Öffentliches Recht

Europarecht

Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV

Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (Cassis de Dijon)

Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (Cassis de Dijon)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Rewe beantragt die Genehmigung für die Einfuhr französischen Likörs, welcher in Frankreich frei erhältlich ist. Der Antrag wird abgelehnt, weil der Likör einen Alkoholgehalt von nur 20 % hat. Nach deutschem Recht können nur Branntweine mit min. 32 % in den Verkehr gebracht werden.

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Einordnung des Falls

Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (Cassis de Dijon)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die deutsche Rechtslage, wonach französischer Likör nicht importiert werden darf, stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung dar.

Ja!

Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handeln unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, ist eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung (sog. Dassonville-Formel). Maßnahmen gleicher Wirkung sind auch produktbezogene Regelungen, die den Import einer Ware, welche in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und vertrieben wird, an bestimmte Vorgaben knüpfen. Dies gilt auch dann, wenn die Vorgaben für alle Waren unterschiedslos gelten. Die Cassis de Dijon - Entscheidung ist vorliegend an zwei Stellen - bei der Maßnahme gleicher Wirkung und bei den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen - entscheidend, weil sie für beide Prüfungsschritte relevante Aussagen trifft.
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2. Vorliegend ist eine Rechtfertigung der Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 36 AEUV möglich.

Nein, das ist nicht der Fall!

Art. 36 AEUV erlaubt eine Ausnahme von der Regel, dass der Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt werden darf. Wenn einer der geschriebenen Gründe aus Art. 36 AEUV einschlägig ist, können eigentlich verbotene Maßnahmen der Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden. Die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 36 AEUV sind vorliegend allesamt nicht einschlägig. Anzuwenden wäre zwar eine Rechtfertigung unter dem Aspekt der öffentlichen Ordnung in Betracht. Allerdings geht es hier nicht einmal um ein Verbot des Alkohols - welches allerdings auch nicht gesellschaftlicher Konsens wäre - sondern um die Höhe des Alkoholgehalts. Eine Rechtfertigung über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe kommt daher nicht in Betracht. Die geschriebenen Rechtfertigungsgründe werden vom EuGH grundsätzlich eng ausgelegt.

3. Im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit können Beschränkungen auch durch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt werden.

Ja, in der Tat!

Der EuGH hat mit der Rechtsfigur der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entwickelt, die Beschränkungen subsidiär zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen rechtfertigen können. Voraussetzung für die Rechtfertigung ist, (1) dass es sich nicht um eine (offen) diskriminierende Maßnahme handelt, (2) dass zwingende Gründe des Allgemeinwohls betroffen sind, (3) dass die Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu gewährleisten, und (4) dass die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Die Rechtsprechung des EuGH zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen ist insofern uneinheitlich, als teilweise auch (versteckt) diskriminierende Maßnahmen durch die zwingenden Erfordernisse gerechtfertigt werden.

4. Die dogmatische Einordnung der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls ist umstritten.

Ja!

Teilweise werden die zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls als immanente Schranken des Tatbestands gesehen. Die h.M. geht allerdings davon aus, dass es sich bei den zwingenden Gründen des Gemeinwohls um zusätzliche ungeschriebene Rechtfertigungsgründe handelt. An dieser Stelle sollte der herrschenden Meinung gefolgt und nur in einem Nebensatz erwähnt werden, dass es sich nicht um eine immanente Schranke des Tatbestandes handelt. Aber denk dran: der eigene Aufbau darf nicht erklärt werden.

5. Kann vorliegend die Bestimmung über den Mindestalkoholgehalt durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der EuGH hat verschiedene allgemeine Interessen als zwingende Gründe des Allgemeinwohls anerkannt (steuerliche Kontrolle, Umweltschutz, Gesundheitsschutz). Die Liste ist jedoch nicht abschließend. Vielmehr entscheidet der EuGH auf laufender Basis in seiner Entscheidungspraxis darüber, welche Interesse als zwingende Erfordernisse angesehen werden. Die Bestimmung über den Mindestalkoholgehalt verfolgt kein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel, welches als zwingendes Erfordernis über den Warenverkehr gestellt werden kann. Insbesondere kommt der Schutz der Gesundheit nicht in Betracht, da die Regelung gerade dafür sorgt, dass Alkoholika mit hohem Alkoholanteil einen Vorteil auf dem Markt haben. Der Warenverkehr wird insofern also beschränkt, ohne dass es dafür einen stichhaltigen Grund gibt. Eine Rechtfertigung ist daher nicht möglich.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Lea_6.9

