Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Täterschaft und Teilnahme
Mittäterschaft durch bloße Tatortanwesenheit?
Mittäterschaft durch bloße Tatortanwesenheit?
18. April 2025
20 Kommentare
4,8 ★ (28.962 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M1 und M2 werden per Haftbefehl gesucht. Sie vereinbaren, sich notfalls den Weg freizuschießen, auch wenn dabei Polizisten sterben. Als sie in eine Kontrolle geraten, erschießt M1 vorsätzlich den Polizisten O. M2 hebt nach dem ersten, noch nicht tödlichen Schuss, die Arme und lässt sich auf den Boden sinken.
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Einordnung des Falls
Mittäterschaft durch bloße Tatortanwesenheit?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. M1 hat sich wegen Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er den O erschoss.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. M2 hat sich wegen Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) in unmittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Var. 1 StGB) strafbar gemacht.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Auf Grundlage der Tatherrschaftslehre hat M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB).
Nein, das trifft nicht zu!
4. Auf Grundlage der gemäßigt subjektiven Theorie hat der BGH tatsächlich entschieden, dass M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht hat (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB).
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
nataliaco
15.1.2023, 13:56:27
Liegt bei M2 auch keine funktionale Tatherrschaft durch seine Beteiligung an dem Tatplan, notfalls Polizisten zu erschießen, vor? Kommt nach der materiell-objektiven Theorie somit für M2 nur noch eine Strafbarkeit wegen Teilnahme in Frage?

Lukas_Mengestu
24.3.2023, 09:43:07
Hallo nataliaco, in der Tat lässt die weite
Tatherrschaftslehreauch Tatbeiträge im Vorbereitungsstadium für die Mittäterschaft genügen, soweit das Minus bei der eigentlichen Tatausführung durch ein deutliches Plus bei der Tatplanung/-vorbereitung hinreichend ausgeglichen wird. Dafür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte, weswegen unserer Auffassung in der Tat auch bloß eine Bestrafung als Gehilfe vertretbar erscheint. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Rechtsausleger
24.3.2023, 07:39:02
Welche Bedeutung der subjektive Tatbestand bei der Mittäterschaft im Vergleich zum gemeinsamen Tatplan? Angenommen M2 hätte noch nicht unmittelbar angesetzt und seinen ("individuellen")
Vorsatzaufgegeben. Für eine eventuell mögliche Aufkündung des Tatplans müsste es mit der h.L. zumindest zur Kenntnis des M1 gelangt sein (vor Versuchsbeginn). Bleibt überhaupt Raum für den
Vorsatzdes M2 in Bezug auf die objektiven
Tatumstände?

Lukas_Mengestu
24.3.2023, 09:57:13
Hi Lenny, Mittäter kann nur sein, wer auch Alleintäter sein könnte. Der Mittäter muss auch alle subjektiven Merkmale selbst erfüllen. In der Tat prüfst Du den Täterwillen nach der subjektiven Theorie aber bereits bei der Frage, inwieweit eine Zurechnung der Tatbeiträge des Haupttäters (M1) erfolgen kann, also im objektiven Tatbestand. Im subjektiven Tatbestand ist (neben subjektiven Tätermerkmalen (zB
Habgierbeim Mord) und Absichten (zB
Zueignungsabsichtbeim Raub)) primär zu prüfen, dass die Mittäter den Umstand der Verabredung kennen iSd § 16 Abs. 1 S. 1 (vgl. MüKoStGB/Joecks/Scheinfeld, 4. Aufl. 2020, StGB § 25 Rn. 237) Wie ist es nun, wenn der Mittäter bereits im Vorbereitungsstadium seinen
Vorsatzaufgibt. Hier muss man nach der
Tatherrschaftslehredifferenzieren: Sofern der "Mittäter" keinen eigenen Beitrag im Ausführungsstadium leistet, kommt an sich im Grundsatz mangels Tatherrschaft schon keine Mittäterschaft in Frage. Liegt der Sonderfall vor, dass ein besonders gewichtiger Beitrag im Vorbereitungsstadium auch bei der Ausführung fortwirkt, wird von der weiten
Tatherrschaftslehrenoch Tatherrschaft angenommen. Es genügt in diesem Fall nicht, dass der Mittäter seinen
Vorsatzaufgibt. Vielmehr muss er die
Vollendungverhindern bzw. sich darum ernsthaft bemühen (vgl. § 24 Abs. 2 StGB). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Rechtsausleger
24.3.2023, 17:43:26
Hallo Lukas, danke für deine Antwort. Ich verstehe deine Antwort so: Es werden nach ganz hM nur objektive
Tatumstände(mit Ausnahme gewisser täterbezogener Eigenschaften) zugerechnet. Der
Vorsatzhinsichtlich des Tatgeschehens des Mittäters erschöpft sich im subjektiven Kern des gemeinsamen Tatplans. Für den individuellen subjektiven Tatbestand des einzelnen Mittäters sind lediglich besondere subjektive Merkmale sowie der
Vorsatzhinsichtlich des Einigungsaktes bezüglich des gemeinsamen Tatplans relevant. Daraus müsste doch aber auch folgen, dass es bei Annahme der Zurechnungsvoraussetzung irrelevant ist, ob der (vorherige) Tatplan beim unmittelbaren Ansetzen vom
Vorsatzdes Mittäters umfasst ist. Im Ausführungsstadium greift 24 II StGB, wie du bereits gesagt hast. Es ist aber doch auch denkbar, dass der Mittäter beim unmittelbaren Ansetzen des Tatnächsten bereits seine speziellen subjektiven Merkmale aufgegeben hat. Auf welchen Zeitpunkt ist in einem solchen Fall abzustellen? Den der Einigung bezüglich des gemeinsamen Tatplans oder des unmittelbaren Ansetzens? Warum sollten besondere subjektive Merkmale anders behandelt werden als der
Vorsatzbezüglich der objektiven gemeinschaftlichen Tatbegehung?
Vincent
6.7.2023, 10:20:50
Hallo, was mir noch nicht ganz klar ist: mal wird mit den Theorien der
Tatherrschaftslehreargumentiert, mal mit der materiell objektiven, mal mit den Subjektiven. Welche der Theorien ist denn jetzt vorzugswürdig ?

Nora Mommsen
7.7.2023, 10:52:47
Hallo Vincent, früher ging die Rechtsprechung von einer rein subjektiven Theorie aus. Heute nähert sie sich immer mehr inhaltlich an, und richtet die subjektiven Kriterien vermehrt auch an objektiven Maßstäben aus. Die herrschende Lehre vertritt die
Tatherrschaftslehre. Ein wirkliches richtig und falsch gibt es da weniger. Wichtig ist alle Ansätze sicher zu beherrschen und im Fall zu subsumieren. Kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen, muss man sich natürlich entscheiden. Mit guten Argumenten ist da vieles vertretbar, manche folgen einfach dem BGH, dies mag oft auch der klausurtaktischen Lösung entsprechen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Diaa
3.9.2023, 19:51:35
Im Sachverhalt steht nicht, dass der O tot ist. Es hieß "M2 hat sich nach dem ersten, aber NOCH NICHT TÖDLICHEM Schuss ergeben"..
Diaa
3.9.2023, 20:00:05
NM, hatte das Wort "erschießt" überlesen

Wesensgleiches Minus
20.9.2024, 19:13:49
Könnte M2 hier nicht zurückgetreten sein?

Wesensgleiches Minus
20.9.2024, 19:37:03
ah, eine Mittäterschaft liegt nur nach der subjektiven Theorie des BGH vor. Für einen
Rücktritthätte M2 die Tat verhindern müssen oder?

Falsus Prokuristor
21.9.2024, 14:25:25
Alternativ genügt jedoch zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die
Vollendungder Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird, § 24 II 2 StGB.
Leo Lee
28.9.2024, 11:00:46
Hallo Ala, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Wie Falsus Prokuristor bereits angemerkt hat, würde sich, wenn man sich dem BGH anschließen würde, der
Rücktrittnach 24 II 2 richten, da dann die Mittäterschaft gegeben wäre. Hier richten sich dann die Anforderungen wie bei 24 I 2, da 24 II im Grunde die gleichen Voraussetzungen insofern nur "modifiziert". D.h. wenn du im Zusammenhang lernst, lassen sich die Grundsätze übertragen! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 5. Auflage, Hoffmann-Holland § 24 Rn. 167 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Antonia
14.12.2024, 02:01:05
Muss der Tatbeitrag des Mittäters für den Erfolg kausal werden, damit ein „wesentlicher Tatbeitrag“ angenommen werden kann?
Leo Lee
15.12.2024, 12:34:05
Hallo Antonia, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In der Tat werden die "Basics" bei der Mittäterschaft etwas unter den Teppich gekehrt, indem man diese oft unter "Tatbeitrag" zusammenfasst und eher feststellt (da bei der Mittäterschaft der Fokus zumeist weiter unten liegt, v.a. bei der mittäterschaftlichen Zurechnung bzw. beim Tatplan). Aber auch bei der MIttäterschaft gilt, dass die Grundsätze eingehalten werden müssen, wozu selbstverständlich auch die Kausalität zählt. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 5. Auflage, Scheinfeld § 25 Rn. 201 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Juriano
12.3.2025, 17:49:52
Da muss man allerdings vorsichtig sein, dass so pauschal zu sagen. Jedenfalls wenn man mit der Rechtsprechung annimmt, dass uU auch reine Vorbereitungshandlungen zur Annahme einer Mittäterschaft führen können ist eine Kausalität des eigenen "Tatbeitrags" des Mittäters für die eigentliche Tat (also von Versuchsbeginn bis Beendigung) ja gerade nicht gegeben. Dem nur im Vorbereitungsstadium tätigen Mittäter werden also alle objektiven Tatbeiträge des anderen zugerechnet. Diese wiederum müssen natürlich dann kausal sein für den
Taterfolg.