+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K hat bei der Deutschen Bank AG ein Wertpapierdepot. K bittet B per E-Mail um den sofortigen Verkauf von 100 Wirecard Aktien. Zwei Tage später sinkt der Kurs um 50%. Als K erfährt, dass B untätig geblieben ist, fällt sie aus allen Wolken. B äußert, sich nicht verantwortlich zu fühlen, da ein Schweigen keine verbindliche Erklärung sei.

Einordnung des Falls

Schweigen im Handelsverkehr, § 362 Abs. 1 HGB (Anfechtung)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die E-Mail von K stellt ein Vertragsangebot gerichtet auf die Erteilung des Auftrags zum Verkauf von 100 Wirecard Aktien dar (§ 145 BGB).

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Ja, in der Tat!

Ein Angebot ist eine Willenserklärung, durch die der Vertragsschluss einem anderen so angetragen wird, dass nur von dessen Einverständnis das Zustandekommen des Vertrages abhängt. Der objektive Tatbestand liegt in einem Verhalten, das aus Sicht Dritter auf Vorliegen von Handlungs-, Rechtsbindungs- und Geschäftswillen schließen lässt. K gibt in ihrer E-Mail nach dem objektiven Empfängerhorizont zu erkennen (§§ 133, 157 BGB), der Deutschen Bank AG einen Auftrag erteilen zu wollen. Dieser beinhaltet es, 100 Wirecard-Aktien im Rahmen des dem Wertpapierdepot zugrundeliegenden Vertragsverhältnisses für sie zu verkaufen. Das Angebot ist damit auch hinreichend bestimmt, es enthält alle essentialia negotii.

2. Das Schweigen der Deutschen Bank AG gilt als Annahme des Auftrags, 100 Wirecard-Aktien zu verkaufen (§ 362 Abs. 1 HGB).

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Ja!

§ 362 Abs. 1 HGB normiert eine Ausnahme vom Grundsatz, dass Schweigen keinen Erklärungswert hat. Voraussetzung ist, dass (1) der Angebotsempfänger Kaufmann ist, (2) sein Betrieb Geschäftsbesorgungen mit sich bringt und zum Anbietenden eine Geschäftsverbindung besteht (S. 1), oder der Kaufmann sich zu einer Geschäftsbesorgung erboten hat (S. 2), (3) ihm ein solches Angebot zugeht und er dieses (4) nicht unverzüglich beantwortet. Die Deutsche Bank AG ist Form-Kaufmann (§ 3 Abs. 1 AktG) und hat typischerweise rechtsgeschäftliche Wirtschaftstätigkeiten im Kundeninteresse zum Gegenstand. Das bestehende Wertpapierdepot begründet eine auf Dauer angelegte Beziehung. Auf den zugegangenen Antrag der K, Wirecard Aktien zu verkaufen, hat sie nicht reagiert.

3. Ks Anspruch auf Verkauf der Wirecard Aktien durch die Bank könnte dadurch erloschen sein, dass diese ihr Schweigen (§ 362 Abs. 1 HGB) angefochten hat (§§ 119ff. BGB).

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Genau, so ist das!

Das Schweigen eines Kaufmanns ist keine Willenserklärung, gilt jedoch als eine solche. Daher kann es zumindest analog §§ 119 ff. BGB angefochten werden. Argument: Kann der Antragsempfänger eine zum Vertragsschluss führende Erklärung anfechten, muss dies auch für ein zum Vertragsschluss führendes Schweigen gelten. Voraussetzung für die Anfechtung sind (1) Anfechtungsgrund (§§ 119, 120, 123 BGB) und (2) eine Anfechtungserklärung (§ 143 BGB) (3) innerhalb der Anfechtungsfrist (§§ 121, 124 BGB). Die Anfechtung darf (4) nicht ausgeschlossen sein (§ 144 BGB).

4. Der Irrtum über die Bedeutung des Schweigens (§ 362 Abs. 1 HGB) stellt einen zur Anfechtung berechtigenden Inhaltsirrtum dar (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB) (=Anfechtungsgrund).

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Nein, das trifft nicht zu!

Der Zweck des § 362 Abs. 1 HGB liegt darin, dass das Schweigen auf einen Antrag auch als Annahme gewertet wird, wenn dem Angebotsempfänger der Annahmewillen fehlt (Vertrauensschutz). Würde die Unkenntnis dieser Wertung des kaufmännischen Verhaltens zur Anfechtung berechtigen, würde der Schutzzweck des § 362 Abs. 1 HGB unterlaufen. Der Irrtum über die Bedeutung des Schweigens im Sinne des § 362 Abs. 1 HGB stellt einen unbeachtlichen Rechtsfolgenirrtum dar. Der Schweigende ist nur zur Anfechtung berechtigt, wenn er über den Inhalt des Antrags irrt (§ 119 Abs. 1 BGB) oder das Schweigen auf einer arglistigen Täuschung oder Drohung beruht (§ 123 BGB). B irrt nur über die Bedeutung ihres Schweigens (§ 362 Abs. 1 S. 1 HGB) (= unbeachtlicher Rechtsfolgenirrtum).

5. K kann von B verlangen, dass diese für sie 100 Wirecard Aktien aus ihrem Depot verkauft.

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Ja!

§ 362 Abs. 1 HGB normiert eine Ausnahme vom Grundsatz, dass Schweigen keinen Erklärungswert hat. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, gilt das Angebot als angenommen und der Geschäftsbesorgungsvertrag kommt mit dem Inhalt des Antrags zustande. Der Kaufmann ist zur Ausführung der Geschäftsbesorgung verpflichtet und hat bei zu vertretender Pflichtverletzung Schadensersatz (§§ 280ff. BGB) zu leisten. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Das Schweigen der B gilt als Annahme (§ 362 Abs. 1 S. 1 HGB) und wurde nicht wirksam angefochten. Sie ist daher zur Durchführung des Wertpapierverkaufs für K verpflichtet. K kann auch den durch die Untätigkeit entstandenen Verlust in Höhe von 50% nach §§ 280ff. BGB ersetzt verlangen.

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