Stealthing: Sexueller Übergriff trotz einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs? - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Während des Geschlechtsverkehrs zieht der Mann, heimlich und unbemerkt von er Frau, das Kondom ab.

Als T (38) und O (20) Geschlechtsverkehr haben, streift T sein Kondom heimlich ab („Stealthing"). Dann ejakuliert er in die Vagina der O. Vor dem Geschlechtsverkehr hatte O deutlich und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen Sex ohne Kondom haben wolle.

Einordnung des Falls

Sexueller Übergriff trotz einvernehmlichen Geschlechtsverkehres? Dies hat das KG Berlin nun erstmals obergerichtlich im Fall des sog. Stealthings bejaht. Ungeschützter Geschlechtsverkehr sei eine andere sexuelle Handlung als die, zu der der Sexualpartner zugestimmt hatte. Dies verstoße gegen das Recht zur sexuellen Selbstbestimmung. Der Wille, Schwangerschaften und Krankheiten zu verhindern, sei Teil der sexuellen Autonomie, gegen die sich der Partner bewusst gewendet hatte. Ob in solchen Fällen auch eine Vergewaltigung vorliegen könne, ist noch nicht geklärt, wurde aber jedenfalls für den konkreten Fall von dem erkennenden Gericht abgelehnt.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Scheidet eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB (Sexueller Übergriff) von vorneherein aus, da keine Nötigungshandlung vorliegt?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Das von § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beinhaltet die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Die Norm wurde 2016 mit dem 50. StÄG grundlegend dogmatisch umgestaltet. Nunmehr macht sich wegen sexuellen Übergriffs unter anderem strafbar, wer eine sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person an dieser vornimmt (§ 177 Abs. 1 Var. 1 StGB). Mithin bedarf es eines Nötigungselements - wie bei § 177 StGB a.F. - gerade nicht. Fraglich ist allein, ob T „gegen den erkennbaren Willen" der O handelte.

2. Ist umstritten, ob allein die vom Opfer unbemerkte Missachtung des Kondomwunsches zur Tatbestandserfüllung ausreicht, da der Geschlechtsverkehr an sich einvernehmlich erfolgte?

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Ja, in der Tat!

Nach dem Schutzzweck der Norm kann der Rechtsgutsinhaber nicht nur darüber entscheiden, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist. Gleichwohl wird vertreten, dass der Täter durch den vorgetäuschten Kondomgebrauch nur den Willen des Sexualpartners manipuliere, so dass dieser sich in Unkenntnis des „Stealthings" mit der sexuellen Handlung insgesamt einverstanden erkläre. Hiergegen wird vorgebracht, dass das Opfer ausdrücklich einen anderslautenden Willen artikuliert habe, den der Täter konterkariere. Dieser eindeutig erkennbare Gegenwille des Opfers begründe den sexuellen Übergriff.

3. Unterhält das sog. Stealthing nach Ansicht des KG Berlin jedenfalls dann § 177 Abs. 1 StGB, wenn in den Körper des Opfers ejakuliert wird?

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Ja!

Nach dem KG Berlin reicht es jedenfalls aus, dass der T die O nicht nur gegen ihren Willen in ungeschützter Form penetrierte, sondern im weiteren Verlauf darüber hinaus in ihren Körper ejakulierte. Wenn der gegen den Opferwillen ungeschützt vorgenommene Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss in der Vagina der Geschädigten vollzogen wird, weise das Verhalten des Täters im Vergleich zum konsentierten Verkehr mit Kondom eine andere rechtliche Qualität von strafbarkeitsbegründender Erheblichkeit auf, so dass dieser Geschlechtsverkehr als tatbestandsmäßige sexuelle Handlung anzusehen sei (§ 177 Abs. 1 StGB). T handelte vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft.

4. Hat T das Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) verwirklicht?

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Genau, so ist das!

Der Vollzug des Beischlafs bildet das Regelbeispiel eines besonders schweren Falles nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB ab. Da beim „Stealthing“ der Geschlechtsverkehr an sich von gegenseitigem Einvernehmen umfasst ist, könnte das Regelbeispiel kontraindiziert sein. Zu bedenken ist indes, dass T die Lage der O faktisch zur Tatbegehung genutzt und beim Erwirken ihrer Bereitschaft, sich überhaupt auf einen sexuellen Kontakt mit ihm einzulassen, auch das Vertrauen der deutlich jüngeren O in die Wahrhaftigkeit seiner Erklärungen ausgenutzt hat. Daher spricht viel für die Annahme eines besonders schweren Falles. In Tateinheit hierzu steht § 185 StGB.

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UR

urmomlinda

12.2.2021, 09:31:12

Bin einverstanden mit dem Urteil, ich verstehe aber nicht ganz worin die Beleidigung nach 185 StGB besteht

Marilena

Marilena

13.2.2021, 13:38:51

Hallo urmomlinda, danke für die gute Nachfrage! Nach lange währender Rspr. ging mit sexuellen/sexualbezogenen Handlungen sehr häufig die Verwirklichung des Beleidigungstatbestandes einher (BGHSt 7, 129, 130; 8, 357, 358). Z.B. wurden ehebrecherische Tätigkeiten als Angriff auf die Ehre des nicht beteiligten Ehegatten und somit als Beleidigung gewertet. Zwar trat die Vorschrift regelmäßig auf Konkurrenzebene gegenüber den spezielleren Sexualdelikten zurück. Bedeutung hatte die Rspr. aber, wenn die sexuelle/sexualbezogene Handlung des Täters noch nicht die Strafbarkeitsschwelle zu einem Sexualdelikt überschritten hatte. Die damit einhergehende Lückenbüßerfunktion des Beleidigungstatbestandes (wegen Verletzung der „Geschlechtsehre“) wurde allerdings schon früh im Schrifttum als unzutreffende

Marilena

Marilena

13.2.2021, 13:39:21

Gleichsetzung von Ehre und Persönlichkeitsrecht kritisiert. Seit der weitgehenden Reform des Sexualstrafrechts durch das 1. StrRG v. 25.6.1969 (BGBl. I 645) und das 4. StrRG v. 23.11.1973 (BGBl. I 1725), die zu einer deutlichen Strafbarkeitseinschränkung in diesem Bereich (unter anderem Wegfall der Strafbarkeit von Ehebruch in § 172 alte Fassung) führte, wird der Beleidigungstatbestand bei sexuellen Handlungen enger ausgelegt. Nach herrschender Meinung liegt nur dann eine Beleidigung vor, wenn der Täter durch die sexuelle Handlung als solche zum Ausdruck bringt, dass der Betroffene einen seine Ehre mindernden Mangel aufweist.

Marilena

Marilena

13.2.2021, 13:43:43

Eine Beleidigung wurde z.B. in folgenden Fällen angenommen: Abtasten minderjähriger Mädchen unter dem Vorwand, dass sie Geld gestohlen hätten (BGHSt 35, 76 (77)); sexuelle Handlungen an und vor einer Jugendlichen (BGH NJW 1986, 2442); Streicheln einer Minderjährigen an der Innenseite ihrer Oberschenkel (BGH NJW 1989, 3029); Ansinnen von Telefonsex (LG Freiburg NJW 2002, 3645 (3646)).

Marilena

Marilena

13.2.2021, 13:49:00

Wichtig ist: Sexualbezogene Handlungen können nur dann eine Beleidigung sein, wenn sie über den allgemeinen und noch unspezifischen Angriff auf die Personenwürde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht hinaus zusätzlich die Einschätzung von der Minderwertigkeit des Opfers iS eines Mangels an Ehre zum Ausdruck bringen. Dies kann ausdrücklich oder konkludent geschehen und kann sich auch aus den „besonderen Umständen“ ergeben, jedenfalls aber muss das Täterverhalten diesen objektiven Erklärungswert haben. Das KG Berlin hat in dem Verhalten des T einen geschlechtlichen Angriff gesehen, der über das gewöhnliche Erscheinungsbild eines Sexualdelikts hinausgeht und nach seinen gesamten Umständen zum Ausdruck bringt, O weise einen ihre Ehre mindernden Mangel auf.

Marilena

Marilena

13.2.2021, 13:50:00

Ich hoffe, Deine Frage lässt sich so zufriedenstellend beantworten. Liebe Grüße für das Jurafuchs-Team, Marilena


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