Lea_6.9

6.7.2023, 14:40:40

Liebes Jurafuchs-Team, ich habe diese App schon oft gelobt und weiterempfohlen. Eine Sache fällt mir seit einiger Zeit allerdings extrem negativ auf und stört zunehmend. Und zwar sind das Fehler in Rechtschreibung und Grammatik. Wenn mal ein kleiner Fehler auftritt, ist das natürlich nicht schlimm. Hier jedoch frage ich mich mittlerweile jedes mal beim Lernen, ob die Texte überhaupt korrekturgelesen werden… Gerade im Europarecht finden sich enorm viele Fehler, die teilweise sogar das Verständnis beeinträchtigen, in jedem Fall aber nervtötend sind. Wenn in einem Text viele solcher Fehler enthalten sind, stellt man bekanntlich auch automatisch die inhaltliche Richtigkeit und die Seriosität in Frage. Es wäre also wirklich super, wenn ihr die Texte überarbeitet und vor allem auch korrigiert, bevor ihr sie hochladet. Eine so hohe Fehlerquote ist generell nicht sonderlich ansprechend, aber gerade bei juristischen Texten umso schlimmer. Bitte bitte kümmert euch darum, denn das ist wirklich schade um die tolle App. 🙏🏼 Liebe Grüße, Lea

Nora Mommsen

Nora Mommsen

7.7.2023, 11:49:58

Hallo Lea_6.9, herzlichen Dank für die ausführliche Rückmeldung. Du hast absolut Recht, dass das nicht so sein sollte. Es beeinträchtigt zum Einen das Lernen und entspricht zum Anderen auch nicht dem Standard, dem wir gerecht werden wollen. Wir überarbeiten zur Zeit unser Reviewverfahren - offensichtlich ist es noch holprig. Ich muss dich daher um etwas Geduld und Nachsicht mit uns bitten, bis wir das Prozedere optimiert haben und die Sachverhalte möglichst fehlerfrei hochgeladen werden. Bis dahin gib uns gerne weiter Hinweise, wenn du wieder konkret etwas entdeckst oder dir andere Kapitel auffallen. Beste Grüße, Nora

CERA

ceratius

14.11.2023, 18:49:12

In diesem Kapitel sind leider wirklich viele viele Fehler, es fehlen Punkte, Kommas, ganze Wörter, teilweise sind Buchstaben doppelt etc. Wäre toll wenn ihr ihr nochmal reinschaut.

CR7

CR7

8.8.2024, 16:34:04

Ich oute mich als Vielmelder von Rechtschreibfehlern und Grammatik 🤭 Das ist mir auch aufgefallen. Auch in anderen Rechtsgebieten. Aber ich merke auch schon eine deutliche Besserung, vor allem bei den neuen Fällen.

Irina95

Irina95

7.1.2024, 23:26:21

Wieso benötige ich hier die „Dassonville“ Formel und demnach eine Maßnahme gleicher Wirkung? Wenn die Ware nicht eingeführt werden darf, weil der Antrag abgelehnt wird, ist das dann nicht schon eine mengenmäßige Einführbeschränkung gem

Art. 34 AEUV

?

Jonah

Jonah

20.2.2024, 09:40:00

Hey Irina, ich erkläre es mir so, dass die Erlaubnis im Fall genannter Spirituosen gleichermaßen für inländische Hersteller gilt und somit eine Maßnahme gleicher Wirkung vorliegt.

Whale

Whale

7.6.2024, 19:00:39

Hey Jonah, aber inwiefern steht das denn einer mengenmäßigen Beschränkung der Einfuhr entgegen, wenn auch der Absatz im Inland beschränkt werden?

L.G

L.Goldstyn

28.8.2024, 19:47:27

Hallo Irina95, eine gute und schwierige Frage! Da mir die Abgrenzung auch schwer fällt, habe ich eben einmal nachgesehen und auf die Schnelle nur eine Fundstelle gefunden, die sich dazu äußert: „Keine mengenmäßige Beschränkung, sondern eine Maßnahme gleicher Wirkung stellt auch ein Einfuhrverbot für Waren dar, das bestimmte

Beschaffenheit

sanforderungen voraussetzt, die auch für inländische Produkte gelten.“ (Streinz/W. Schroeder, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 34 Rn. 33, beck-online) Insoweit liegt @[Jonah](197616) mit seinen Ansatz richtig. Ich finde aber auch, dass das Kriterium, ob die

