Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2016

Diskriminierende Preisgestaltung im kommunalen Schwimmbad

Diskriminierende Preisgestaltung im kommunalen Schwimmbad

22. November 2024

4,6(20.297 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der Fremdenverkehrsverband des Landkreises B betreibt über die eigene B-GmbH ein Schwimmbad. Einwohner von B zahlen günstigere Eintrittspreise als auswärtige Besucher. A ist aus seinem Wohnort im nahen Österreich zum Schwimmen gekommen und muss den höheren Eintrittspreis zahlen.

Diesen Fall lösen 80,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Diskriminierende Preisgestaltung im kommunalen Schwimmbad

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer 2017
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2017
Examenstreffer NRW 2017
Examenstreffer Thüringen 2022
Examenstreffer Hessen 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A kann sich gegenüber der B-GmbH auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) berufen, obwohl er Österreicher ist.

Ja!

Grundrechtsträger sind grundsätzlich alle natürlichen Personen. Jedermann-Grundrechte – wie Art. 3 Abs. 1 GG – berechtigen ohne Einschränkung auch Ausländer. Deutschen-Grundrechte, die ihrem Wortlaut nach ausdrücklich nur deutschen Staatsbürgern zuerkannt werden (z.B. Art. 8 Abs. 1 GG), stehen im Anwendungsbereich des Unionsrechts den Unionsbürgern nach überwiegender Ansicht in gleichem Umfang zu wie Deutschen (Jarass/Pieroth, GG, 14.A. 2016, Art. 19 RdNr. 10, 12). Art. 3 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, auf das auch A als österreichischer Staatsbürger sich berufen kann.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Genügt das Einheimischenprivileg in der Preisgestaltung der B-GmbH den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anknüpfung an Sachgründe, die mit dem Wohnort untrennbar zusammenhängen, ist bei der B-GmbH gerade nicht gegeben. Denn sie – und damit das Schwimmbad – wird von dem Fremdenverkehrsverband des Landkreises B betrieben. Dieser weist seiner Natur nach über die örtliche Gemeinschaft hinaus und ist gerade darauf angelegt, auswärtige Besucher anzuziehen (RdNr. 42 f.). Solche sachverhaltsbezogenen Argumentationen werden von Dir in der Klausur erwartet.

3. Landkreisen und Gemeinden ist es verwehrt, ihre Einwohner bevorzugt zu behandeln.

Nein, das trifft nicht zu!

Das sog. Einheimischenprivileg stellt eine Ungleichbehandlung gegenüber Auswärtigen dar, die nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 GG durch einen legitimierenden Sachgrund zu rechtfertigen ist. Allein die Anknüpfung an den Wohnort genügt dem nicht. BVerfG: Eine Ungleichbehandlung könne aber an Sachgründe anknüpfen, die mit dem Wohnort untrennbar zusammenhängen. Dazu gehören z.B. Versorgung mit wohnortnahen Bildungsangeboten, Verursachung eines höheren Aufwands durch Auswärtige, Konzentration von Haushaltsmitteln auf die Aufgabenerfüllung gegenüber den Gemeindeeinwohnern oder Förderung kultureller und sozialer Belange der örtlichen Gemeinschaft (RdNr. 38 ff.).

4. Verletzt das Einheimischenprivileg in der Preisgestaltung der B-GmbH die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)?

Ja!

Die Dienstleistungsfreiheit schützt Unionsbürger gerade davor, im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr schlechter behandelt zu werden als Einheimische. Denn wenn für Unionsbürger aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ungünstigere Konditionen gelten als bei rein nationalen Sachverhalten, werden sie dadurch von der Ausübung ihrer Dienstleistungsfreiheit abgehalten (RdNr. 48 f.). Für A gilt allein aufgrund der Staatsangehörigkeit ein höherer Eintrittspreis als für Einheimische. Deshalb drohe, dass A von der Ausübung seiner Dienstleistungsfreiheit abgehalten wird. Dass wohnortfremde Deutsche ebenfalls einen höheren Preis zahlen müssen – Inländerdiskriminierung – ist für das Europarecht unerheblich. Das BVerfG attestierte in dieser Entscheidung den Fachgerichten schwere rechtliche Fehler. Ihre Einschätzungen, wonach weder Art. 3 Abs. 1 GG noch die Dienstleistungsfreiheit verletzt seien, seien unter keinem Blickwinkel bzw. keinem erdenklichen Gesichtspunkt nachvollziehbar (RdNr. 24, 44).

