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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

O ist am Strand. Da er baden möchte, bittet er M2 auf seinen Rucksack samt Geldbörse aufzupassen. M2 willigt ein. Später macht sich M1 an dem Rucksack zu schaffen. M2 will sie erst aufhalten, was ihm auch gelungen wäre. Doch als sie ihn anlächelt, lässt er den Diebstahl der Geldbörse zu.

Einordnung des Falls

Mittäterschaft durch Unterlassen 2

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M2 hat sich wegen Diebstahls in Mittäterschaft (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB) durch aktives Tun strafbar gemacht, indem er die M1 nicht aufhielt.

Nein, das trifft nicht zu!

M1 ist strafbar wegen Diebstahls. Bezüglich der Strafbarkeit des M2 fragt sich, ob ihm die durch M1 verübte Wegnahme nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann. Mittäterschaft setzt (1) eine gemeinsame Tatausführung mit wesentlichen Tatbeiträgen sowie (2) einen Entschluss zur gemeinsamen, arbeitsteilig auf vergleichbarer Augenhöhe begangenen Tat voraus.Bei Tatbeginn lag kein gemeinsamer Tatplan vor. Infrage kommt daher nur eine sog. sukzessive Mittäterschaft. Da M2 aber keinen aktiven Verursachungsbeitrag (etwa durch psychische Bestärkung) erbracht hat, scheidet allein deshalb ein Diebstahl in Mittäterschaft des M2 durch aktives Tun aus.

2. Eine Strafbarkeit des M2 wegen mittäterschaftlichen Diebstahls durch Unterlassen (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 StGB) scheitert bereits an den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB.

Nein!

M2 unterließ es, die M1 an der Wegnahme der Geldbörse zu hindern, obwohl ihm dies möglich war. Weiter traf ihn aus tatsächlicher Gewährübernahme die Pflicht, die Tat der M1 zu vereiteln. Das Unterlassen war für den Diebstahlserfolg auch quasi-kausal, so dass die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB vorliegen. Fraglich ist aber, ob M2 durch sein Unterlassen Mittäter geworden ist. Es bestand ein gemeinsamer Tatentschluss dergestalt, dass M1 die Geldbörse wegnimmt und M2 sie daran nicht hindert. Strittig ist jedoch, ob und unter welchen Voraussetzungen jemand durch Unterlassen neben einem Aktivtäter als gleichwertiger Mittäter angesehen werden kann.

3. Auf Grundlage der Lehre von den Pflichtdelikten hat M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Nach der Lehre von den Pflichtdelikten ist der Unterlassende stets Täter, weil es sich bei den unechten Unterlassungsdelikten um Pflichtdelikte handele, bei denen jeder in der Handlungspflicht Stehende im Falle des Pflichtverstoßes Täter sei.Somit ist M2 nach diesem Verständnis als unterlassender Garant Täter.Diese Ansicht verallgemeinert aber zu sehr und führt zu einer nicht zu begründenden Besserstellung des Aktivbeteiligten gegenüber dem Unterlassenden, weil für Letzteren die Strafmilderung des § 27 Abs. 2 S. 2 StGB schlechthin ausgeschlossen ist. Deshalb wird die Lehre von den Pflichtdelikten überwiegend abgelehnt.

4. Auf Grundlage der Garantentheorie hat M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Die Garantentheorie unterscheidet danach, ob ein Beschützer- oder ein Überwachergarant in Rede steht. Beschützergaranten sollen täterschaftlich und Überwachergaranten als Gehilfen auftreten.Da die Garantenstellung des M2 aus tatsächlicher Gewährübernahme folgt, ihn also eine Beschützergarantie trifft, gelangt auch diese Ansicht zu einer Täterschaft des M2. Gegen diese Auffassung spricht aber, dass Konstellationen denkbar sind, in denen jemand Überwacher- und Beschützergarant zugleich ist. Außerdem findet diese Ansicht im Wortlaut keine Stütze und Überwacher- und Beschützergaranten können ohnehin nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden.

5. Auf Grundlage der Tatherrschaftslehre hat M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 StGB).

Nein!

Die h.L. hält auch bei Unterlassungsdelikten an der materiell-objektiven Theorie fest. Danach setzt Täterschaft die Tatherrschaft voraus, also das steuernde In-den-Händen-halten des Geschehens, so dass der Beteiligte die Tatbestandserfüllung fördern, hemmen oder unterbinden kann. Bei Unterlassungsdelikten kann es indes kaum auf die Möglichkeit zur Erfolgsabwendung ankommen, da dies schon Voraussetzung für die Bestrafung als Unterlassungstäter ist. Von Tatherrschaft wird daher wohl nur dann auszugehen sein, wenn der Begehungstäter den Tatort verlassen hat (z.B. nachdem er eine Giftfalle platziert hat).Da ein solcher Fall hier aber nicht vorliegt, besaß M2 keine Tatherrschaft (a.A. vertretbar).