Beschaffenheit

sanforderungen auch für inländische Produkte gelten, schwer zu erklären/nachzuvollziehen ist. Man könnte davon ausgehen, dass dennoch eine

mengenmäßige Einfuhrbeschränkung

mit Kontingent „Null“ für eben die Produkte besteht, die diese Anforderungen nicht erfüllen, ganz unabhängig davon, ob die Regelung auch für inländische Produkte gilt. Meine Merkhilfe ist, dass eine

mengenmäßige Einfuhrbeschränkung

(= Kontingent) dann besteht, wenn ein Produkt als solches generell nicht (oder nur in bestimmten Mengen) eingeführt werden darf, ohne dass der Hersteller/Importeur dies durch Produktanpassungen verändern kann. Beispiel: Deutschland legt fest, dass jährlich nur 10.000 PKWs, die im Ausland hergestellt wurden, importiert werden dürfen. Derjenige, der den PKW Nr. 10.001 importieren möchte, hat bis Jahresende keinerlei Möglichkeit, dies zu tun. Bei cassis ist es anders: Der Hersteller könnte „einfach“ sein Herstellungsverfahren ändern, sodass die Alkoholkonzentration erhöht wird, und könnte dann unbeschränkt exportieren/importieren. Das ist als grober Merkposten vielleicht hilfreich. In Einzelfällen ist aber auch hier die Abgrenzung sehr schwer.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

13.9.2024, 13:33:14

Hallo @[Irina95](144160), im Grundsatz sieht die Abgrenzung so einfach aus: Geht es um Menge ("nicht mehr als 500 Stück"), Wert ("nicht im Wert von mehr als €1.000.000") oder Zeitraum ("nicht zwischen Mai und Juni"), ist es eine mengenmäßige Beschränkung (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz, Recht der EU, 82. EL, Mai 2024,

Art 34 AEUV

Rn 55). Nun hast Du völlig Recht, dass ein vollständiges Verbot prinzipiell nichts anderes als ein Kontingent von 0 ist, also ebenfalls eine mengenmäßige Beschränkung. Hier wird es aber mit der Abgrenzung schon deutlich schwieriger, erst recht, wenn es auch noch um Kriterien geht, die für inländische Waren gleichermaßen gelten (wie hier der Alkoholgehalt bei Likör). Der Abgrenzungsansatz, wie ihn @[L.Goldstyn](251555) so gut erläutert, scheint mir derjenige, der rechtlich noch am saubersten ist. Im Cassis-de-Dijon-Fall haben wir es eben nicht mit einem pauschalen Verbot zu tun, sondern mit einem zusätzlichen Kriterium, das aufgestellt wird (in diesem Sinne auch Streinz/Schroeder, EUV/AEUV,

Art 34 AEUV

Rn 33). Wird dieses Kriterium erfüllt, ist eine unbegrenzte Einfuhr möglich. Dem Wortlaut des Verbots nach geht es nicht um Menge, Wert oder Zeit, also keine mengenmäßige Beschränkung, sondern Maßnahme gleicher Wirkung. Die spannende Frage ist jetzt, ob man immer noch eine Maßnahme gleicher Wirkung annehmen würde, wenn das Verbot so formuliert wäre: "[Begründung], deswegen wird die erlaubte Einfuhrmenge auf 0 festgesetzt." Das klingt schon wieder deutlich mehr nach mengenmäßiger Beschränkung, was zeigt, wie wenig trennscharf die Unterscheidung leider ist. Der EuGH ist daran auch durchaus mit Schuld. Er hatte sich in der jüngeren Vergangenheit ohnehin fast ausschließlich mit Maßnahmen gleicher Wirkung zu befassen (weil offensichtliche Verstöße gegen

Art 34 AEUV

seltener sind) und hat auf eine saubere Differenzierung zunehmend gerne verzichtet (Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar 4. Aufl 2019,

Art 34 AEUV

Rn 36; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz, Recht der EU, 82. EL, Mai 2024,

Art 34 AEUV

Rn 55). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

PR

PrüfungsProfi

5.11.2024, 09:41:22

Ihr schreibt, dass die cassis-Rechtsprechung sowohl im Rahmen der Beschränkung als auch im Rahmen der Rechtfertigung Bedeutung hat. Für die Rechtfertigung ist mir klar, dass das cassis-Urteil die Grundlage für die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe bildet. Aber was sagt das Urteil zur Beschränkung? Dort wurde ja schon auf die Dassonville-Formel abgestellt, um eine Maßnahme gleicher Wirkung zu bestimmen.


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