1185); NJW 1983, 929 (930); BGHZ 67, 271 (275) = NJW 1977, 194; BAG NJW 1993, 1093; Wertenbruch JuS 2020, 481 (484). Könntest du deine Frage nochmal konkretisieren, an welcher Stelle dir der Vorsatz zu etwas fehlt, da ich das nicht einsortieren kann. Denkst du gegebenenfalls an das Problem der "Abhandengekommenen Willenserklärung"? Wenn ja: Bei diesem Problem geht es nicht um den Willen des Empfängers, sondern um den Willen des Absenders. Dieser wollte nicht die Willenserklärung abgeben, weswegen es an dem Willen der Abgabe mangelt. Hier verneint die Rspr. eine Abgabe, wobei die herrschende Literatur eine Parallele sieht zu den Fällen des fehlenden Erklärungsbewusstseins (siehe „Trier-
Weinversteigerung“) und will deswegen von einer wirksamen Abgabe ausgehen, aber dass die Willenserkärung anfechtbar ist gemäß § 119 I Hs.1 Var. 2 BGB. Dieses Problem ist aber in der wirksamen ABGABE einer Willenserklärung angesiedelt, nicht im wirksamen ZUGANG. Beste Grüße Max - Für das Jurafuchs-Team
nullumcrimen
17.5.2024, 12:53:36
Hi Max, ich meinte das bezogen auf die Frage, ob der Empfänger das Einschreiben abholen muss. In der vorheringen Aufgabe stand, dass die h.L generell keine Pflicht dazu annimmt, ausser wenn der Empfänger damit rechnet, dass ihm zB wie hier eine Kündigung zugehen sollte. Laut RS wurde zusätzlich verlangt, dass der Empfänger sie aus arglistigen ( also vorsätzlich ) nicht abholt, was in dieser Aufgabe aber nicht angesprochen wird.
nullumcrimen
17.5.2024, 13:46:17
Hat sich geklärt! Habe es nochmal im Lehrbuch nachgelesen und jetzt verstanden :) Danke trotzdem