6. Auf Grundlage der gemäßigt subjektiven Theorie der Rspr. hat M2 einen mittäterschaftsbegründenden Tatbeitrag erbracht (§§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 StGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Rspr. hält auch bei Unterlassungsdelikten an der subjektiven Theorie fest. Ausgangspunkt dieser Theorie ist die innere Einstellung des Täters. Danach ist Täter, wer die Tat als eigene will (animus auctoris). Demgegenüber ist Teilnehmer, wer die Tat als fremde fördern will (animus socii). Dabei sind die maßgeblichen Kriterien der Grad des eigenen Interesses an der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille dazu.M2 hatte kein Interesse am Gelingen der Tat und überdies keine Tatherrschaft. Folglich hat er das Geschehen bloß im Sinne eines Gehilfenwillens ablaufen lassen. Danach ist er kein Mittäter.

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JO

Jose

11.8.2021, 12:32:19

Inwiefern wird der Aktivbeteiligte von der Theorie der Pflichtdelikte gerade ggü. dem Unterlassenden privilegiert?

JO

jomolino

22.10.2021, 12:32:47

Ich meine dass das damit zusammenhängt das, wer in jedem Fall Täter ist auf keinen Fall Teilnehmer sein kann. Dadurch kann ein unterlassungstäter entgegen dem Begehungstäter nie in den “Genuss” der Strafmilderung für den Gehilfen kommen.

EVA

evanici

26.8.2023, 17:41:01

An welcher Stelle bringt man diese Theorien denn im Prüfungsaufbau? Ist das abhängig davon, ob man eher den subjektiven oder objektiven Lehren folgt? Irgendwie muss man subjektiv (eher gemeinsamer Tatentschluss) und objektiv (eher

gemeinsame Tatausführung

) ja "vermischen", wenn man die Ansichten präsentiert...

LELEE

Leo Lee

9.9.2023, 11:39:48

3016 Hallo evanici, da diese Frage letztlich nur die Abgrenzung der Täterschaft und Teilnahme i.R.d. Unterlassung betrifft, wäre dies – wie beim Tun – i.R.d. gemeinsamen Ausführungen (also in deinen Worten bei dem „obj. TB“) zu bringen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Skywalker

Skywalker

10.2.2024, 14:17:27

Ich finde um die Problematik (auch Klausurtechnisch) noch zu verdeutlichen würde es sich sehr anbieten hier im Anschluss noch die Strafbarkeit durch unterlassene Beihilfe zu prüfen. Außerdem ist noch gut zu wissen, dass die wohl h.M. einen Diebstahl durch Unterlassen grundsätzlich anerkennt und man deshalb nicht unbedingt die etwas komplizierte Konstellation der Unterlassenen Mittäterschaft prüfen muss sondern auch eine einfach Prüfung des unterlassenen Diebstahls möglich ist.

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

26.3.2024, 09:12:17

Der Tatherrschaftslehre nach könnte man hier doch eine Täterschaft bejahen, weil es eben doch in den Händen des M1 lag, die Tat zu hemmen oder zu unterbinden, was er bewusst unterließ.

FAP

Falsus Prokuristor

30.5.2024, 01:54:38

Allein die Möglichkeit der Erfolgsabwendung kann für die Begründung eines mittäterschaftlichen Tatbeitrages allerdings noch nicht ausreichen. Dafür spricht folgendes systematisches Argument: Die Möglichkeit der Erfolgsabwendung ist bereits Voraussetzung für die Unterlassensstrafbarkeit, § 13. Damit wäre der unterlassende Beteiligte, stets Mittäter und niemals Gehilfe, es bestünde nie die Möglichkeit der Strafmilderung gemäß § 27 II 2. Dies wäre eine unbillige Benachteiligung gegenüber dem aktiv handelnden Beteiligten, der ohne Tatherrschaft sehr wohl Teilnehmer ist. Das wären die gleichen Ergebnisse wie bei der Lehre von den Pflichtdelikten, welche aus dem gleichen Grund abzulehnen ist.

FAP

Falsus Prokuristor

30.5.2024, 02:00:39

Daher wird zum Beispiel vertreten, dass der Unterlassende Tatherrschaft erlangt, wenn der aktiv handelnde Täter vor Erfolgseintritt den Tatort verlässt. Man könnte argumentieren, dass er nun als einzig anwesender Beteiligter den Erfolg abwenden kann, was Tätherrschaft begründet, und dass ihn daher eine besonders schwerwiegende Pflicht zu Erfolgsabwendung trifft, so dass sein weiteres Unterlassen Täterqualität hat. 


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