5. Kann A sich gegenüber der B-GmbH auf die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) berufen, obwohl weder Dienstleistung noch Dienstleistungserbringer (B-GmbH) die Grenze überschreiten?

Genau, so ist das!

Die unmittelbar anwendbare Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) schützt die grenzüberschreitende Erbringung von Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Geschützt ist die aktive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungserbringer überschreitet die Grenze zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung), die passive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungsempfänger überschreitet die Grenze zum Zweck der Inanspruchnahme der Dienstleistung) und die Korrespondenzdienstleistung (nur die Dienstleistung überschreitet die Grenze) (EuGH, Rs. Luisi und Carbone). Hier überschreitet A als Dienstleistungsempfänger die Grenze zum Zweck der Inanspruchnahme der Dienstleistung (passive Dienstleistungsfreiheit). Der Anwendungsbereich des Art. 56 AEUV ist daher eröffnet. Gründliche europarechtliche Kenntnisse werden in Examensklausuren vorausgesetzt und immer häufiger abgefragt. Schau Dir dazu unseren Europarechts-Kurs an.

6. Die B-GmbH kann A entgegenhalten, dass sie als juristische Person des Privatrechts nicht an die Grundrechte gebunden ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 1 Abs. 3 GG normiert eine umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt. Sie gilt unabhängig von den wahrgenommenen Aufgaben oder Zwecken und unabhängig von der Organisations- oder Handlungsform, die der Staat für seine Aufgabenwahrnehmung wählt. Deshalb sind privatrechtlich organisierte Unternehmen, die – wie hier – vollständig oder überwiegend im Eigentum des Staates stehen, stets grundrechtsverpflichtet. Sie können daher auch keine Grundrechtsträger sein (Konfusionsargument) (RdNr. 25 ff.). Als juristische Person des Privatrechts, die vollständig im Eigentum des Landkreises B – eines Hoheitsträgers – steht, ist die B-GmbH vollumfänglich an die Grundrechte gebunden.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Leon

Leon

30.8.2021, 17:29:01

Examenstreffer Berlin-Brandenburg und NRW jeweils

Apr

il 2017

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.10.2021, 20:13:49

Super, danke Dir!

Hannah B.

Hannah B.

2.3.2022, 16:09:29

Lief im 1. Examen in Thüringen Februar 2022 so ähnlich. :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.3.2022, 00:10:24

Vielen Dank, Hannah :-)

LAW

Lawra§

5.6.2022, 11:35:48

Examenstreffer Hessen 2022

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.6.2022, 12:24:56

Vielen Dank für den Hinweis :-)

JANK

JanK

19.1.2023, 08:06:45

Es war zwar in einem etwas anderen Fall eingekleidet, aber entscheidend war auch die passive

Dienstleistungsfreiheit

in einer von drei Aufgaben im 1.St in BaWü Herbst 2022.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.1.2023, 17:43:27

Hallo JanK, danke für das Feedback. Wir freuen uns immer besonders, wenn unsere Rechtsprechungsinhalte nah an den Klausuren dran sind. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community

Weitere für Dich ausgwählte Fälle

Jurafuchs

IFG–Auskunftsanspruch hinsichtlich eines öffentlichen Unternehmens in Privatrechtsform? – Deutsche Bahn

Die Deutsche Bahn AG, 100%ige Tochter des Bundes, hat Schwierigkeiten mit Zugverspätungen und Investitionsrückstau. Fraktion F des Deutschen Bundestages verlangt von der Bundesregierung Informationen zu ihren Gesprächen mit der Bahn. Die Regierung beantwortet die Fragen nicht.

Fall lesen

Jurafuchs Illustration zum Fraport-Urteil (BVerfG, 22.02.2011): Ein Demonstrant erhält Hausverbot von der Fraport-AG, die zu 70% im Eigentum der öffentlichen Hand liegt.

Fraport-Urteil (BVerfG, 22.02.2011): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

In dieser Entscheidung begründet das BVerfG die unmittelbare Grundrechtsbindung von juristischen Personen des Privatrechts, die zu mehr als 50 % vom Staat beherrscht werden. Kernaussage: „Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen in Privatrechtsform unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung.“

Fall lesen

Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen